Raphael Vogt – Die Tiefe des Beckens – Teil 7

Von Schwarzen Löchern und Maschinen

Apropos Strömungskanäle und Kreisläufe. In Cern ist es bislang dann doch bei den – bereits von den Wissenschaftlern prognostizierten – kleinen Löchern geblieben. Der Weltuntergang lässt zum Glück auf sich warten. Oder auch – Gott sei Dank? Ganz nebenbei: Was bringt uns eigentlich ein Teilchenbeschleuniger? Ich wäre vielmehr für eine Entschleunigung der Zeit. Kommt, lasst uns den Zeitstrudel abstellen und einen Zeitentschleuniger bauen! Ich denke mal, der benötigt auch nicht Milliarden von Kabeln, aber ich denke auch, die Entschleunigung der Zeit wäre dennoch ein schwieriges Vorhaben. Womöglich würden wir mit der Entschleunigung der Zeit (wieder) eher finden, wonach wir doch eigentlich suchen. Dem Einzigen, dem Urgrund. Und das ist nun einmal nicht ganz im Sinne des Kapitalismus, der sich an der kultivierten Unzufriedenheit seiner Mitglieder nährt.

Also bevor der Geist der Zivilisation unserer Städte die ganze Welt vereinnahmt – bis die letzten Coca-Cola-Fahnen auf mongolischen Nomadenzelten wehen – habe ich mir meinerseits vorgenommen, die Stadt zu verlassen, um mich der Ursprünglichkeit hinzugeben. Na ja, was auch immer das ist und wie auch immer das geht. Aber ich will und werde das tun. Schon allein dieser Vorsatz erscheint mir wie ein Frühjahrsputz in meinem Gewissen. Ich bleibe dann physisch zwar Teil der Stadt und Teil des Getriebes, doch innerlich klinke ich mich aus. Ich folge fortan nicht mehr der großen Maschine und lasse mich nicht führen von ihr. Ich will bald aufgehört haben, mich vom Konsum und indoktrinierten Sehnsüchten diktieren zu lassen, ich steige aus dem Sumpf der schwarzen Löcher hinauf zu den Türmen. Wie das geht? Nun – wie auch immer. Wie auch immer! Ich werde dann eben der Feind sein und der Fernseher wird mich hassen. Und der Staat wird mich hassen. Und der Unternehmer sowieso. Der Fernseher, der aus dem Kreis der Familie ja bekanntlich einen Halbkreis macht und längst auch in den schönen runden, zirkuszeltähnlichen Jurten der Mongolen Einzug hält, wird er also womöglich nicht bald auch noch Halbkreiszelte für die Nomaden fordern?

Ich denke, die Maschine der wir dienen ist ein dickgefressenes, träges Tier mit fletschenden Zähnen. Es wird ein Loch geben, das uns alle verschlingt, wenn die Ablenkung ihren Höhepunkt erreicht. Diese Maschine ernährt sich von (unserer) Zeit, ist ein riesengroßes Etwas ohne Kopf und wir haben ihr alle zu viel Macht gegeben.

Zurück zum schwarzen Loch. Schwarze Löcher haben die Eigenschaft, alles aufzusaugen. Zuweilen auch unsere Aufmerksamkeit. Kaum etwas scheint uns aber mehr in den Bann zu ziehen als der Beckenraum. Dass das auch gut so sei und schließlich die Aufgabe eines Bademeisters werden Sie nun vermutlich sagen und ich möchte Ihnen da – in gewisser Hinsicht zumindest – nicht widersprechen.

Spätschicht.

„Dort hinten trainiert der Schwimmverein. Schau mal wie der Trainer seine Zöglinge hetzt.“

Schichtleiter: „Und …? Schon recht so!“

Ich nickte.

Dieser Ehrgeiz kotzt mich an!

Andererseits denke ich mir, hat er vielleicht auch recht. Auf jeden Fall gibt es nichts beunruhigenderes wie eine Horde Kinder die nie richtig Schwimmen gelernt hat. Das ist unter anderem eine nicht unbedeutende Konsequenz sogenannter Spaßbäder, in der gerade Kinder vom Angebot an Wasserspielen und Rutschen, bis hin zu Wasserkino und Internet überwältigt sind und letztlich das Schwimmen selbst jegliche Attraktivität verliert. Auch bei uns wird auf den Faktor Spaß gesetzt, denn nur der garantiert bei den hohen Betriebs- und Instandhaltungskosten des Bades den bitter notwendigen Zulauf und hält somit – neben den Erträgen aus Wellness- und Saunabereich – den Betrieb über Wasser.

Was da nun wiederum an Energie verschwendet werden muss, um das ganze Treiben am Laufen zu halten steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt. Ich möchte nicht wissen wie viele Menschen in Afrika nur durch die Menge an Wasser überleben könnten, welche allein im Freibadebereich pro Badetag verdunstet, von der nötigen Frischwasserzufuhr von mindestens 30 Liter pro Besuch und Badegast und des vergossenen Wassers – zudem oft ohne jeweilige Benutzung – der laufenden Duschen ganz abgesehen.

Aber da ich nicht Gefahr laufen möchte, meinen Vorgesetzten mit solchen Fragen in seiner Position als wirtschaftlich denkendem Mitglied der Betriebsleitung in Frage zu stellen, halte ich mich ihm gegenüber mit der Äußerung meiner Gedanken zurück. Abgesehen davon komme ich ja hiermit nicht herum, auch meinen eigenen Job in Frage zu stellen.

Glauben kann ich dem Schichtleiter übrigens nahezu gar nichts. Außer, dass er damals als, wie er mir erzählte – von mir aus auch gezwungenermaßen – parteitreuer Mitarbeiter des Grenztrupps auf Flüchtlinge geschossen hat. Das ist nämlich etwas, das er nicht gesagt hat. Das macht ihn – im Kontext seines Charakters – grundsätzlich verdächtig. Auf die Frage hin, ob er es denn einmal selbst getan, ob er eigenhändig geschossen hätte, schweigt er sich aus. Und dieses Schweigen nehme ich ihm ab. Es wirkt auf mich im Gegensatz zu seinen Geschichten, welche allesamt im Kern den Zweck beinhalten, sich damit selbst auf eine heldenhafte Art hervorzuheben nur allzu authentisch. Es dürfte ein qualvolles Schweigen sein. Es ist mir Antwort genug und nicht selten spüre ich einen qualvollen Drang seinerseits, mehr zu erzählen, etwas auf ewig geheim Geschworenes preiszugeben und das Bedürfnis meinerseits, diesen verhärteten, innerlich todtraurigen Mann kameradschaftlich, ja wenn nicht gar, nahezu freundschaftlich, in den Arm zu nehmen, damit er sich womöglich endlich einmal zugesteht wie ein kleiner Junge heulen zu dürfen. Natürlich mache ich das nicht. Doch ich wünsche es ihm. Ich mag diesen unbehauenen Kotzbrocken!
Überwiegend scheint er sich aber gar unbändig nach seiner Vergangenheit im Osten zu sehnen, da er diese immer wieder in lang ausgedehnten Monologen aufs Höchste verklärt.

Jeder hat wohl etwas vor sich selbst zu verbergen, denke ich mir und ich nehme mich da nicht aus.

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 4
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 5
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 6

2 Gedanken zu „Raphael Vogt – Die Tiefe des Beckens – Teil 7“

  1. Erst einmal vielen Dank für das vorangehende ausführliche Feedback „Die Tiefe des Beckens“ betreffend! Zur Kritik an dem durch den Text womöglich etwas unglücklich gezeichneten DDR-Bild: Es war nicht meine Absicht, die Person des Schichtleiters im Kontext der ehemaligen DDR zu stigmatisieren! Dieser offenbar etwas unbekömmlich erscheinende Zusammenhang hat sich eher zufällig aus der Intention heraus ergeben, einen gewissen – durchaus in andere Hintergründe übertragbaren – Persönlichkeitstyp zu beschreiben. Vielleicht eröffnet sich durch die noch folgenden Episoden jedoch die Möglichkeit, dass dieser Beigeschmack ein wenig neutralisiert werden möge!

  2. Ich bin jetzt das erste Mal auf die Texte von Raphael Vogt gestoßen. Ich habe mich in dem Text wohl aufgehoben gefühlt. Mich nervt auch immer wieder die Verschwendung von Energie, hier am Wasser vorgeführt, im Winter mit künstlichem Schnee oder Eis in den Rodelrinnen. Eine Gesellschaft ist eine traurige Gesellschaft, wenn sie nur über einen Geldwert und Konsum funktioniert. Sie wird daran kaputt gehen. Was mir ein bisschen negativ aufgestoßen ist, ist der Unterton, mit dem der Schichtleiter gezeichnet wird. Es muss 20 Jahre nach dem Fall der DDR auch mal erlaubt sein, ohne das jemand die Nase rümpft, der meist nicht dabei war, über die positiven Seiten der DDR zu sprechen, die es mehr als genug gab, wenn man nicht nur alles am Konsum und Kreuzchenmachen aufhängt.

Schreibe einen Kommentar