Raphael Vogt – Die Tiefe des Beckens – Teil 6

IV Der Wassermann

„Wenn das Wasser still ist, hat man die Klarheit und der Bademeister sieht bis auf den Grund. Die Leute dürfen sich im Wasser nicht bewegen. Es dient doch nur der Sicherheit! Siehst du den paradoxen Zusammenhang? Wer sich nicht bewegt, lebt nicht und Stillstand ist der Tod bekommt da eine ganz neue, wörtliche Bedeutung. Das eine existiert bekanntlich nicht ohne das andere.“

Theo schaut mich erwartungsvoll an, ich fahre fort:

„Es gibt jetzt auch Überwachungsanlagen für Schwimmbecken. Es handelt sich dabei um ein Sicherheitsnetz aus einem intelligent agierendem Kamerasystem, welches angeblich automatisch Ertrinkende erkennt.“ Hatte ich in einer Fachzeitschrift gelesen.

„Wie das?“ (fragte Theo)

„Die Kameras sind am oder in der Nähe des Beckenbodens installiert und reagieren ab einem gewissen Zeitfenster auf regungslose Körper.“

„Erstaunlich! So ein System tut Not in unserem Staat!“

„Wie meinst du das?“

„Wie ich es gesagt habe. Wer bremst eigentlich die Börsianer, die Globalisierung, den Kapitalismus? Und wer fängt all die auf, die dabei durchfallen, wenn selbst das Bankennetz lebensgefährlich grobmaschig geworden ist. Unser letztes Sicherheitsnetz heißt Hartz 4.“

„Ich halte es da mit der Kundenbetreuerin von e-on, die sich neulich am Telefon meine unerklärbar hohe Telefonrechnung damit erklärte, dass sich wohl, wortwörtlich – das System geirrt habe.“

„Sagst du das auch zu den Ertrinkenden, falls die Kamera versagt?“

„Erstens: Wir haben noch keine automatische Überwachung in unseren Schwimmbecken. Zweitens: Es gibt da einen filigranen Unterschied zwischen Überwachung u. Sicherheit. Wir stehen für letzteres.“

Ich fuhr fort „Denn es ist ja nicht jeder ein Fischmann. Neulich habe ich den ganzen Tag einen Schwimmer beobachtet. Ich nenne ihn mal Fisch, denn er schmiegte sich in die selbsterzeugte Welle und unterbot dabei stets die Wasserluftkante. Ich fragte mich die ganze Zeit: Mein Gott, muss er nicht atmen?“

Vielleicht atmete er Wasser? Vielleicht reichten ihm die feinen Luftbläschen, vielleicht hatte er unsichtbare Kiemen? Ich traute meinen Augen nicht. Diese Lücke zwischen Staunen und Zweifeln war für einen Augenblick von etwas Zeitlosem erfüllt, das sich in diesem kurzen Augenblick schier unendlich auszudehnen schien.

„Der Gong mit anschließender Ankündigung vom Strömungskanal holte mich wieder zurück.“

Ich steckte den Schlüssel in die Säule, das orange Betriebslicht blinkte auf. Etwa 30 Sekunden später schoss das Wasser aus den Düsen. Für die nächsten 10 Minuten hatte ich diesen fröhlichen Kreislauf der Sicherheit wegen zu beobachten und anschließend wieder durch ein Entfernen des Schlüssels aus der Säule abzustellen.

Der Zeitstrudel dagegen ist kaum abzustellen. Alles dreht sich immer wilder und schneller. Werte, Regeln und Normen, all das lang gehasste aber doch im Innersten Halt gebende schwindet unaufhörlich mit der Fliehkraft der unkontrolliert rotierenden Zentrifuge, in der sich unsere Gehirne im Zeitraffer – nahezu bereits schon organisch miteinander vernetzt – unentwegt im Kreis drehen. Manchmal möchte ich einfach abtauchen, untertauchen, wie der Fischmann sein. Ich komme da nicht mehr mit.

Ich möchte manchmal einfach nur innehalten, den Schlüssel ziehen und den Zeitkanal abstellen und schreien: Hey Leute, merkt ihr denn nicht, dass ihr Euch im Kreis dreht. Alle sind geschäftig, bewegen sich und strampeln sich ab – ohne Rücksicht auf Verluste – aber keiner kommt voran. Leute, ihr werdet doch gedreht und habt aber den Eindruck, euren eigenen Kurs zu fahren.

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 4
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 5

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