RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – EPILOG

Raphael Vogt schließt mit dem Epilog die Veröffentlichung von „Die Tiefe des Beckens – Fragmente einer Novelle“ ab. Der Autor freut sich weiterhin über Ihre Gedanken und Anregungen zum zehnteiligen Text: Raphael Vogt

Epilog

Ich habe mir einen Boxsack gekauft. Er ist beigefarben, etwa einen Meter groß, hat einen Durchmesser von 30 Zentimetern und hängt an einem Balken im Stadel.

Am ersten Abend nach dem Kauf der neuen Errungenschaft habe ich gleich einmal den Schichtleiter vermöbelt. Nun ja, vielmehr wollte ich das tun. Ich habe den Boxsack verfehlt und daraufhin tat es mir fast leid, es überhaupt versucht zu haben. Ich haue nicht gerne auf Menschen ein. Auch nicht virtuell. Mir tut schon der Boxsack leid, … wenn ich ihn treffe. Nach jedem Training – wobei ich nun nicht so übertreiben möchte und mir der Begriff Training für eine meist lediglich nur vier bis fünf Minuten andauernde Einheit als nahezu peinlich erscheint – streichle ich deshalb zum Abschluss stets meinen Boxsack.

Eigentlich mag ich den Schichtleiter schon. Er erinnert mich an meinen eigenen Vater, was mich jedoch angesichts der Tatsache, dass sich bisher keiner – mein leiblicher Erzeuger eingeschlossen – jemals bedeutsam um diese Rolle bemüht hat, auch nicht sonderlich verwundert.

Ja, ich mag den Schichtleiter und das Land seiner ausschweifenden Erzählungen, all seine kuriosen Geschichten sowie seine holzige Art. Auch wenn er sich nicht anständig benehmen kann, so weiß ich jedenfalls, dass ich ihn dahingehend sogar ein wenig beneide, nämlich in dem was er ist oder wenn auch nur, so dennoch unmissverständlich vorgibt, zu sein: Ein Kerl von einem Mann!

„Wir bekommen nun auch so ein Kamera-Überwachungssystem von dem ich dir vor noch gar nicht allzu langer Zeit erzählt habe.“

„Tatsächlich? Na ja, wenn es hilft. An die Überwachung, allerorts, sind wir ja schon gewöhnt,“ erwiderte Theo.

„Das stimmt. Mein Schichtleiter meinte kürzlich, dass übrigens sämtliche Stasileute nahtlos im BND untergekommen seien. Wenn er auch viel erzählt, den lieben langen Tag, da kennt er sich wohl aus.“

„So gesehen wundert mich nichts mehr … in diesem Staat.“

„In diesem Staat? Linkes wie rechtes Gedankengut wird den Leuten weltweit, in Watte verpackt, fein demokratisch serviert. Schau dir nur einmal an, was Putin so getrieben hat! Bush und Rumsfeld haben sämtliche Hitlerbücher gelesen. Da wundert mich auch nichts mehr!“

„Bush? Wer hat ihm vorgelesen?“

Stromausfall.

Ich suche die Streichhölzer. Seit ich das Rauchen aufgegeben habe, ist es mir auch nie mehr gelungen, irgendwo im Haus ein Feuerzeug zu sehen. Sie scheinen allesamt auf nahezu mysteriöse Weise, in Solidarität mit den letzten Zigaretten, verschwunden zu sein.

Verschwunden ist ebenfalls meine Unruhe im Kopf, wenn auch erst seit wenigen Minuten. Ich denke, der orkanartige Wind hat irgendwo eine Stromleitung ausgehebelt oder gar einen ganzen Masten umgeschmissen. Wundern würde mich das nicht. Drei Fenster sind nämlich gleichzeitig zugefallen und zwar in einer Lautstärke, dass es mich schon fast etwas überrascht, dass sie dabei nicht zerbrochen sind. Das Haus ist ein bäuerlicher Altbau, der schätzungsweise an die 120, wenn nicht auch schon 150 Lebensjahre zählt und dessen Fenster nach wie vor aus jeweils zwei dünnen, in bereits erheblich verloderten Holzrahmen angebrachten, Einzelglasscheiben bestehen.

Der Sturm lässt nach, es hat zu regnen begonnen. Die Streichhölzer liegen direkt neben der dicken Kerze auf dem Küchentisch. Mit dem Strom ist meine Unruhe verschwunden. In mir … wie vermutlich auch in den Teichen, Seen und Außenbecken, … hat sich der Schlamm gesetzt.

Ich wollte gerade eben den Computer anschalten und vermutlich noch einiges mehr – aus dem mittlerweile erheblich angewachsenen Repertoire Strom fressender Wohlstandsutensilien … und nun gibt es nicht einmal mehr heißen Kaffee!

Die Kerze flackert lieblich, während es zu nun einsetzendem Donner und Geblitze riesige Tropfen an die Scheiben schleudert.

Ich gehe in die dunkelste Ecke der Wohnung und krame nach vorsichtigem Herantasten mein grünes Notizbuch aus dem Regal.

Nichts geht mehr.

Dass ich mich jemals so frei gefühlt haben könnte, denke ich mir, muss – wenn überhaupt – dann schon sehr lange her sein …

Und ich warte, warte weiterhin, auf irgendetwas, wie schon einmal erwähnt. Ich bin unterwegs und wohin ich will weiß ich immer noch nicht. Alles was ich weiß ist, dass ich dabei bin, mein kleines grünes Notizbuch zu öffnen, um mich weiterhin ausgiebig meinen Illusionen zu widmen. Jeder macht sich ja seine ganz individuellen Illusionen. Ich für meinen Teil ziehe es dabei vor, ein Schriftsteller, Musiker, Regisseur und Künstler zu sein; vielleicht auch nur, um vor mir selbst den Anschein zu wahren, mir all meiner Illusionen bewusst und deren eigener Konstrukteur zu sein.

Joe

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
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