Weitere Beiträge von TeilnehmerInnen der 1. Wettbewerbsstufe
26 AutorInnen die nicht zu den PreisträgerInnen zählen, haben auf Ersuchen der Jury ihren Beitrag zur Verfügung gestellt. Dank der Unterstützung zahlreicher Verlage, Buchhandlungen und literarischer Institutionen konnte wir auch ihnen jeweils eine kleine literarische Aufmerksamkeit zukommen lassen.
Sämtliche Rechte am Werk verbleiben beim Autor, bei der Autorin. Die LiteratInnen haben der Veröffentlichung der nachfolgenden Texte im Literaturblog „Duftender Doppelpunkt“ und in der virtuellen Wohnung von Petra Öllinger zugestimmt. Diese kann jederzeit vom Autor / von der Autorin widerrufen werden.
Der Verlauf des Wettbewerbs
Entscheidung der Jury
Die Biographien aller AkteurInnen
Die 10 PreisträgerInnen der ersten Wettbewerbsstufe
Die 5 WürdigungspreisträgerInnen der ersten Wettbewerbsstufe
SponsorInnen und UnterstützerInnen
Boeffel Christoph – Biographie
Boeffel Christoph – Die Arbeit fäng am Morgen an
Mario A. Brakenwagen – Biografie
Mario A. Brakenwagen – Hilf mir
Thom Delißen – Biographie
Thom Delißen – Gedanken über Reinkanation. Der Chefsessel
Olga Derewjanko – Biografie
Olga Derewjankol – 5 Tage eines Studentenlebens (Auszüge aus einem Tagebuch)
Sven-André Dreyer – Biographie
Sven-André Dreyer – Seitdem (Lyrik)
Jürgen Flenker – Biographie
Jürgen Flenker – Strukturwandel / aktenkundig (Lyrik)
Susanne Fletemeyer – Biographie
Susanne Fletemeyer – Massenträgheit
Hannelore Greinecker-Morocutti – Biographie
Hannelore Greinecker-Morocutti – an hr.b / 30 jahre von fr.g / 54 jahre (Lyrik)
Angelika Grigat – Biographie
Angelika Grigat – Kümmeltage
Holger Hartenstein – Biographie
Holger Hartenstein – Aus dem Tagebuch meiner Enkeltochter Sina
Silvia Hlavin – Biographie
Silvia Hlavin – Das Drachenfest
Thomas Knackstedt – Biographie
Thomas Knackstedt – Tagtäglich
Rita König – Biografie
Rita König – Die kleine Ameise
Olivér Meiser – Biografie
Olivér Meiser – Blumen aus Holland (Lyrik)
Peter Metz – Biografie
Peter Metz – Horsts Nacht
Elke Nachtigall – Biografie
Elke Nachtigall – Handzeichen (Lyrik)
Sabine Raml – Biografie
Sabine Raml – Mein Stück vom Himmel
Armin Reinke – Biographie
Armin Reinke – Der alte Schäfer
Anita Reiter – Biographie
Anita Reiter – Bis dass der Tod uns scheidet
Klaus Schmeing – Biographie
Klaus Schmeing – Dienstgespräch im Hühnerstall
Stephan W. Schmidt-Marx – Biografie
Stephan W. Schmidt-Marx – Taktik
Helmut Seilmaier – Biografie
Helmut Seilmaier – Ich hör sie reden
Brigitte Steinbauer – Biografie
Brigitte Steinbauer – Ein Putzfrauendasein
Susanne Steinle – Biografie
Susanne Steinle – Freundschaftsdienst
s.u.bart – Biografie
s.u.bart – Ende
Raphael Vogt – Biografie
Raphael Vogt – Hearts Fear
Mary West – Biografie
Mary West – Zerrissen
Geburtsdatum: 26.01.1988
Beruf: Schüler
Nationalität: deutsch
Boeffel Christoph – Die Arbeit fängt am Morgen an
Ist es nicht schön? Endlich ein gestresster Arbeitstag zu Ende, die Heimfahrt mutiert zu einem hupenden, stinkenden Autostau und der Haustürschlüssel zerstört den teuren Nadelstreifenblazer, als er sich genau in der Naht der Blazertasche verfängt, in der er die letzten Meter bis zur Wohnung verbringen durfte. Jetzt noch ein schönes Mikrowellen-Fertiggericht, eine Flasche billigen Fusel aus dem Großstadtkaufhaus, den ich mir bei einem schönen schwarz-weiß Film über das Ideal des Lebens einschütten werde. Ein schöner Tag neigt sich dem Ende. Er begann um halb sechs in der Früh, als mein Wecker mir die schönen Seiten des Lebens stahl. Ich stand auf, ging ins Bad und drehte das Wasser der Dusche an, um es warmlaufen zu lassen, bevor ich meinen perfekten Körper darunter stellte, um den Schmutz der Nacht abbrausen zu lassen. Danach stieg ich in ein extragroßes Frottehandtuch gewickelt aus der Dusche und trocknete mich langsam ab, bevor ich mich zum Spiegel wandte und mein perfektes Haar zu bürsten begann. Als meine Haarpflege beendet war – es war jetzt trocken geföhnt, mit einer Schaumkur extra für trockenes Haar verwöhnt und wieder gebürstet worden – sah ich auf die Uhr, die mich erschreckt feststellen ließ, dass es schon halb sieben war und ich nur noch eineinhalb Stunden Zeit hatte um es ins Büro zu schaffen.
Mit nacktem Körper, perfekt frisiertem Haar und voller Zeitdruck nahm ich mich nun meiner Gesichtspflege an, die ich mit einer sanften Creme für glückliche Haut begann. In der Zeit, in der die Creme einzog, bemerkte ich an meinen eigentlich perfekten Fingernägeln schon langsam erste Zeichen von verblasster Farbe. Ich öffnete die verspiegelte Schranktür um mir eine kleine Flasche extra schnell trocknenden Nagellack zu nehmen, stieß dabei eine extragroße Parfumflasche meines Lieblingsparfums um, die scheppernd zu Boden fiel und in tausend kleine Einzelteile zersprang, die lustig auf dem Boden hüpften, bis sie völlig zum Stillstand kamen. „Scheiße!“ entfuhr es mir aus meinem perfektem Mund mit meinen perfekten Lippen und in meinen perfekten Augen zeigte sich das erste glitzern von Verzweiflungstränen.
Ich ging zum Eckschrank, der in der Ecke des Badezimmers stand, um den Besen und den Handfeger, die farblich perfekt harmonierten, herauszunehmen und kehrte die durchsichtigen Scherben auf, die nur durch kleine glitzernden Punkte die das Licht reflektierten, auf den perfekten weißen Fliesen zu sehen waren. Schnell stellte ich den Besen wieder an seinen Platz – in den Eckschrank – um mich wieder meiner Nagelpflege zu widmen. Dabei fiel mein Blick wieder auf die Uhr, die anzeigte, dass schon ganze zehn Minuten vergangen waren.
Voll Panik ließ ich meine Fingernägel, Fingernägel sein und befand, dass mein perfektes Gesicht mehr Beachtung nötig hatte, als meine halbperfekten Fingernägel. Ich nahm den buschigen Pinsel und rieb langsam und Kreisförmig im Puder herum, bis ich es auf mein perfektes Gesicht, Hals und Dekoltee auftrug. Als dieses Werk vollbracht war, richtete ich mein Augenmerk auf meine perfekten Wimpern, die ich mit doppelseitigem Mascara bearbeitete; die eine Seite, um meine Wimpern einem panoramaartigen Sichtfeld gleich werden zu lassen, die Andere, damit die feinen gliedrigen Härchen meiner Augen einem dichten und tiefen, perfekten, schwarzen, geschwungenen Wimpernfeld weichen konnten. Um das Werk meiner perfekten Augen zu vollenden, tauchte ich mit meinem perfekten Zeigefinger in das dunkle Grau der Lidschattendose und verrieb es auf meinem Augenlied, sodass es ein wenig verrucht, jedoch nicht aufdringlich erotisch schien. Es war perfekt.
Nach 20 Minuten besessener Perfektion war ich fertig – fast. Es war sieben Uhr und Zeit mein perfektes Bürooutfit aus meinem perfekten begehbaren Kleiderschrank herauszusuchen, der einiges an Kostümen, Abend- und Cocktailkleidern, sowie über hundert paar Schuhe beherbergte. 30 Minuten später entschied ich mich für einen perfekten String mit Leopardenmuster, dazu einen perfekten, passenden BH, eine perfekte braune Leinenhose mit einem perfekten cremefarbenen Top und eine perfekte passende Weste. Es war das perfekte Outfit.
Ich verließ mein Paradies und ging in meine perfekte Küche, um dort auf das tickende etwas an der Wand aufmerksam gemacht zu werden, das mir verriet, dass es schon halb 8 war.
Ich nahm also meine perfekte Aktentasche, stolperte mit meinen perfekten schwarzen Pumps aus der Wohnungstür und rannte die Treppe herunter, wo mir ein alter Hausmeister mit seinem Blaumann die Tür aufhielt, der mich mit funkelnden Augen ansah – ich würdigte ihn keines Blickes. Draußen setzte ich mich mit meinem perfekten Hintern auf den perfekten Sitz meines perfekten rot glänzenden kleinen Mittelklasseautos, fummelte mit meinem perfekten Schlüssel an dem perfekten Zündschloss herum, um den Motor des Wagens zu starten, der das Angebot nur zögernd entgegennahm. Als ich dann um fünf vor acht vor dem Büro parkte, bemerkte ich, dass ich kein Lipgloss aufgetragen hatte, das sich jedoch durch einen Griff in meine perfekte Tasche wieder beheben ließ. Im Büro herrschte Stille, als ich mich auf meinen perfekten Platz setzte und die üblichen Arbeiten verrichtete. Das blinkende, rote Leuchten auf der Anzeige des Telefons zeigte mir an, dass ich erwartet wurde. Ich nahm den Hörer ab, legte die Muschel an mein perfektes Ohr und…. „Ach Katarzyna, sind sie auch schon da? Machen sie mir bitte eine Tasse Kaffe. Zwei Stück Zucker. Verstanden? OK.“
Der Autor ist Jahrgang 1973, Vater von zwei Töchtern und seit 2006 freiberuflich als Mentaltrainer und Coach tätig. Als gebürtiger Ulmer hat es ihn der Liebe wegen ins Allgäu verschlagen. Seine freie Zeit verbringt er mit seinen Kindern, dem Lesen und neuerdings dem Schreiben. Die Leidenschaft für das Schreiben hat er durch einen Onlinekurs im Oktober 2006 für kreatives Schreiben entdeckt. Näheres zum Mentaltrainer Brakenwagen unter ebik.de.
Mario A. Brakenwagen – Hilf mir
10:00 Uhr
Der stechende Schmerz in meiner Hüfte drängt mich, meine Augen zu öffnen. Ich … ich kann nicht … mir fehlt die Kraft … ich will nicht … ich weiß nicht … dann trifft es mich mit der Wucht einer eisernen Abrisskugel – ich hatte einen Autounfall.
Ich öffne meine Augen und da ist er wieder, der Schmerz. Meine Hüfte fühlt sich an wie von tausend Nägeln durchtrieben. Meine Beine … ich spüre meine Beine nicht. Sie sind in einem Schraubstock aus Metall und Kunststoff eingequetscht. Ich versuche mich zu drehen … dabei schreit meine Hüfte und warnt mich davor, weitere Versuche zu starten. Sie würde dabei zerbrechen.
In meinem Kopf hämmert und pocht es … mir läuft etwas die Stirn herunter – Blut. Ich blute! Es fließt mir ins Auge und rote Schlieren benebeln meine Sicht.
Sehen, ich kann noch sehen. Aber was sehe ich? Ich sehe das Lenkrad auf meinem Brustkorb, der unnatürlich eingedrückt wirkt, fast schon wie eine Obstschale. Jetzt spüre ich auch das Stechen in der Brust – bei jedem Atemzug. Meine Lungenflügel können sich nicht frei entfalten. Ein Anflug von Hunger auf Zwetschgenkuchen überfällt mich … die Erinnerung an die vergangene Mahlzeit. Ich habe Kuchen gegessen. Ja, mit viel Schlagsahne und … wer bin ich? Mein Name ist … ist… ich heiße Marie Rotäcker – genau! Gott sei Dank funktioniert mein Gedächtnis noch.
Jetzt ganz ruhig bleiben. Kann ich meine Arme noch … nein. Eine metallene Zwangsjacke hält sie in Zaum, doch sie schmerzen nicht.
Ich rieche etwas … Benzin!? BENZIN! Aus dieser verdammten Karre läuft Benzin aus. Ich muss hier raus … schnell … ICH – MUSS – HIER – RAUS!
Das Benzin entzündet sich mit einem Fauchen.
Ich kann sie spüren, die Hitze, sie streckt ihre Feuerzungen nach mir. Nein, nein … ich muss hier raus. Mein Blut kocht, meine Haut platzt auf … Schmerzen.
Menschen, da stehen Menschen. Nein, nicht zurückgehen! Kommen Sie her, bitte. Helfen Sie mir, bitte. Ich will nicht sterben. HELFT MIR!
15:00 Uhr
Das ist nicht recht. Ich bekomme bestimmt Ärger Zuhause. Mama hat gesagt, dass ich pünktlich Nachhause kommen soll. Ich will das hier nicht. Es tut weh.
Mama hat gesagt, dass ich direkt Heim kommen soll, keine Umwege. Und ich hab‘ nicht gehört. Ich bin kein braves Mädchen. Mama wird bestimmt sehr böse sein und mich bestrafen. Ich dummes, kleines Ding. Wieso konnte ich nicht auf sie hören? Es tut so weh.
Wenn Papa das erfährt. Mama wird es ihm bestimmt erzählen. Dabei kann ich doch nichts dafür. Ich wollte gar nicht mit. Mama und Papa haben mir gesagt, dass ich mit fremden Menschen nicht mitgehen darf, weil mir sonst was Schlimmes passieren könnte. Aber er ist doch gar nicht fremd. Ich bin selber schuld. Es tut so weh und er ist so schwer.
Mein Kleid und meine Strumpfhose werden ganz dreckig. Mama wird schimpfen. Ich mache ihr Arbeit. Onkel Georg, du tust mir weh. MAMA, HILF MIR!
18:00 Uhr
„Hallo Schatz. Bist heute aber spät dran.“ Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Es duftet nach italienischem Schmorbraten, Kräutern und ihrem Parfüm. Sie liebt die mediterrane Küche.
„Ja. Ging heute etwas länger als geplant.“, antwortet van Heuren.
„Und, wie war es heute? Wie vielen Verrückten hast du heute das Oberstübchen gereinigt? Warst du auch so fleißig am Putzen wie ich?“ Für sie ist Ordnung und Sauberkeit das halbe Leben. In ihren Augen ist es keine Arbeit, verwirrte Menschen durch eine Rückführungstherapie in einen noch verwirrteren Zustand zurück zu schicken, um das Leben in der Gegenwart zu klären. Sie versteht es nicht, aber das Geld passt.
Van Heuren streift den Mantel von seinem Körper, hängt ihn an die Garderobe und beobachtet die leere Hülle, die ihm eben noch Schutz gegen die Kälte gab. Der Mantel hängt leblos am Haken, rührt sich nicht und hat sich aufgegeben – erhängt.
„Nein, nichts Besonderes.“
Außer einer 25jährigen, die bei einem Autounfall vor drei Jahren ihre Beine verlor, Höllenqualen im Feuer erlitt und dabei von Gaffern mit der Videokamera in ihrem Leid und ihrer Panik gefangen wurde und eine 38jährige, die als Kind im Alter von sechs Jahren auf dem Nachhauseweg von ihrem Onkel vergewaltigt wurde und heute ihr Schweigen brach, weil der Drecksack ihre Tochter vor zwei Wochen vergewaltigt hatte – ansonsten war heute nichts. Einfach nur der ganz normale Wahnsinn. BITTE, HILF MIR!, denkt er.
Jahrgang 63, geboren in Münster, aufgewachsen in Oberbayern.
Mit 16 Jahren unternahm er erste Fluchtversuche nach Frankreich, dann verbrachte er eine ganze Zeit in Indien. Etliche Monate unterwegs in Brasilien. Jetzt übt er mit seiner Lebensgefährtin in Erding das angepasste Leben.
Sein drittes Romanmanuskript ist in Arbeit.
Verleger und Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Schrieb“.
Veröffentlichungen in Tageszeitungen, Literaturzeitschriften (Wienzeile, Maskenball, Bohnenstange u.v.m.) Krimi-Magazinen, Anthologien. Mitautor Chronik Erding, Ex- Chefredakteur der regionalen Literaturzeitschrift „GedankenSprung“.
Organisator der Initiative „Worte und Taten“.
Mitglied der internationalen Autorengruppe „ProLyKu“.
Anthologien:
„Plattform Carpe Diem“ (Burger)
„Spurenwelt“ (Web-site Verlag)
„100 % Worte für Brot“ (fv-Verlag)
CD „Gedankengischt“ (TD Textdesign)
Textsammlung „Fetzen“ (TD Textdesign)
Zahlreiche Veröffentlichungen im Internet.
„Das oberste Ziel eines jeden Freiheits- und Verantwortungsbewussten Menschen kann immer nur sein, Manipulation zu unterlaufen, Informationen zu beschaffen und zu veröffentlichen …“
Streitschriften, Kurzgeschichten, Lyrik.
Thom Delißen – Gedanken über die Reinkarnation. Der Chefsessel
Herr Guthold Schmidmann klopfte energischer an der Tür zum Vorzimmer.
Immer noch keine Reaktion. Er trug heute einen dreiteiligen grauen Einreiher, wie es einem vierzigjährigen Technischen Angestellter des Instituts für Bevölkerungstherapie zustand, fuhr sich durchs schüttere Haar, zupfte einen Fussel vom rechten Revers und schüttelte das Sakko auf seinem hageren Körper zurecht.
Lauschte.
Tatstaturgeklapper? Das Röcheln einer Kaffeemaschine?
Gekicher?
Nichts.
Das gleiche trockene Schweigen wie im Inneren eines Kopierergerätes.
Er nestelte eine goldene Taschenuhr aus der Westentasche.
Zeit für Tee.
Doch egal, es war wichtig diese Sache vorzutragen.
Schließlich drückte Schmidmann die Klinke hinunter.
Spähte in den Raum.
Niemand war zu sehen. Guthold Schmidtmann roch den blumigen Duft eines Damenparfüms.
Auf dem Schreibtisch lag eine aufgeblätterte Illustrierte.
Schmidmann fragte sich, was zu tun sei. Schließlich hatte er einen Gesprächtermin mit dem Leiter des Instituts vereinbart.
Jetzt.
Der dicke blaue Teppich reichte bis an den Rahmen einer mit grünem Brokat gepolsterten Tür.
Das musste das Entree zum Büro der Büros sein, profan genannt: „Das Heiligtum“.
Immer noch war Schmidmann in dieser seltsamen Atmosphäre gefangen, die ihn wie ein Netz aus Spinnweben zu umgeben schien, seit er die Räumlichkeit betreten hatte, er fühlte sich nicht wohl.
Unsicher dann, sich umblickend, einen langsamen Schritt nach dem anderen, näherte er sich der pompösen Tür, öffnete sie mit einem Schub von Selbstsicherheit, gewappnet, den Blick seines Vorgesetzten zu ertragen.
Ahnend, dass der ihn zu einem winzigen Bakterium der Naivität, nein, einem Molekül ignoranter Unverschämtheit schrumpfen lassen würde.
Auch im Heiligtum konnte Schmidmann niemanden entdecken. Er war allein.
Ein mächtiger Eichensekretär am Ende des, trotz seiner Ausmaße ein wenig länglich wirkenden Zimmers.
Die Front zur Wand. Über dem Holztisch hing ein doppelt Mannshohes Bild, das er als konfus und verwirrend empfand. Er hätte nie auch nur ansatzweise versucht, dessen Aussage verstehen zu wollen.
Doch der rote Sessel faszinierte ihn, seit er das Büro betreten hatte.
Der Sessel, in dem jener Mensch saß, der die Entscheidungen fällte, der einen, Schmidmann persönlich bekannten Lageristen fristlos gekündigt hatte.
Der vollkommen offensichtlich Existenzen vernichtete, und nun Schmidmanns kleinem häuslichem Glück ebenfalls ein Ende bereiten wollte.
Der Sessel.
Ein antiker Armsessel.
Er hatte vier geschnitzte Beine, die in Löwenköpfen endeten. Sie versanken bis zu den aufgerissenen Mäulern im braunen Kaschmirteppich, so dass von der herrlichen Arbeit des Künstlers nur der obere Teil, bis knapp unter die Nüstern, hin zur welligen, feingeschnitzten Mähne sichtbar war.
Die ebenholzfarbenen Stuhlbeine, die aus den Mähnen wuchsen, mit ihnen zu verschmelzen schienen, strebten oval ihren oberarmdicken Enden an der Sitzfläche zu.
Guthold Schmidmann war unwillkürlich näher getreten, jede Angst und Vorsicht vergessend. Ganz plötzlich, unverrückbar und glasklar, fühlte er sich in eine unbekannte Welt gezogen. Eine Welt endloser Bilder, aneinander und ineinander gereiht, als würde er vor einem Spiel stehen, in dem sich ein Spiegel spiegelte, er mitten drin, unentwegt sich wiederholend, flankiert von unbekannten Szenarien.
Der Sessel genau neben ihm.
Die Sitzfläche, in der Mitte ein klein wenig abgescheuert. Die Armlehnen stellten zwei in sich verschlungene Schlangen dar, jede Schuppe fein herausgearbeitet. Die weit aufgerissenen Mäuler wirkten beängstigend lebensecht.
Das war nicht alles.
Schmidmann war neben den Sessel getreten, spürte jetzt, als
seine Beine die letzten paar Schritte zu dem Möbelstück getan hatten, endlich, wie sich sein Körper mit dem Gefühl, in einen Haufen aus Wolken zu fallen, niederließ.
Die Unterarme schmiegten sich an die Lehnen, er spürte sein Gesäß auf der Polsterung.
Und dann begann es – langsam und zögernd, wie ein Hauch von Sand, der allmählich eine Skulptur in der Wüste bedeckt, ihre Formen verschwimmen lässt, sie eins werden lässt mit den Dünen. Seine Arme traten in immer engeren Kontakt mit dem Holz der Schnitzereien, er konnte die Maserung des Baumes, aus dem der Teil des Möbelstücks gefertigt worden war spüren.
Die ihr innewohnenden Erfahrungsschätze von Jahrhunderten wurden ihm wie die Lichtwellen einer flackernden Kerze klar, es war, als ob er einen Teil ihres Wissens schemenhaft wahrnahm. Jetzt begriff er auch die seltsamen Szenarien, die durch seine Spiegelvision geglitten waren. Geschichte!
Auch seine Oberschenkel, die auf dem alten, chinesischen Stoffbezug ruhten, schienen mit seiner Oberfläche zu verschmelzen. Alles änderte sich. Herr Schmidmann erkannte die Unschuld seines Denkens, wurde gewahr, was er es bis zu diesem Augenblick noch nicht einmal zu erahnen vermocht hatte. Verspürte die Gewissheit, dass in nur allzu kurzer Zeit sein materielles Sein keine Rolle mehr spielen würde.
Schmidmanns Augen waren wie von sich windenden Gazeschleiern bedeckt, trotzdem nahm er wahr , wie sich sein Körper mit dem Material, der Sitzfläche, der geschwungenen, schmucklosen Rückenlehne, den Holzdübeln, den Löwenköpfen und geschuppten Schlangen vereinigte.
Der Anfang der Unendlichkeit des Denkens wurde. Oben und unten, links und rechts gab es nicht mehr, Er begann die Welt des Sessels zu erforschen, in sie einzutauchen, zu reisen.
Herr Guthold Schmidmann freut sich jeden Morgen ungemein, wenn er die hübschen Beine der Vorzimmerdame beim Auftischen des opulenten Frühstücks betrachtet.
Ansonsten ist sein Dasein bis zum Bersten gefüllt mit kleinen Dingen, die ihn beschäftigen. Er erinnert sich an die chinesische Prinzessin, die damals auf ihm gesessen hatte und einen heimlichen Brief an ihren Liebsten schrieb. Die lange Seereise, die vielen Jahre auf einer Farm in Afrika. Die Zeit des Wartens in London bei Christies, dann im Salon des Lords.
Endlich ist er glücklich.
Zu großen Eskapaden neigt sein Benutzer nicht. Was Herrn Schmidmann ein wenig stört, sind die Blähungen des Oberamtsdirektors, vor allem, wenn der Krautrouladen gegessen hat.
Denn er hat als Teil der feinen roten chinesischen Seide sehr empfindliche Geruchsnerven.
Was weiter aus Herrn Guthold Schmidmann geworden ist, bleibt verborgen am Ende der Unendlichkeit.
Ich heiße Olga Derewjanko (02. 01. 1989 im Dorf Perkiwzi geboren). Zur Zeit stehe ich im 2.Studienjahr an der Fakultät für Fremdsprachen an der Jurij Fedkowytsch-Universität und studiere Deutsch-Ukrainische Übersetzung. Da ich gerne selber auf Deutsch schreibe, nehme ich schon zwei Jahre lang an der Tschernowizer Schreibwerkstatt teil. Das bringt mir viel Spaß und Seellenvergnügen. Um später qualitative literarische Übersetzungen zu machen, interessiere ich mich besonders für die deutschsprachige Literatur und besuche mit Vergnügen „das literarische Cafe“ , wo wir die Werke von deutschen und österreichischen Schriftstellern und Dichtern tiefer kennenlernen. Eine bedeutende Stelle unter ihnen nimmt die Dichterin jüdischer Herkunft Rose Ausländer ein. Ich bewundere Ihr lyrisches Werk, darum versuche ich möglichst mehr über den Lebensweg und literarische Tätigkeit von Rose Ausländer zu erfahren. In meiner studienfreien Zeit lerne ich selbstständig Polnisch und besuche einen Hebräischsprachkurs.
Olga Derewjanko – 5 Tage eines Studentenlebens (Auszüge aus einem Tagebuch)
Montag
Der erste Tag der Woche war stinklangweilig. Natürlich habe ich verschlafen. Ich habe meinen tyrannischen Wecker nicht gehört. Und alles begann. Es blieb sehr wenig Zeit. Und ich, ein kluges Mädchen, bin auf die Idee gekommen, zwei Sachen gleichzeitig zu machen. Ich putzte mir die Zähne mit einer Hand und kämmte mich mit der anderen. Mit einer zog ich mich an und mit der anderen warf ich meine Hefte in die Handtasche. In Recordzeit war ich fast fertig und es blieb nur noch meine Schuhe anzuziehen. Ich beschuhte mich schon, während Natascha mir dieses Glas mit Tee gab. Und ich versuchte wieder alles auf einmal zu machen. In der nächsten Minute hatte ich den schwarzen Tee schon auf meiner neuen weissen Hose. Wie konnte ich nur auf eine so dumme Idee kommen. Aber es war erst der Anfang des Tags. Warum sind so viele Menschen an der Bushaltestelle, wenn ich in Eile bin? Warum müssen so viele gerade in diesem Moment irgendwo hinfahren? Oh, echte Raubtiere. Sie haben meine Marschrutka gesehen. Ich verstehe es nie, wie es möglich ist, so viele Menschen, Taschen, Handtaschen, Kinder, Rucksäcke, Hunde und alle zusammen in einer Marschrutka?? Es ist wirklich das achte Wunder der Welt! An der Uni, Gott sei dank, war nichts Besonderes! Vier Dopellstunden sind gewöhnliche Sache! Ich habe „ausgezeichnet“ in Deutsch bekommen und während der nächsten Dopellstunden war ich zufrieden wie ein Elefant nach dem Bad. Aber jetzt Näheres zum Abend. Unmöglich! Ich hatte vier Dopellstunden, bin so spät nach Hause gekommen… Unmöglich! Man kann sich das vorstellen, meine Süßesten, mit denen ich eine Wohnung miete, sahen fern und sagten, dass sie nur auf mich warten und dass wir unsere Wohnung jetzt putzen werden. Putzteufel! Welcher Student wird von Montag an mit dem Wohnungsputzen beginnen? Und brauchte man eine Tageshälfte auf mich zu warten, um 10 Minuten zusammen zu putzen? Unmöglich! Ja, ich half ihnen natürlich, mit moralischer Unterstützung!
Dienstag
Ich bin so dumm, ich sitze hier und verstehe nichts. Bei Null Grad Wärme* weigert sich einfach mein Gehirn zu funktionieren. Aber keiner nimmt darauf Rücksicht. Schade. Morgen nehme ich eine Mütze, einen Strickschal und warme Handschuhe mit. Jetzt ist es schon zu spät etwas zu verändern. Und ich werde hier bis zur Pause erfrieren. Und im Allgemeinen habe ich gehört, dass rote Ohren jetzt der letzte Trend sind. Aber wahrscheinlich wird das überhaupt der letzte Trend in meinem Leben sein.
Aber ich verlasse dieses Leben nicht so ruhmlos wie meine Tanja. Sie spult den Schal um den Hals auf, zieht die Handschuhe an und schreibt sogar mit. Sie ist nur in einem einsamen Exemplar vorhanden. Sie geht in kein Cafe, um eine Tasse heißen Tee zu trinken oder sich zu wärmen.
Sie zerrte mich mit zur Doppelstunde. Zur Vorlesung, wohl bemerkt. Aber das macht nichts. Mein Heldentod im Namen der Mode wird auf ihrem Gewissen sein. Klingelt es? Ist es wirklich wahr oder ist es nur eine Halluzination? Gott sei Dank, es ist wahr. Gut, dass ich mein Tagebuch heute mitgebracht habe.
Mittwoch
Ich bin allein zu Hause. Es ist so ein seliges Gefühl, dass mich so selten besucht, darum kann ich selbstverständlich nichts lernen. Ich sitze und genieße. Niemand fragt, was habe ich heute an der Uni gemacht, warum bin ich so spät nach Hause gekommen, obwohl ich heute nur zwei Doppellstunden hatte. Oh, Mann! Mutti fragt mich weniger als Asja zu Hause aus. Gut, genug davon. Ich höre Autos auf der Strasse fahren, Menschen etwas sagen, ein Auto an unserem Wohnhaus bremsen. Aber das interessiert mich heute nicht. Ich bin allein zu Hause. Ich kann sorglos träumen. Niemand wird mich stören. Meine Liebe. Mein Lieber! Seitdem er eine Blitzparallele auf die Fläche meines unberührten Herzens zog, kann ich keinen Radius finden, um meine endlosen Gefühle für ihn zu beschreiben. Keine Logarithmustabelle kann die Ausbrüche meines verliebten Herzens zählen, weil es wie ein Voltabogen ist. Als ich ihn zum ersten Mal sah, bestreuten seine Augen mich mit einem mächtigen Schwarm der Elektronen. Sie schnitten mein Herz in Tausende Geometriefiguren. Ich finde, dass die Wechselwirkung der Herzen dem Coulombschen Gesetz entspricht, das heißt, von einem Kuss füllt sich die Leere, die bis jetzt zwischen uns war. Dir, mein Lieber, leiste ich den Eid, nach dem Pitagores Theorem zu lieben und ihm ergeben zu sein bis zum Tod, weil ich nach dem Theorem liebe und das unterliegt keinem Zweifel. Ich liebe dich… ICH LIEBE DICH… Schade. Du hörst mich jetzt nicht. Warum kehren meine Mädel schon nach Hause zurück? Ich soll aus meiner Welt der Träume weggehen. Ich soll mein Herz zumachen und ihnen die Tür aufmachen gehen.
Donnerstag
Ich gratuliere dir, Olga, zum Abschluss dieses Tages. Du hast ihn doch überlebt. Für heute waren die Hausaufgaben nicht so schwer und ich habe mich gut darauf vorbereitet. Im Ganzen geht es bei mir gut, doch ich habe ein „Aber“. Mein Verhältniss zu Tanja gefällt mir gar nicht. Seit Anfang September können wir uns nicht verstehen. Ja, nicht ganz. Wir gehen zusammen in die Mensa, fahren manchmal mit einer Marschrutka und setzen uns neben einander. Ich fühle aber, dass sich etwas geändert hat. Sind wir für unsere Freundschaft zu alt geworden?Ich vermisse unser Flüstern während der Dopellstunden, unser Kuchenessen in den Pausen. Ich vermisse meine echte Tanjuscha. Manchmal sehe ich in ihren Augen, dass sie mich auch vermisst. Oder erscheint es mir nur so? Hoffentlich wird bald alles wie früher. Nadja hat mir heute erzählt, dass sie, wenn sie nach der Uni ins Studentenwohnheim kommt, sofort ins Bett geht und nur abends ab 10 zu lernen beginnt. Komisch. Aber ich bin noch komischer. Ich kann den ganzen Tag faulenzen und um 12 in der Nacht erinnere ich mich an eine sehr wichtige Aufgabe. Aber ich verstehe, dass, wenn ich jetzt länger lernen werde, werde ich am Morgen nicht aufstehen können, darum ziehe ich meinen Wecker auf und gehe schnell ins Bett. Der Wecker beginnt um 5 Uhr zu schreien. Ich nehme dieses Ungeheuer zu mir ins Bett, es beruhigt sich aber nur für 5 Minuten. Dann beginnt alles wieder, natürlich jede 5. Minute. In einer halben Stunde höre ich schon meine arme Natalie. Verzweifelt versuche ich zuerst sie, dann den Wecker, dann wieder sie zu beruhigen. Ich höre Natalie schimpfen und verstehe, dass ich sicher nie aufstehen kann. In einem solchem Zustand kann sie mich 100 Prozent fertig machen. Ich überlege mir und entscheide, dass mein Leben für mich viel wichtiger als irgendwelche Noten ist. Ich schalte den Wecker aus und wollte ruhig weiter schlafen, aber meine Gedanken, wie ich das alles heute Natalie und meiner Dozentin erklären werde, lassen mich nicht zum einschlafen kommen. Das schlimmste ist, dass ähnliches sehr oft mit mir passiert.
Freitag
Natalie will noch nicht schlafen und das bedeutet, dass ich noch Zeit habe, etwas zu lesen oder zu schreiben. Ich habe so viel vor, für morgen, für übermorgen, für mein ganzes Leben. Ich sehe wie eine Streberin aus, aber wie kann man anders in diesem Leben einen besseren Platz unter der Sonne kriegen? Mein Wecker ist bereit morgen zu klingeln, gleich schlafe ich ein, oder habe ich nur ein solches Gefühl. Stopp! Morgen ist doch Samstag! das bedeutet, dass ich für zwei Tage die Weckerexistenz vergessen kann. Ich höre Regen draußen weinen. Ich bin müde und meine Augen schließen sich selber. Aber dieser Regen. Er lässt mich nicht in Ruhe. Fühlt er sich einsam und braucht zu diesem Abend Gesellschaft? Warum? Wann? Wozu? Wohin? Woher? Tausend Fragen. Warum kommen sie zu mir, ohne an die Tür zu klopfen? Tausend eins. Der Regen trommelt auf mein Herz, vielleicht weiß er, dass wir uns in dieser Einsamkeit ähnlich sind. Morgen wird noch einer neuer Tag kommen. Morgen beginnt eine neue bunte Seite meines Lebens. Ich lebe mit meinem Warten auf einen neuen Tag.
*die Marschrutka – so heißt in der Ukraine den Autobus, womit alle Fahrgäste jeden Tag zu fahren.
*Null Grad Wärme – in der Ukraine ist möglich, daß es im Winter in einigen Hörsälen der Hochschulen solche Temperatur gibt.
Geboren am 09. September 1973 in Düsseldorf, Studium der Germanistik, arbeitet als Online-Redakteur. Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Diverse Auszeichnungen mit Literaturpreisen. Preise: 2. und 6. Platz im Literaturwettbewerb „160 Zeichen Literatur“ (2002), 1. Platz im Literaturwettbewerb „Namenlos“ (2004), 2. Platz im Literaturwettbewerb „Feuer“ (2004), 8. Platz im Literaturwettbewerb „Hinter der Tür“ (2005), 7. Platz im Literaturwettbewerb „Notwendigkeit“ (2006).
Mehr über den Autor erfahren Sie auf seiner Site.
Seitdem
ich nicht mehr
jeden Tag
raus muss
Seitdem
mein Arbeitgeber
gesagt hat, dass
ich raus muss
Seitdem habe
ich das Gefühl,
dass ich
raus muss
aus
diesem
Leben.
1964 Geboren in Coesfeld/Westf., zwischen Kircheglocken und Knochenschinken, zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, Auszeichnungen u.a. Endauswahl zum Wiener Werkstattpreis 2005, Sieger beim Kurzgeschichtenwettbewerb des Michael-Müller-Verlages 2006, lebt als Vielleser und Quartalsliterat in Münster.
Kontakt Jürgen Flenker
Jürgen Flenker – strukturwandel / aktenkundig
strukturwandel
aus der traum
fabrikschlote recken
faltige hälse in alle winde
verweht fliegen zeitungs
fetzen lose umher
streunende katzen und lebensentwürfe
lesen und beißen sich fest
am druckschalen gestern
weiter hinten gähnt
inhaltslos auf
gelassen und kalt
die rotationsmaschinenhalle
teilnahmslos blüht kamille
an gleisen und schwellen
angstvoll lärmt ein falke
ton in ton die werkssirene
verfehlt er um eine oktav
zukunft blüht tonnenweise
auf verdichteter halde
kreativkontore grünen entkernt
in zugigen lofts
vergangenheit bewältigt sich selbst
vergessene druckfahnen
fluchtartig eingeholt
gegenwart schrillt
ins verwaschene rot
aktenkundig
während du stirbst
an mangelndem leben
frühmorgens gedrängt
auf engem behördenflur
den hinterkopf flüchtig
ins gilb der rauhfaser gedrückt
und eine restexistenz (du)
seiner berechtigung harrt
später in überheizter amtsstube
stellst du dich lebend
hingeduckt auf amtsschemeln
findest du eingang
in laufende vorgänge
und lebst wieder auf
in hängeregistraturen
was bleibt aber
stiften die akten
nachhaltiger als jede kunde
des nichtgelebten lebens
noch der spärlichen spur
nachfettenden haars an der wand
Geboren 1967, wohnt und arbeitet im Raum Hannover.
Nach der Schulzeit Ausbildung und Tätigkeit als technische Zeichnerin, dann Fachabitur und ein Ausflug ins Designstudium. Weiterbildung zur Maschinenbautechnikerin. Fernstudium zur technischen Autorin – während dieser Zeit arbeitete sie als Werbetexterin und Lichtplanerin. Seit 1997 ist sie im Bereich technische Dokumentation tätig. Sie verfasst sowohl Alltagsprosa, als auch phantastische Geschichten.
Literaturverzeichnis:
Anthologie „Unterwegs“, Lerato-Verlag,
Anthologie „Der Kreisel“, Intrag Publishing
Susanne Fletemeyer – Massenträgheit
Eben war die Tür hinter ihm zugeschlagen. Jetzt stand er im Treppenhaus und lauschte ihrem Nachhall. Er atmete tief durch, steckte seine zitternden Hände in die Jackentaschen und begann den Abstieg. Abstieg, dachte er und lächelte schief. Er ging die Stufen hinab, vom zweiten in den ersten Stock, ins Erdgeschoß, quer durchs Foyer, an der Empfangsdame vorbei, durch die Drehtür des großen Gebäudes, hinaus in die kalte Novemberluft.
Draußen stand er noch eine Weile unter dem Vordach. Da, wo die Limousinen der hohen Tiere halten können, war der Bordstein leicht abgesenkt. Haltlos presste er die Aktentasche an seine Brust. Wohin sollte er nun gehen? Zur Haltestelle und dann nach Hause, dachte er, doch seine Glieder wollten nicht gehorchen. Hinter sich spürte er den Sog des Gebäudes. Größere Körper üben eine Anziehungskraft auf sehr viel kleinere aus – ein physikalisches Gesetz, das kannte er noch aus der Schule. Anfangs hatte er sich gerne einsaugen lassen in das Firmenuniversum. Am Anfang. Da war er noch euphorisch gewesen, dachte, er hätte es geschafft! Nach Monaten der Arbeitslosigkeit endlich wieder ein Job. Eine feste Stelle in einer großen Firma, das war wie eine Absicherung fürs Leben! Doch seitdem Swoboda die Abteilung übernommen hatte, war alles anders geworden.
Jeden Morgen, wenn er aus der S-Bahn gestiegen war, hatte er sich mit denselben Vorsätzen auf den Weg zur Firma gemacht. Heute würde er sich nicht erschüttern lassen von Svobodas beiläufigen Sprüchen, von der kleinlichen Kritik an seiner Arbeit, von den mitleidigen Blicken der Kollegen. Dann würde sich der Kloß im Hals erst gar nicht bilden. Doch jedes Mal sah er die Vorsätze vorauseilen und an den riesigen Glasflächen der Firma abgleiten. Sobald er das Gebäude betrat, änderte sich die Atmosphäre. Hier schien ein höherer Luftdruck zu herrschen. Er legte sich auf seine Schultern, so dass er in die Knie gehen musste. Der Druck ließ erst langsam nach, wenn er abends die Treppe hinunterging und schnellen Schrittes am Empfang vorbei ins Freie drängte. Draußen löste sich dann auch der Kloß im Hals. Heute war er diesen Weg das letzte Mal gegangen.
Zögernd stand er immer noch unter dem Vordach. Nur ein Schritt, dachte er, über den Bordstein und dann weiter. Doch er spürte den Sog im Rücken, und plötzlich war ihm so, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. Er drehte sich um, und nahm wie von selbst den Weg zurück. Durch die Drehtür, an der höflichen Empfangsdame vorbei, quer durchs Foyer ins Treppenhaus, hinauf in den zweiten Stock. 46 Stufen, er hatte sie gezählt. Jeden Morgen. Die Tür zur zweiten Etage rückte näher und seine Schritte wurden schwerer. Dann, wenn Svoboda anwesend war, kamen die Schweißausbrüche, begann das Händeflattern, bildete sich der Kloß im Hals. Die Kollegen waren nett, aber unverbindlich. Im Grunde kümmerte sich jeder um sich selbst, war froh, nicht im Rampenlicht zu stehen.
Sechsundvierzig. Zwei Schritte noch, und er drückte die Klinke der Tür, die auf den Flur zu den Büros führte. Für einen Augenblick spürte er den kühlen Druck des Türblattes im Rücken. Dann atmete er tief durch, stieß sich ab und betrat den kahlen Flur mit den grauen Teppichfliesen. Unschlüssig verweilte er und starrte in den schmalen Gang mit seinen Bürotüren, die stets sorgfältig geschlossen waren. Gedämpfte Geräusche von Kopierern und Telefonierenden. Rastlos drehte er sich um, öffnete die Tür zum Treppenhaus, lauschte dem Nachhall, ging die Stufen erneut hinab.
Jetzt sah er die Szene wieder deutlich vor sich. Swoboda, hinter seinem Schreibtisch, wie er ihm stumm bedeutete, sich zu setzen. Minuten des Schweigens, unterbrochen vom leisen Klicken der Computertastatur. Swoboda, wie er aufstand und mit dezenter Stimme sein Bedauern ausdrückte. Diesmal war er freundlich, ganz anders als sonst. Undeutliche Wortfetzen drangen durch das Dröhnen seines Herzschlags. Wir bedauern … betriebliche Gründe zwingen uns … tut uns leid … alles Gute! Schließlich Svobodas ausgestreckte Hand, aus der er mechanisch die Kündigung entgegen nahm. Dann das Spießrutenlaufen durch die Schreibtischgasse der Kollegen. Mitleidige Blicke, bedauerndes Nicken, aber nicht ein Wort.
Er stieg weiter die Stufen hinab, vom zweiten in den ersten Stock, ins Erdgeschoß, quer durchs Foyer, an der telefonierenden Empfangsdame vorbei, durch die Drehtür, hinaus in die kalte Novemberluft. Schwankend stand er wieder an der Bordsteinkante, atmete tief ein und spie die kühle Luft von sich, als er auf dem Absatz kehrt machte. Die Empfangsdame nickte freundlich, als er nochmals an ihr vorbei quer durchs Foyer ins Treppenhaus marschierte, hinauf in den zweiten Stock. 46 Stufen.
Einmal hatte er den Fahrstuhl benutzt und den Stillstand gefühlt, als er darauf wartete, dass die Tür sich öffnete. Sekunden des Nichtstuns. Sein eigenes Zerrbild im Spiegel. Er war froh gewesen, als der Lift mit leichtem Ruck zum Stehen kam und er seinem Spiegelbild entfliehen konnte.
In Gedanken versunken, war er wieder oben angekommen, doch hielt er sich nicht länger als nötig auf, drehte sich um und ging den Weg noch einmal. Diesmal rannte er. Rannte die 46 Stufen hinab, stürmte quer durchs Foyer an der Empfangsdame vorbei durch die Drehtür hinaus ins Freie. Der Sog war schwächer geworden, stellte er zufrieden fest, drehte sich um, eilte erneut zurück durch die Drehtür an der telefonierenden Empfangsdame vorbei, quer durchs Foyer zum Treppenhaus, bezwang die 46 Stufen, indem er zwei auf einmal übersprang. Jetzt sind es nur noch dreiundzwanzig, dachte er und hatte das Gefühl, einen Feind überlistet zu haben. Oben riss er schwungvoll die Tür auf und ließ sie gleich wieder zuschnappen. Noch ehe der Nachhall sich aufgelöst hatte, war er die Stufen förmlich herunter geflogen, quer durchs Foyer an der Empfangsdame vorbei gestürzt und wurde durch die Drehtür ins Freie geschleudert.
Schwer atmend stoppte er am Bordstein, breitete die Arme aus, federte leicht auf den Fußballen stehend und registrierte erstaunt, dass er den Sog nicht mehr spürte. Und plötzlich wusste er, dass er nichts im Gebäude vergessen hatte. Im Gegenteil. Er fühlte, dass es ihm endlich gelungen war, etwas darin zurückzulassen.
Hannelore Greinecker-Morocutti
Geb. 1952 in Leibnitz, lebt in Salzburg.
Fotografin, Grafik-Designerin.
Kontakt Hannelore Greinecker-Morocutti
Hannelore Greinecker-Morocutti – an hr.b / 30 jahre von fr.g / 54 jahre
lieber kollege:
unsre
arbeit
ist
wie
ein
tennis-
match
wir
schlagen
uns
die
harten
bälle
zu.
manchmal
springt
einer
von
uns
übers
netz
zum
anderen
dann
gewinnen
wir
beide.
Ich bin 1957 geboren; lebe und arbeite seit über 30 Jahren in Berlin. Während meiner Berufsarbeit Diplom Pädagogin habe ich viele Jahre in verschiedenen Bereichen gearbeitet. Seit sechs Jahren leite ich eine Kindertagesstätte.
Erst seit kurzem habe ich Feuer für Kurzgeschichten und Gedichte gefangen. In meiner Entwicklung als Autorin fühle ich mich am Anfang. Und dennoch: eine Kurzgeschichte wird im Laufe des Jahres in einer Anthologie erscheinen (meine erste Veröffentlichung!).
Erschöpft und frierend lässt Clara Hollmann ihren schweren Körper in den unbequemen Polstersitz des Linienbusses fallen. In einer Stunde etwa würde sie endlich ein heißes Bad nehmen können, in die Wärme eintauchen und die Erinnerungen an den hinter ihr liegenden Tag möglichst in den Ausguss spülen.
Vom dunkelblauen Wintermorgen bis zum grauen Nachmittag hat Clara Auskünfte erteilt. Gelegentlich zumindest. Ihr Arbeitsplatz ist ein winziges Pförtnerhaus, ihre Hauptaufgabe ist es menschlicher Wegweiser für Patienten, Besucher, Lieferanten und Angestellte eines Krankenhauses zu sein.
„Der Pförtner ist verpflichtet, jedem Auskunftsuchenden freundlich und so umfassend wie möglich Auskunft zu erteilen,“ so steht es in ihrer Stellenbeschreibung. Auch das das kleine evangelische Krankenhaus am Stadtrand hat ein Qualitätsmanagement System eingeführt. Für Clara bedeutet DIN EN ISO 9001 hauptsächlich verbindlich zu lächeln. Verordnete Freundlichkeit.
Es gibt nur 8 Häuser auf dem großen Gelände. Viele Besucher finden sich auch ohne Clara gut zurecht und gehen wortlos vorüber. Bei Bedarf füllt Clara das in einem Prospekthalter an der Wand steckende Informationsmaterial auf, täglich ordnet sie die Ein- und Ausgangspost den einzelnen Häusern zu. Letzte Woche hat sie die kleine Blautanne, die der Hausmeister an die rechte Seite ihres kleinen Häuschens gestellt hat, weihnachtlich geschmückt.
Seit zwei Jahren arbeitet Clara jetzt dort. Ihre Tage haben seit dem wieder Struktur. Die Struktur und die Farbe von Sackleinen – gleichmäßig gewirkt, grau- braun und rau.
Noch 14 Busstationen. Clara schließt die Augen. Wieder war es ein Kümmeltag. Clara mag keinen Kümmel. Der Geruch erinnert sie an die Zeit nach dem Zusammenbruch ihres Geschäftes. Gegen die anhaltenden Magenschmerzen hatten auch Kümmeltee und Fenchel nicht geholfen.
Vor fast zehn Jahren hatte Clara, damals arbeitslose Fototechnikerin, ihre Arbeit in dem Gewürz- und Kräuterladen als Verkaufshilfe begonnen. Aus der Übergangslösung zur Existenzsicherung wurde schnell eine Leidenschaft. Als die Geschäftsinhaberin den Laden verkaufen wollte, nahm Clara allen Mut und alles Geld, das sie auftreiben konnte, zusammen und übernahm das Geschäft.
Clara liebte die Arbeit in dem kleinen Laden mit der Patina der frühen 50er Jahre; insbesondere seine Gerüche.
Der Duft von frischem Bohnenkraut aus Thüringen, von Zitronenmelisse und Pfefferminz weckte Claras Erinnerungen an den Garten ihrer Großeltern, an heiße Sommertage unter den Schatten spendenden Obstbäumen. Clara mochte die warme Farbe von chinesischem Zimt, das leuchtende Gelb von Kurkuma und das feurige Rot von zerstoßenen Chilischoten. Muskat und Kardamom, Vanilleschoten und Süßholz, Bockshornklee und Anis – von den fast hundert verschiedenen Kräutern und Gewürzen wusste Clara schon bald viel mehr als ihren Namen. Sie las über den frühen Handel mit Gewürzen, über Länder, von denen sie bisher nicht mehr als den Namen wusste und über die Heilwirkung der Kräuter.
Es war, als seien ihre Sinne geweckt worden und voller Übermut und Neugier, trieben sie Clara an, neue Gewürze zu bestellen, die bekannten so miteinander zu kombinieren, dass nach langem Experimentieren in der heimischen Küche Mischungen entstanden, die alltägliche Speisen außergewöhnlich verfeinerten.
Sicherlich spürten die Kunden Claras Brennen für ihre Kostbarkeiten. Obwohl Clara keinesfalls ein kommunikatives Verkaufsgenie war, konnte sie den Kreis der regelmäßigen Kunden vergrößern.
Beachtlich war nicht nur ihr Sortiment, sondern auch die Art ihrer Beratung; unaufdringlich, aber spürbar begeistert und bemerkenswert kompetent.
Bemerkenswert waren auch die Veränderungen in der Gegend, in der Claras Geschäft war. Steigende Mieten trotz sinkender Kaufkraft trieben erst das Fischgeschäft und dann Claras direkten Nachbarn, den Buchladen, in den Ruin. Die Laufkundschaft blieb schließlich völlig aus, als die Postfiliale am Ende der Straße und ein Feinkostgeschäft schlossen. Besserverdienende, davon viele Claras Kunden, verließen die Gegend. Nach und nach wurden die Zeichen der Armut sichtbarer. Fette Jahre hatte der Laden nie erlebt, doch nun wurden sie geschäftlich mager und schließlich folgte ein letztes dürres Jahr. Dann gab Clara hoch verschuldet auf.
Nach dem Konkurs fühlte sich Clara wie amputiert von allem was sie bewegt und berührt hatte. Ein Trauerjahr mit Depressionen, Selbstzweifeln und Magenschmerzen folgte der Katastrophe. Kümmeltage, die kein Ende nehmen wollten.
Schließlich siegten Überlebenswille und Vernunft; Clara schaffte es, zur Freude ihres Fallmanagers im Jobcenter, „nach vorne zu schauen“. Trotz ihres Alters – immerhin war sie jetzt achtundvierzig Jahre – bekam sie die dritte Stelle, auf die sie sich beworben hatte, als Pförtnerin im Krankenhaus. Ein Glücksfall; selten wie ein Lottogewinn.
Seit zwei Jahren verbringt Clara jetzt einen Großteil ihrer Lebenszeit auf mit Linoleum ausgelegten 6m², lauscht in die Stille und beantwortet bei Bedarf immer gleiche Fragen. Wenn sie in ihrem Pförtnerhäuschen sitzt, ziehen sie ihre Gedanken oft in ihren verlorenen Kräuterladen. Sie versinkt in erinnerten Momenten, die wie kostbare Seide schimmernd glänzen und die immer noch nicht ohne Schmerzen zu haben sind.
Markgrafenstraße. Der Bus hält und Clara steigt aus. Wieder ist ein Kümmeltag fast vorüber. Ein Glücksfall.
1940 geboren in Meißen. Studium der Deutschen Sprache und Literatur (1967 – 1971) an der Pädagogischen Hochschule Dresden, danach an der Martin-Luther-Universität Halle – Wittenberg Fernkurs „Belletristik / Sachliteratur“ an der Andersson-Akademie Hamburg (1990 – 1992). Derzeit als Honorardozent im Europäischen Bildungswerk für Beruf und Gesellschaft für Germanistik, Kommunikationswissenschaften tätig.
Holger Hartenstein – Aus dem Tagebuch meiner Enkeltochter Sina
(Wie das Arbeitsamt meiner Mutter Moni einen Job verschaffte – ein modernes deutsches Märchen aus einem teutschen Arbeitsamt)
Es kann immer mal passieren, dass jeder in der Familie ab und zu mal eine wichtige Rolle spielt, besonders wenn es Mutter Moni betrifft, und wenn daraufhin Papa Jupp in seiner plastisch, bildhaften Sprache uns anregt, immer fleißig zu lernen und zu arbeiten im Leben wie Mama Moni, die augenblicklich arbeitslos zu Hause rumhockt und alle nervt, weil ihr vielleicht das viele Arbeiten und Lernen im Leben bisher nichts einbrachte. Und wenn ihr die Leute im Hause begegneten, die noch eine Arbeit hatten, schaute sie immer auf die andere Seite der Treppe, auf der sie zwar nichts sah, aber trotzdem hinschaute. Vielleicht hat sie auch in ihrem persönlichen Leben manchmal nicht genug gearbeitet, und deshalb hat das Arbeitsamt seinen Sieg über sie errungen und sie arbeitslos gemacht. Aber das hören wir immer, was Papa Jupp sagt, mein Bruder Jörg und ich, auch wenn wir mit Mama Moni im Arbeitsamtsflur wie im Fernsehen immer in der ersten Reihe sitzen und auf Arbeit für Mama warten, wenn die Arbeitsamtsmitarbeiter mit pfiffigem Gesicht und der Kaffeetasse in der Hand über den Flur huschen, bevor sie ihr Werk mit Mutter Moni beginnen, was höchst langsam oder gar nicht vorwärts geht, weil sie manchmal mit uns unangemeldet hier herumsitzt. Nun hat das Arbeitsamt Mutter Moni einen Anmeldetermin abgelockt, aber da geht es mitunter noch langsamer voran.
Mutter Moni zeigt immer ihr ganzes Drum und Dran auf diesem Amt vor, was sie als brave Bäckersfrau so vorzuzeigen hat, und das ist oben herum nicht wenig. Und wenn der bedeutendste und vielseitigste Arbeitsvermittler mit nachdenklichem Gesicht vor Mutter Moni immer auf und ab geht und klüglich sagt und dabei auf ihren Busen schaut, Bäcker werden nicht gebraucht, meint Mutter Moni immer, gut, ich bin bereit, das Wagnis einzugehen, was anderes zu machen, zum Beispiel für ihre Kinder gut zu kochen, worauf wir uns bei diesem Satz besonders auf das Wort „gut“ freuen und das Mittagessen gar nicht mehr erwarten können. Da aber fährt dieser Arbeitsberater erschrocken einen Schritt zurück, sah uns Kinder an und dachte sich seinen Teil, denn wir sahen wieder einmal wohlgenährt aus, nicht wie arbeitslose Kinder. Seinen kritisch-realistischen Blicken auf uns entnahm ich, dass das Bekochen der Kinder also auch nicht gebraucht wird.
Endlich sagt er, dass er etwas hat – vielleicht, aber das muss er sich genau überlegen. Wozu denn lange überlegen, fragte Mutter Moni. Das wird sie schon sehen, nickte der studierte und gutverdienende Beamte, bekam dazu ganz rote Ohren und verlor trotzdem nicht die Geduld. (Doch kann man immer die tiefen Gedanken der Beamten verstehen, wenn es ums Arbeiten geht?)
So dauerte es ein halbes Jahr, bis der Beamte mit dem Überlegen zu Ende war und sich Mama Moni in dieser Warteschleife mit Schwarzarbeiten zu Hause wie Staub wischen, Teller abwaschen, Kartoffeln schälen, Kinder erziehen umsonst beschäftigte. Im Familienteam nahm sie sogar noch am gemeinsamen Fernsehen teil.
So schickte der Löwe aus dem Arbeitsamt Mutter Moni also nach diesem halben Jahr einen schönen, hochinteressanten, geistreichen Brief, der schon vor dem Öffnen bei Mutter Moni Unruhe und Nervosität ausstrahlte. Mein Gott, durchzuckte es auch die Familie und ließ noch eine Weile Mutter Moni unentschlossen hin und her laufen. Aber dann schrie sie aufwachend auf und stand mit einem Male vor einem in unserer Wohnung bis auf den Boden reichenden Spiegel und musterte ihre bäckerliche abgerundete Gestalt. Wir sollten ihren Leib beschauen, befahl sie, als alle Familienangehörigen sie umkreisten wegen des Geschreis, das sie vollführte. Nachdem alle ihren Leib gründlich studiert hatten, fragte sie wie jede Frau, ob wir nicht meinten, dass sie zu dick sei! Zur Bundeskanzlerin würde dieser Leib reichen, sagte Papa Jupp spitzig. An dieser Frau hätte er wohl offensichtlich Gefallen gefunden, sagte sie eifersüchtig. Denn mit diesem Posten erreicht ein solcher mütterlicher Leib eine große Popularität.
Diese Frage schien also plötzlich außerordentlich wichtig für Mutter Moni zu sein. Wir anderen hüteten uns, die Wahrheit über Mamas Bundeskanzlerinnenleib zu sagen, nur Papa Jupp knurrte, zu dick, Mutter Moni, was das für ein Ausdruck bei ihr sei, obwohl, wenn sie durch die Wohnung rennt, wird immer viel Staub hinter ihr aufgewirbelt.
Nun ja, ästhetisch sei sie nicht gerade mehr. Denn in der früheren Bäckerei hätte sie zu früh die Weichen für die Rundungen ihres Körpers gestellt und sich ständig satt gegessen bei all den Kuchen und Törtchen. Mit einem Satz war sie bei ihrem Jupp-Mann. Sie hätte deshalb immer gegessen, weil sie wissen wollte, ob es den Kunden schmeckt, bevor sie das Zeug verkauft hätte. Und sie sollte ab sofort Essig trinken und Kaffeebohnen kauen! Und hoffentlich liest sie bald diesen Arbeitsamtsbrief vor und sieht nicht immer so schief ihren Körper an!
Deshalb setzte sich Papa Jupp jetzt in den alten Ledersessel und gab sich als einfacher, wartender Mann wie bei Mutter Moni beim Schuhekauf. Die weiteren Worte blieben aber Papa Jupp im Munde stecken, als Mutter Moni ihn wegen der Wahrheit an ihrem Leibe abkanzelte. Das sei eben der verfluchte Tribut, den sie für diese Familie gezahlt hätte! Aber Oma Agathe sagte gleich, dass man einen Amtsbrief gefasst und ohne sich zu streiten erwartet und liest, und ihre Tochter soll endlich sagen, was drin steht! Dann schälte sie weiter Kartoffeln. Denn sie machte einen guten Eintopf. Fast täglich gab es immer Hartz-IV-Eintopf, von Oma Agathe höchstpersönlich gefertigt, weil Mutter Moni noch keine Arbeit hatte. Meist handelte es sich um Gemüsesuppe mit Gemüse und Bockwurst drin.
Mama Moni begann zu lesen, und selbst die Bockwurst wagte nicht zu atmen. Dass sie sich freuen, sagte Mutter Moni, ihr eine Beschäftigungsmöglichkeit vorschlagen zu können. Da brüllte Bruder Jörg sofort, dass das prächtig wäre, weil er sofort an die Erhöhung seines Taschengeldes denken müsste!
Fotomodell soll sie machen, das heißt, wenn jemand kommt, soll sie sich diesem sofort anbieten! Opas Atem ging auf einmal rascher, und Oma Agathe stand gleich der Schweiß auf der Stirn, und sie wollte wissen, ob das wirklich drin steht – im Amtsbrief. Für Aktfotos, und als Lohn und Gehalt kriegt sie 20 Euros.
Mutter Moni guckte wieder auf ihren Leib und meinte, das hätte sie anderen Frauen bestimmt voraus.
Ich saß auf einem Stuhl und suchte schon die Seite in der BRAVO heraus, auf der Mutter Monis Leib mit Kurven gedruckt werden sollte, gleich neben Britnay! Und neben Bill auf der Couch bei Tommy Gottschalg. Ich zitterte vor Erwartung, ob Mama Moni auf diesen Vorschlag eingehen würde. Und gleich morgen sollte sie sich beim Nacktfotografen angezogen natürlich vorstellen.
Ob die auf dem Arbeitsamt denn nicht wissen, dass sie die Figur einer ausgewachsenen Bäckersfrau hat, wollte Papa Jupp rhetorisch wissen.
Es dauerte lange, bis Mutter Monis Schock zu Ende war und sie auf einen Stuhl fiel, der unter ihrem Gewicht knarrte. Selbst das Bild im Fernseher flackerte. Ihr Schock beanspruchte nur wenige Minuten, dann kreischte sie, ich soll mich ausziehen? Atemlos lief sie wieder vor dem Spiegel hin und her. Ja, wie jeden Abend, wenn du ins Bett gehst, sagte ich gleich. Mit deinem Fleisch-, Wurst- und Eierverbrauch kann sie sich doch nicht sehen lassen, sagte Opa. Aber dafür wären ihre moralischen zwei Gleichgewichte doch so fotogen, lästerte Papa Jupp.
Sie würde gleich das Bewusstsein verlieren, schrie Mutter Moni wieder, aber es verschwand nicht, deshalb brauchte sie gar nicht wieder zu sich zu kommen. Nun zog diese Nacktaffäre gefährliche Kreise, denn Papa Jupp legte kurierend seinen Arm um seine Frau, was er sonst nie tat, und guckte sie mit seinen gierigen Männeraugen an. Sie würde so schön verführerisch aussehen, verherrlichte er unsere Bäckerstochter, und er fühlte nichts anderes als nur das Verlangen, dieses Glück vollständig auszukosten, endlich mal ein Bild von ihr ohne alles an die Haare seiner Brust zu drücken. Seine Vermutung stimmte, dass es schon zu lange her sei, dass er um sie geworben habe. Und lange hätte er schon nicht mehr an ihr herumstudiert. Das zeugte von einem gewissen Bekennermut.
Dieses Lob von Papa Jupp brachte Mutter Moni dazu, wieder vor den Spiegel zu rennen und wie trunken zu behaupten, dass sie für ein Nacktmodell doch viel zu dick sei. Papa Jupp flüsterte ihr ins Ohr, dass eine Frau mit reiner Weste sich nie zu verstecken braucht. Verstecken, lachte sie?
Dabei wollte sie nur noch mehr Lob von ihrem Mann einheimsen. Und sie würde höchst gefährliche Wege betreten, die mit einer Bäckerin nun wirklich nichts mehr zu tun haben. Und was wäre mit ihrer Unschuld?
Auf Mutter Monis Unschuld wusste niemand etwas zu sagen, weil Oma Agathe gleich sämtliche Diätverfahren aus der Lokalzeitung vorschlug, um Mama Moni dünner zu machen, aber Nacktmodell darf ihre Tochter trotzdem nicht werden. Und sie riss ihre Tochter gleich an sich und schlang ihre Omaarme um sie, als ob sie ihr ein bisschen Fett wegdrücken wollte, damit sie doch noch als Nacktmodell beim Arbeitsamt auftreten könnte.
Schade, dass es nicht in allen Arbeitsämtern Deutschlands solche Jobs gibt. Denn flatternde Nacktmodelle kreisen genug über teutschen Wiesen und halten Ausschau nach einem Arbeitsplatz. Und die Beamten er müssen selbst herausbekommen, welcher Job am besten für welche Frau passt. Wenn er das einmal erkannt hat, muss er das bis zum Schluss auch durchhalten. Er kann nicht von Nacktmodell zu Nacktmodell springen, um allen Frauen zu befriedigen. Obwohl: Nacktmodell am Abend – erqickend und labend. Was nur den Ehemännern erlaubt ist!
Trotzdem können wir dieses Land noch einigermaßen gut ertragen, und Opa und Papa Jupp müssen nicht gleich zum Arbeitsminister nach Berlin fahren, zu diesem Münte oder wie das Ding heißt, und sich dort über die Behandlung dicklicher deutscher mittelalterlicher Bäckersfrauen und Mütter beschweren und ihm Mutter Monis körperliche Breite vorführen, auch wenn die Menschen sich oft auf die ungewöhnlichsten Arten und Weisen kennen lernen.
Wir sind ja schließlich keine Schovinisten, und manchmal bestimmt nämlich auch die Art der Geschichte ihren Standort.
Am 30.10.1968 in Wien geboren. Seit 1999 Lesungen.
Veröffentlichungen in diversen „Haiku“ – Anthologien:
„Ein Koffer voller Träume“ (Neue Cranach Presse 2002)
„An Wolken angelegt“ ( Corvinus Presse Friedrichshagen 2002)
„Schreib ich in taumelnder Lust“ (Neue Cranach Presse 2002)
„Auf den Weg schreiben“ (Neue Cranach Presse 2003)
„Ich träume deinen Rhythmus…“ (Neue Cranach Presse 2003)
„Das Gewicht des Glücks“ (Neue Cranach Presse 2004)
„Auf Cranachs Spuren“ (Neue Cranach Presse 2004)
„Der Klang der Kugeln“ (Corvinus Presse Berlin 2005)
„Flug der weißen Vögel“ (Edition Doppelpunkt 2005)
Teilnahme an Seminaren „Literarisches Schreiben“ unter der Leitung von Mag.a Marlen Schachinger zum Thema „Erzählperspektive“, „Erzählformen“ etc.
Silvia Hlavin – Das Drachenfest
Er dehnte den Gummihandschuh langsam, ehe er mit der rechten Hand hineinschlüpfte. Das Material war brüchig, am Gelenk ein kleiner Riss. Erst Mitte des Monats, neue Handschuhe gab es immer am Ersten.
Er wog die Farbpartikel und versetzte damit den Probekessel. Es war 11h. Zeit die Behälter in der Färbestraße zu kontrollieren. Er kletterte auf die schmale Leiter und fischte mit dem Holzstab ein T-Shirt aus dem siedenden Grün.
Er fuhr hoch, als ihm zwei Arbeiter unter ihm grüßten. Er sah in ihre Gesichter und wich rasch ihrem Blick. Beide kratzten an ihren Armen.
Das T-Shirt tropfte. Er breitete es in der kleinen Auffangwanne aus und war mit dem Ergebnis zufrieden. Gleichmäßig sattes Grün auch an den umgenähten doppelten Saumstellen. Er zeichnete den Prüfbericht ab und warf das T-Shirt in den Behälter zurück. Es spritzte, und er lehnte sich zurück. Mit der linken Hand hielt er sich fester an der Leiter. Ein Tropfen hatte seine Wangen erwischt.
Mit den Kontrolllisten stieg er die Leiter hinunter, und am Weg in sein Büro traf er Wang. Sie waren Nachbarn. Früher Freunde. Er schloss leise die Türe zu seinem Büro zu. Neid war es nicht. Alle hatten sich gefreut, als er Abteilungsleiter geworden war. Und sie hatten an ihn geglaubt. Erwartungen, Hoffnungen. Er würde mit dem Werksleiter sprechen: neue Handschuhe, bessere Schutzkleidung, Pausen.
Er klemmte die Aufzeichnungen in die Mappe und telefonierte mit der Auslieferungsstelle. Als er den Hörer auflegte, sah er zum Fenster hinaus. Kräftiger Wind. Ausgezeichnet. Der Drachenflugwettbewerb. Mit seinem Sohn hatte er wochenlang an dem Drachen gebastelt. Die feinen Schnüre hatte er bei einer Spezialfabrik bestellt. Er schloss die Augen und sah LiangWeis strahlende Augen vor sich.
Es klopfte, ein Färber klagte über Schwierigkeiten im neuen Bleichbecken. Er lief los. Die Frauen standen um das Becken. Ihre Arbeitsmäntel waren zerschlissen.
„Fein, dass du schon hier bist. Wir können sofort essen und losfahren. LiangWei ist aufgeregt und hat Angst, wir könnten zu spät kommen.“ Seine Frau lachte, als sie die Teller am Tisch verteilte.
Er wusch seine Hände im kleinen Badezimmer. Über dem Becken war ein Seil gespannt. Die nasse Wäsche tropfte. Sein Sohn rief nach ihm. Der Junge saß im Zimmer am Boden. Der Drachen lag vor ihm.
„Papa, glaubst du, wird alles gut gehen? Soll ich zur Sicherheit noch einmal die Seile verknüpfen?“
Er wollte sich zu dem Jungen setzen, doch das Essen war fertig.
Mit dem Auto fuhren sie zwanzig Minuten, dann schritten sie über die große Wiese zu dem Festplatz. Seine Frau hatte sich Mühe mit ihrem Haar gegeben, die Bluse war neu. Er blickte sie von der Seite an. Sie schien glücklich, wie sie mit LiangWei an der Hand neben ihm herlief. LiangWei schrie laut auf, als er die vielen bunten Drachen der anderen sah. Eine Versetzung zurück an den alten Posten wäre finanziell unmöglich. Sie hatten bereits um die größere Wohnung angesucht. Viele bekannte Gesichter waren unter den Zusehern. Er drängte seine Frau, sich abseits zu setzen. Noch am Hügel, von oben herab.
„So werden wir besser sehen.“
Die Drachen wurden gestartet. LiangWei lief mit roten Wangen und konzentriertem Blick. Rote Wangen waren das erste Anzeichen. Dann setzten die Ausschläge an den Händen ein. Die untergehende Sonne blendete ihn, und er schloss die Augen und spürte den Schmerz von aufplatzenden Hautstellen. Der Werksleiter hatte es ihm erklärt. Hautverträgliche Substanzen waren teuer. Der Betrieb musste sparen, sonst würden Arbeiter entlassen. Seine Frau rief LiangWeis Namen. Er blickte zum Festplatz.
Sein Sohn stolperte, doch rasch fing er sich und lief weiter. Der Drachen flog höher als alle anderen.
Seine Frau schrie und jubelte. Dann stieß sie ihn und fragte: „Bist du nicht stolz auf deinen Sohn?“
Er nickte.
Jahrgang 1961, wohnhaft in Delligsen (kleiner Ort zwischen Hannover und Göttingen). Autor Gedichte, Kurzgeschichten, Romane. Ich lebe und schreibe in Delligsen, einem kleinen Ort mit jeder Menge Landschaft. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder; beide schon erwachsen. Ich schreibe Gedichte, Kurzgeschichten und Romane, genreübergreifend. Veröffentlichungen in der regionalen Presse, überörtlichen Literaturmagazinen und Anthologien sind bisher geglückt. Ein Roman konnte aber nicht an den Verlag gebracht werden. Bei Internet-Schreibwettbewerben hat es schon ein paar Mal aufs Treppchen gereicht.
Veröffentlichungen:
-Vater und Sohn-
Kurzgeschichte in der Anthologie „Heute wir-morgen ihr“. Autorenverlag artep.
-Grenzland- und -02:30 Uhr-
Kurzgeschichten im Undergroundmagazin do!pen.
-Fleisch-
Kurzgeschichte in der Krimianthologie von Autorenfeder.
-Betsy Foot rettet Alabama-
Kurzgeschichte in der Anthologie „Tatort Internet“ des Kärntner Krimipreises.
-Underground-
Antho-Logisch. Anthologie „Unterwegs“.
Thomas Knackstedt – Tagtäglich
Wie ich diese Scheisse hasse. Aber es passiert jeden gottverdammten Tag. Das lässt sich nicht abarbeiten. Egal, wie hart und oft wir dazwischen hauen, es sind immer wieder die gleichen Gesichter, die einen anstarren.
Sie liegt auf dem Boden. Ein Auge ist blutunterlaufen, das andere von Schlägen völlig zugequollen. Sie ist so breit, dass sie von allein nicht auf die Beine kommt. Er sitzt in vollgesifftem Unterhemd am Tisch und hat die leere Schnapsflasche vor sich. An seinen Händen klebt noch ihr Blut. Er starrt auf die Tischplatte, tut fast so, als seien wir gar nicht da. Die Nachbarn haben angerufen; wie immer.
Jedes Wort ist eines zu viel. Wie oft haben wir den Arsch in letzter Zeit schon eingebuchtet. Jedes Mal so um die drei Promille. Sie ist ständig genau so voll. Keine Zeit zum Diskutieren. Ich schnappe mir seinen Arm und als er versucht mit der Flasche nach mir zu schlagen, ziehe ich ihm den Knüppel über den Schädel. Er sackt zusammen und wir schleifen ihn aus der Wohnung. Seine Alte hängt doch tatsächlich an seinen Beinen und wimmert, dass wir ihn da lassen sollen. Ich werde das nie kapieren. Im Treppenhaus glotzen die Nachbarn durch die Türschlitze. Wir wuchten den Typen in den Streifenwagen und legen eine alte Decke unter. Nicht, dass er uns die Karre auch noch mit seinem Blut vollsaut. Zehn Minuten später liegt er in der Zelle. Muss ihm mittlerweile wie ein Zweitwohnsitz vorkommen.
Nach einem schnellen Kaffe geht es zu einem Rentner, der sich über ein abgestelltes Auto beschwert. Ich habe es mir gleich gedacht. Ein alter Nazi, der vor lauter Langeweile nicht weiß, was er tun soll. Völlig plemplem. Der glaubt tatsächlich, dass die Straße vor seinem Haus ihm gehört. Und das da nur sein Wagen parken darf. Wenn da wer anders steht, muss er seine Mühle ja fünf Meter weiter parken und auch noch ein paar Schritte gehen. Und vor allem: Junge Leute. Damals wäre so was nicht passiert. Schließlich bezahle ich Steuern. Sie arbeiten für mein Geld. Blablabla. Da stelle ich gleich auf Durchzug. Meine Bemerkung, dass das Deutsche Reich schon seit ein paar Jahren nicht mehr existiert, beendet sein Gelaber. Das wird todsicher eine Beschwerde geben. Aber scheiss drauf. Man muss auch mal sagen, was man denkt. Ansonsten verfaulen einem die Gedanken mitten im Schädel.
Zum Schluss noch eine Ruhestörung. Meine absoluten Lieblingseinsätze. Zwanzig Typen, Weiblein und Männlein, alle total besoffen, die irgendeinen bescheuerten Geburtstag oder was weiß ich feiern. In einem Mietshaus, versteht sich, mittendrin. Gute Laune bis zum Abwinken. Ansteckend wie die Pest. Die Anlage bis zum Wahnsinn aufgerissen. Schunkelschlager und Schlagmichtotmusik weit über die Kotzgrenze hinaus. Das die Nachbarn sich dadurch gestört fühlen könnten? Wie käme ich denn auf so was? Man will schließlich Spaß haben. Das müssten die anderen ja wohl mal verstehen, oder? Viel Gerede, natürlich muss irgendwer Bullenschwein sagen. Dazu wieder die Steuergelder und wo ist denn ihre Mütze? Sind sie denn überhaupt im Dienst? Abgedroschene Phrasen von Blödmännern, denen ich nichts sehnlicher wünschen würde, als dass sie ihre verbalen Tiefflüge gemixt mit ihrem völlig ausgeflippten Auftreten mal auf Video sehen könnten. Und das Ganze nüchtern. Ich bin mir sicher, manch einer würde sich zu Tode schämen.
Auf der Rückfahrt noch eine Schleife über einen fetten Unfall. Jede Menge Blut und zerborstene Knochen. Tonnenweise Leid, eingequetscht in eine alte Blechkarosse. Jeder Tag kann der Letzte sein. Es kann verdammt schnell gehen.
Ich werfe den Koffer und die Jacke in den Schrank; ziehe mich um. Auf dem Weg nach Hause frage ich mich, wie lange ich das noch aushalten werde. Tagtäglich der gleiche Wahnsinn.
2002 Arbeitsstipendium der Stiftung Kulturfonds Berlin
2002/2003 Teilnehmerin einer Werkstatt am Literarischen Colloquium Berlin unter Leitung von Dr. Ulrich Janetzki
2004 „Entdeckungen 1″ eine digitale Literatur“zeitschrift“ (25 neue Autoren auf DVD und CDROM)
2004 Stipendium der Hans-Habe-Stiftung, Schweiz
2006 Aufenthaltsstipendium im Schloss Wiepersdorf
Rita König – Die kleine Ameise
Es war einmal eine kleine Ameise. Sie mühte sich ab mit riesigen Baumstämmen – auch wenn es für ein Menschenauge nur Tannennadeln waren. Ihren Kameraden galt sie als eine Streberameise.
Eines Tages saß die kleine Ameise in der Pause wieder einmal allein. Sie war traurig und dachte an ihre Kameraden, die sie am Morgen beschimpft hatten, weil sie trotz des Windes, der über den gefrorenen Boden pfiff, sich flugs an die Arbeit gemacht hatte, während die anderen noch jammerten, wie kalt es wäre und dass sie heute bestimmt nicht so viele Nadeln würden herbeischaffen können. Sie wünschte sich eine Freundin oder wenigstens jemanden, der sie nicht Streberameise nannte.
Inzwischen wärmten die Sonnenstrahlen den Boden, so, wie sie es den anderen vorausgesagt hatte, und zauberten ein Muster in den Wald. Sie schaute sich um und entdeckte ein Spinnennetz.
Der Reif an den Strängen war getaut und die Tropfen brachen das Licht, so dass es in allen Farben leuchtete. Die kleine Ameise lief ein paar Schritte auf das Netz zu.
Plötzlich vibrierten die Fäden.
„Was suchst du?“, fragte eine tiefe Stimme.
Die kleine Ameise schaute sich um, konnte aber niemanden sehen.
„Hahaha“, lachte es und das ganze Netz zitterte.
„Hier bin ich, oben, viel weiter oben, als du wohl schauen kannst, hahahahaha.“
Die kleine Ameise ging ein paar Schritte zurück und verrenkte sich den Kopf, dann sah sie die Spinne.
„Ich, ich, ich suche … mich.“
„Oho, eine Ameise, die sich selbst sucht. Hat die Welt denn so etwas schon gehört? Und warum schaust du dir dann mein Netz an?“
„Es sah so schön aus. Die Sonnenstrahlen …“
„Hm, dir gefallen die Farben, die sie zaubern, nicht wahr? Das sehen nicht viele. Bist du eine besondere Ameise?“
„Ich, ich … weiß nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr.“
Die kleine Ameise schluckte. Sie sah auf die Fäden, auf die Spinne, die still da saß und dann dachte sie: warum nicht? Und begann zu reden. Sie erzählte von ihrer Arbeit, wie viel Spaß sie ihr machte, von den Sticheleien, denen sie ständig ausgesetzt war und zum Schluss schniefte sie: „Am besten wäre, ich würde weggehen und alleine leben.“
„Meinst du wirklich, du könntest allein leben?“, fragte die Spinne.
„Ich, ich … weiß nicht.“, antwortete die kleine Ameise, „du kannst es doch auch.“
„Hm, hm, hm.“, die Spinne wiegte sich hin und her und das Netz schaukelte mit, „Ich glaube, das ist etwas anderes.“
„Warum?“, fragte die kleine Ameise, „warum ist das so etwas anderes?“
„Nun“, sagte die Spinne, „für mich ist es normal, allein zu leben, für dich wäre es nicht so. Ich weiß ja nicht viel über euch Ameisen, aber habt ihr nicht ein gemeinsames Haus, in dem ihr alle zusammen wohnt?“
„Ja, das schon“, sagte die kleine Ameise, „aber wenn ich es dort nicht aushalte?“
„Na, das wäre ja zu einfach.“ Die Spinne schaukelte so sehr, dass der kleinen Ameise fast schwindlig wurde.
Nach einer Weile begann die Spinne wieder zu reden: „Sind denn alle Ameisen anders als du?“
„Ich, ich … weiß nicht. Vielleicht …, ich weiß es einfach nicht.“
„Kannst du das heraus bekommen?“
Die kleine Ameise dachte lange nach. Das Netz wiegte sich jetzt wie ein beruhigendes Pendel hin und her, ganz sacht und ohne ihr Angst zu machen.
„Vielleicht. Vielleicht gibt es andere Gruppen, wo ich besser dazu passen würde. Meinst du das?“
„Du musst es schon selbst herausfinden.“
Die Sonne hatte inzwischen alle Tautropfen aufgesogen und das Netz schimmerte nur noch in seinen eigenen Farben.
Die kleine Ameise hatte ein paar Mal geseufzt.
„Ich will es probieren.“, beschloss sie so leise, dass die Spinne nachfragen musste, was sie gerade gesagt hatte.
Sie schien zufrieden damit und als die Ameise sich anschickte, die schwere Tannennadel wieder auf ihren Rücken zu heben, rief sie ihr zu: „Besuch mich mal wieder!“
Die kleine Ameise schaute auf das schaukelnde Spinnennetz und bedankte sich.
„Keine Ursache“, brummelte die Spinne, „ich habe gern Gäste.“
Dann lachte sie und lachte und die Ameise hörte dieses Lachen noch, als sie sich schon ein Stück entfernt hatte.
Die Sonne war weiter gezogen und langsam kroch wieder der Schatten und mit ihm die Kälte über den Waldboden.
Sie war nur noch wenige Minuten von ihrem Zuhause entfernt, als eine Ameise auf sie zukam und erfreut ausrief: „Da bist du ja! Wir haben nach dir gesucht!“
„Nach mir? Woher kennst du mich überhaupt?“
„Ich kenne dich schon lange. Du hast mich bestimmt nicht bemerkt. Ich bin in der Schicht nach dir. Ich habe mir schon lange gewünscht, dich kennen zu lernen.“
„Das ist schön.“, sagte die kleine Ameise leise.
Und dann nahm die andere Ameise ein Ende der großen Tannennadel und sie trugen das schwere Stück gemeinsam nach Hause.
Geburtsort/-datum: Reutlingen, den 18. Juli 1970
erlernter Beruf: Diplom-Geograph (Studium u.a. in Rio de Janeiro)
ausgeübter Beruf: Studienreiseleiter
Auszeichnungen:
Preis des Bertelsmann-Verlags beim Schreibwettbewerb „Zukunft Natur“ 1989;
Preise des FDA 1991 und 1998
Preis beim Felsenland-Literaturwettbewerb 2003
Oliver Meiser – Blumen aus Holland
Pieter fuhr Bloemen van Holland
nach Wien, Paris und nach Prag,
bunte Bloemen van Holland,
die jeder von uns so gern mag:
Nelken, Tulpen und Orchideen,
die wir doch so gerne sehen…
Pieter lag immer einsam
in seiner Koje drin,
denn Pieter fuhr Bloemen van Holland
nach Rom, Madrid und Berlin.
Für bunte Bloemen van Holland
war Pieter immer allein,
nur manchmal nach der Grenze
stieg eine Tschechin ein …
War wieder unterwegs,
für bunte Bloemen van Holland:
die Straße schmierig und glatt,
und Pieter müde und matt,
Der Laster umgekippt,
sie trugen Pieter davon,
und auf der Straße im Schnee
bunte Bloemen van Holland.
Auf deiner letzten Fahrt,
Pieter, wer bringt nun dir
bunte Bloemen van Holland:
Nelken, Tulpen und Orchideen?
Geboren in Mannheim, am 15. September 1962; lebe seit acht Jahren in der Schweiz, seit sieben Jahren in Zürich.
Studierte von 1984 – 1992 Politik und Geschichte in Mannheim, von 1995 – 1997 Ausbildung zum Lehrer an Waldorfschulen in Mannheim.
Arbeitete als Journalist, Fliessbandarbeiter, Bierkutscher, Bürobote und bin jetzt Lehrer für Deutsch, Geschichte und Theater an einer Rudolf Steiner Schule.
Bin seit sieben Jahren verheiratet mit Sandra Blum und habe einen fünfjährigen Sohn Max.
Bisherige Veröffentlichungen und Auszeichnungen:
September 2004: Mannheimer Literaturpreis für “ Astmanns Vision“
November 2005: Kurzgeschichte „Der Fremde“ erschienen in der Anthologie „Mythos Fremde“, hrsg. vom Bonner Institut für Migration, Free Pen Verlag, 2005. ISBN 3-938114-22-3
März 2006: Kurzgeschichte „Der dicke Dieter“ erschienen in Verstärker Nr. 14, Online Ausgabe.
„Wie, Horst, hat dir Mama kein Butterbrot mitgegeben?“
Horst packte mit gesenktem Kopf das Essen aus.
„Hat sie dich auf Diät gesetzt?“
Horsts schwerer Körper schrumpfte zusammen. Im Pausenraum konnte er nicht ausweichen, vor allem nicht im Winter. Bei Schichtbeginn ging er direkt in den Keller zum Gabelstapler. Zur Pause aber wurden die Maschinen abgestellt, und der Lastenaufzug brachte keine Paletten mehr nach unten, die er durch die niedrigen, engen Gänge zum Zentrallager fahren musste. Kam er aus dem Keller in den Pausenraum, waren alle Stühle schon besetzt und ihm blieb nur der exponierte Platz am Ende des langen Tischs. Er musste sich zwischen Stühlen und Wänden hindurch quetschen, versuchte, den Bauch einzuziehen, streifte trotzdem die Sitzenden und verursachte Unannehm-lichkeiten, weil sie mit den Stühlen zum Tisch rücken mussten.
Im Sommer suchte er auf dem Fabrikgelände einen Platz zwischen Europaletten, Kabelrollen und Öltanks. Jetzt im Dezember war es da nicht mehr auszuhalten. Er konnte Schmerzen, Kälte und Hunger nicht ertragen, auch wenn in dem engen, verrauchten Pausenraum schlimmere Qualen warteten.
Als er das Butterbrot hervorholte, kam die Frage:
„Hast du Lätta drauf? Die macht schlank“.
Oder: „Willst du eine Zigarette?“, obwohl er Nichtraucher war, denn Mutter wollte keinen Rauch in der Wohnung; oder die Frage nach Alkohol, den er als Staplerfahrer nicht trinken durfte.
Darauf folgte unweigerlich die Erzählung, wie sie ihn letztes Jahr kurz vor Weihnachten überredet hatten, zwei Bier und zwei Klare zu trinken. Wie er dann gesagt habe, er müsse wieder zum Stapler, mit Mühe aufgestanden sei, beim Hinausgehen jeden mit dem fetten Ranzen angerempelt und bei der nächsten Fuhre mit einer Palette Ölflaschen auf der Gabel zu schnell gewendet und die Ladung verloren habe: eine Riesensauerei, weil der Boden nicht nur mit Scherben übersät, sondern durch das Öl gefährlich glitschig geworden war. Das ganze war ihm so peinlich gewesen, dass er alleine versuchte aufzuwischen und keine Hilfe von oben anforderte. Als die dritte Palette mit dem Aufzug nach unten gekommen war, stellte der Stau die gesamte Produktion ab. Schreie von oben, was passiert sei, warum die Scheisspaletten nicht abgeholt würden, dann die Schritte des Vorarbeiters auf der Metalltreppe, der brüllte: er solle halt die Sauferei lassen, wenn er es nicht vertrage.
Alle wurden geholt um sich den Schlamassel anzuschauen; mittlerweile hatte der Schichtführer das Stocken der Produktion bemerkt. Natürlich roch er die Schnapsfahne, drohte mit Entlassung: mit der Sauferei auf der Nachtschicht sei jetzt endgültig Schluss, da könnten sich alle beim Kollegen Staplerfahrer bedanken. Ein Student wurde abgestellt, um beim Putzen zu helfen. Der Rest holte, kaum war der Schichtführer ausser Sichtweite, Bier aus dem Automaten. Das Putzen dauerte zwei Stunden, in dieser Nacht lief nichts mehr.
Mit der Geschichte ging auch diese Pause zu Ende. Die Studenten zogen die weissen Arbeitskittel an, weil sie nicht wussten, dass die Pause erst zu Ende war, wenn der Vorarbeiter aufstand. Der stand aber nicht auf, sondern fragte:
„Horst, was machst du eigentlich an Weihnachten?“
Der Maschinenführer neben ihm lächelte in seinen Schnurrbart. Horst schaute auf die Reste des Pausenbrots. Das Kühlaggregat des Bierautomaten summte im Hintergrund.
Der Vorarbeiter, nach einer Pause: „Also wir gehen gross essen“.
Pause. „Muss der Frau wieder mal was bieten“.
Pause. „Man schimpft ja viel über die Frauen, aber man ist doch froh, dass man sie hat“.
Pause. Dann endlich Horsts Antwort:
„Ich geh mit meiner ins Jägerhaus“.
Dröhnendes Lachen, der Vorarbeiter stand auf, was das Signal zum Aufbruch war.
„Da gibts ein Rahmschnitzel, das hängt auf beiden Seiten über den Teller“, wendete sich Horst verzweifelt an die Studenten. Die blieben verunsichert sitzen, bis der Vorarbeiter rief:
„Braucht ihr eine schriftliche Einladung?“
Sie begriffen nicht, warum alle lachten, bis einer erklärte, dass Horst mit der Mutter, bei der er mit 45 Jahren immer noch wohnte, und mit niemandem sonst Weihnachten feiern würde.
Horst kehrte ins Kellerloch zurück. Zitternd bestieg er den Stapler.
Jetzt kamen die schwachen, durchlässigen Stunden, die Stunden, denen er keinen Widerstand leisten konnte. Nach zwei dieser Stunden merkte er, dass er es ohne Essen oder wärmendes Getränk nicht schaffen würde. Also ging er nach oben, packte ein letztes Butterbrot aus und stach einen Strohhalm in ein Kakao – Tetrapack.
„Hat Mama an den Kaba gedacht?“
Vorarbeiter und Maschinenführer waren genau in diesem Moment hereingekommen und setzten ohne Vorwarnung zur Attacke an.
„Ich geh mit meiner ins Jägerhaus“, äffte ihn der Maschinenführer nach. Da fuhr der Teufel in Horst.
„Ihr Arschlöcher“ schrie er im Aufspringen, sodass sich Kakao über den Tisch verteilte. „Ihr elenden Arschlöcher. Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe? Hurensöhne, Arschlöcher…“
Vorarbeiter und Maschinenführer erschraken nur einen Moment.
„Horst, vergiss nicht, wo du bist“. – „Dass du auch gar keinen Spass verstehst…“ – „Willst du die Papiere abholen?“ – „So was von humorlos“. – „Wisch mal auf“. – „Na also, geht doch“.
Horst ging in den Keller zurück und fuhr den Stapler bis zehn Minuten nach Schichtende. Dann fuhr er mit dem Mofa im Licht der aufgehenden Sonne nach Hause. Dampf stieg aus den Ventilen der Rohrleitungen, die parallel zur Strasse liefen. Überall roch es nach Ammoniak.
Jahrgang 1959, wohne in Dortmund mit Familie – zurzeit Versorgungsassistentin im KKH, gelernte Sprachenkorrespondentin, war ich auch schon: Studentin der Psychologie, Taxifahrerin, Spielzeug- und Kinderbücherverkäuferin, Verwaltungsangestellte
Seit Herbst 2005 schreibe ich (vorwiegend) Lyrik. Meine Themen entstammen der Reflektion von Alltagsbegegnungen, Konfliktverarbeitung oder dem spielerischen Erfinden surrealistisch angehauchter Szenarien.
Als vielseitig interessierte Zeitgenossin engagiere ich mich gerne, u.a. als Mitglied im Jazzclub „domicil“, sowie im Internet-Literaturforum „Leselupe“.
Veröffentlichungen in Anthologien:
Bibliothek deutschsprachiger Gedichte „Ausgewählte Werke“ Band IX Stadt.Fluchten (Leselupe Lyrik Reihe Herausgeber: Werner Theis Gestaltung: Regina Holz)
Ich sehe gern Hände.
Neuerdings sehe ich alten Händen
beim Sprechen zu.
Sie nesteln an Bettdecken, Nachthemden, Schläuchen auch,
am meisten aber an Stoff.
Sie fühlen ihn zwischen zwei, drei Fingerspitzen
wie edle Garne, kostbare Gewebe,
als prüften sie wählerisch die Ware des Tuchhändlers.
Wie mitten im Leben auf dem Markt
an einem Donnerstag.
Die Ruhelosen bewegen sich schneller.
Sie suchen großräumig in Reichweite den Halt.
Meistens finden sie das Bettgitter.
Sie halten sich fest wie Schiffsreisende
an der Reling
An Bord. Auf Deck.
Den Blick versteckt in sich selbst.
Noch nicht in die Tiefe fallen.
Ins Fassungslose.
Noch da sein.
Ein bisschen bleiben.
Noch etwas festhalten.
Immer noch stark.
Manchmal sehe ich sie flattern.
Ängstliche kleine Flügelschläge.
Wenn ich sie nehme,
fassen sie beherzt zu,
beruhigen sich still.
Zwei Glieder einer Kette.
Halten.
Einen Moment lang warm verwoben.
Wie ewig.
Wie damals.
Wenn ich vor Angst nicht schlafen konnte.
Darf ich deine Hand?
Sie hat sie mir immer gegeben.
Meine Schwester.
Die, mit der ich immer gezankt habe.
Da hält die Angst nicht mit.
Bei einer handvoll Ruhe
für einen Menschen.
1973 in Essen (NRW) geboren.
Gelernte Industriekauffrau. Studium der Kunstgeschichte, Soziologie und Germanistik in Bochum, Jena und Berlin.
Seit 2002 als freie Autorin tätig. Diverse Preise (z.B. schönste deutsche Mauergeschichte 2004 „Sarah“/Icestrom, Empfehlungspreis des Hans-im Glück-Preises 2004 „Die gelbe Sonnenscham“) und Veröffentlichungen im Internet, in Literaturzeitschriften und Anthologien.
Lebt und arbeitet in Berlin.
Übersicht über bisherige literarische Veröffentlichungen:
09/2005: „Schlaflos“. In: Verstärker. Organ zur Rückkopplung von Kunst und Literatur.
11/2005: „Der Abschied“. In: Zeit. Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Antho – Logisch. Frohberger/Hadjieff. Web-Side-Verlag.
12/2005: „Lebenszeiten“. Schöngeist. Magazin für Kunst, Leben, Denken. ApoDion Verlag.
2007 erscheint die Kurzgeschichte „Die Farben des Meeres“ im Rahmen einer Anthologie, die vom Literatenohr e.V. herausgegeben wird. „Die Farben des Meeres“ hat den 2. Platz beim diesjährigen Literatenohr Wettbewerb zum Thema „Hafen“ gewonnen.
Sabine Raml – Mein Stück vom Himmel
Mein Leben verteilt auf vierzehn Quadratmetern. Die Sonne geht auf und wieder unter, die Kunden kommen und gehen. Dazwischen hocke ich auf den kalten Fliesen im Lagerraum und höre Radio gegen die Einsamkeit. Ich schlafe schlecht, seit ich hier arbeite, ganze Nächte durchwache ich. Auf die Frage, wie lange ein Mensch ohne Schlaf überleben kann, weiß niemand eine Antwort. Während ich die Fliesen betrachte, denke ich an das endlose Meer oder den blauen Himmel. Alles hier ist blau und dennoch erinnert nichts an Weite. Der Wetterbericht verspricht Schnee für die nächsten Tage. Der Verkehrsfunk warnt vor Stau. Mein Lieblingslied. Schwere Schritte kündigen den nächsten Kunden an.
Ein Stammkunde, ich weiß, was er will. Ich packe die Sachen in eine Plastiktüte und nehme das abgezählte Kleingeld in Empfang. Der Mann schenkt mir ein Lächeln, das erste heute. Es gibt Tage, an denen gehe ich unangelächelt nach Hause. Manchmal erwische ich mich dabei, dass ich mir vor dem Spiegel selber zulächle. Als der Kunde weg ist, ruft die Chefin an. Wir reden ein wenig über das Wetter, dann gebe ich die Bestellungen durch. Eine Liste voller Zahlen. Bier, Sprudel, Cola, Schnaps. Die Chefin quietscht vor Vergnügen, als sie hört, wie viel ich verkauft habe. Noch lange, nachdem sie aufgelegt hat, verfolgt mich ihre Stimme.
Nachts schreibe ich. Ich weiß, wie schwer das vielen fällt, wie sehr sie sich quälen vor einem leeren Blatt Papier. Für mich gibt es nichts Schöneres als dieses unschuldige Weiß, das sehnsüchtig auf meine Worte wartet. Ich schreibe wild und flüssig, ich schreibe, bis die Sonne aufgeht und mein Leben wieder der Kiosk ist.
Die Morgenzeitung. Belegte Brötchen. Die ich belegt habe. Zigaretten. Süßes. Wie mich der Geruch von alter Schokolade anwidert. Ich flüchte mich ins Lager. Ein Bericht über die Buchmesse. Ich drehe lauter. Mein Herz blutet. Da müsste ich jetzt sein, denke ich, da und nirgendwo anders. Hier schon mal gar nicht. Klack, klack. Ich laufe zum nächsten Kunden. Sehe in sein grinsendes Gesicht. Spüre, wie etwas stirbt in mir.
Meine Mittagspause verbringe ich vor meiner alten Schule, die direkt um die Ecke liegt. Etwas zieht mich Tag für Tag hierher. Ganz klein sitze ich auf den Stufen der Eingangstreppe und beobachte die weiße Häuserfassade. Manchmal kann ich einen meiner alten Lehrer erkennen, wenn er ein Fenster öffnet oder über den Schulhof läuft. Begegnungen meide ich, ich will keine der Fragen hören, die sie mir stellen würden. Autorin oder Schnapsverkäuferin, was würde ich sagen? Niemals möchte ich eine Antwort auf diese Frage hören, niemals.
Es schneit tatsächlich. Ich habe mein Fliesenlager gegen die vierzehn Quadratmeter getauscht und schaue aus dem kleinen Fenster, das ich öffne, um die Kunden zu bedienen. Mein Stück vom Himmel. Die Flocken tanzen, der eisige Wind schneidet mir ins Gesicht. Ich atme tief ein und aus. Ich wünsche mich weg, in ein warmes Bett, ein Bett, das an einem Strand steht und von dem aus ich den Wellen zuschauen kann. Schlafen, denke ich, nichts als Schlafen.
Das Gesicht meiner Chefin ist rot vor Wut. Wie ein aufgescheuchtes Huhn rennt sie umher. Ich brauche eine Weile, bis ich begreife, was passiert ist: ich muss eingeschlafen sein. Die nächste Kundin bedient die Chefin persönlich, als traue sie mir das nicht mehr zu. Sie tauschen Geld gegen Sekt und einen Schwung Frauenzeitschriften, ich kann den blauen Lidschatten der Kundin und das krause Haar der Chefin betrachten. Lustig, denke ich, als hätte ich mit all dem nichts zu tun. Zehn Minuten. So lange redet die Chefin ohne Unterlass, ihre Lippe bebt bedrohlich. Mit spitzem Zeigefinger deutet sie auf die noch nicht ausgepackten Bonbonschachteln. Ich schüttle bedauernd den Kopf und bedauere doch nichts.
Der Schulhof. Ich tanze mit dem Schnee. Atme die Frische. Warte. Mein ehemaliger Lateinlehrer Herr Hesse schaut mich etwas irritiert, aber durchaus neugierig an, als ich mich ihm in den Weg stelle. Wir reden, bis er endlich die Frage stellt, auf die ich gewartet habe. Autorin, sage ich, ich bin Autorin. Da staunt er. Und ich bin froh über meine Antwort.
Geboren 1963 in Prenzlau. Aufgewachsen auf einem Bauernhof in der Nähe von Pasewalk. Besuch der Polytechnischen Oberschule bis zur 10. Klasse. Einige Jahre Mitglied im „Zirkel schreibender Arbeiter“, dadurch Teilnahme an zahlreichen Workshops und Lesungen. Ausbildung zum Schlosser, Trockenbaumonteur, Industriekaufmann.
Armin Reinke – Der alte Schäfer
Er, der jedes Tier beim Namen nannte
und sich darum kümmerte,
ist nun im Altersheim.
Wo sich kaum jemand um ihn kümmert.
Doch manchmal kommen sie noch zu ihm.
Dann redet er mit den Schafen
und vergisst die lähmende Einsamkeit.
Geboren 1983 in Wels (OÖ), lebt und arbeitet in Wien.
Studium der Rechtswissenschaften und Soziologie.
Anita Reiter ist passionierte Bogenschützin, schaffte es in die Empfehlungsliste des jetzt.de-Blogstipendiums und veröffentlichte zuletzt bei Belletristik Berlin.
Anita Reiter – Bis dass der Tod uns scheidet
Ich komme nachhause und höre dich in der Küche herumklappern. Leise schleiche ich mich an dich heran und verschließe dir von hinten mit der Handfläche den Mund, damit du nicht vor Schreck schreist. Über deine Schulter schiele ich in die Pfanne und entscheide dann über mein weiteres Vorgehen.
Drei kleine Würstchen braten friedlich neben zwei Spiegeleiern vor sich hin, während der Cremespinat zufrieden im Töpfchen daneben dahinblubbert und mit ein klein wenig Überraschung auf meinem Gesicht, entscheide ich mich dafür, die Hand nicht von deinem Mund zu nehmen. Stattdessen küsse ich dir den Nacken, markiere die Stelle mit Lippenstiftabdrücken genau. Mein Mund wandert hoch zu deinem rechten Ohr. Ich verdrehe dir den Kopf, flüstere leise Ich liebe dich. Das “ … dich“ kaum verhallt, breche ich dir mit einem kräftigen Ruck das Genick.
Ohne einen Laut gleitet dein Körper meinen entlang. Deine Kleidung verhakt sich im Knopf meiner Bluse. So reißt du mich fast mit zu Boden und mir die Kleider vom Leib.
Du weißt, ich hasse Würstchen. Was soll das also? Und der Spinat?! Ist doch ekelhaft! Hättest du keine Würstchen gebraten, hättest du mir die Kleider vom Leib reißen können und wir hätten uns geliebt, gleich hier auf dem Küchenboden. Wir hätten heute das zweite Kind machen können. Das hast du dir doch so gewünscht. Der Tag wäre günstig gewesen. Schatz, bestimmt hätten wir ein kleines Töchterchen bekommen, wenn auch nicht mehr rechtzeitig vor deinem vierzigsten Geburtstag. Du warst ja so eine Perle! Als feststand, dass du die Professorenstelle bekommen würdest, sind wir in die Toskana gefahren. Erinnerst du dich noch an die steinerne Villa mit dem wunderschönen Kamin, vor dem wir unser erstes Kind gemacht haben? Nie wieder danach hast du mich so leidenschaftlich geliebt.
Als ich schließlich zu dir auf den Boden sinke, bemerke ich Licht im Backrohr. Wunderbar, Nudelauflauf. Der war bestimmt für mich gedacht. Und der Spinat mit Spiegelei? Gut, dass du endlich auf deine Ernährung achtest. Ach nein … dann waren die Würstchen bestimmt für den Jungen. Der kleine Bengel kommt doch gleich vom Kindergarten zurück.
Ich mache den Herd aus, das isst heute sowieso keiner mehr. Schade eigentlich, hättest du früher etwas gesagt… Aus Dankbarkeit für deine Mühen hätte ich meinen Körper an dir entlang gleiten lassen, meine Finger hätten mit deinen Haaren gespielt und meine Zunge mit deinem Ohrläppchen, während du mit dem Kochlöffel den Cremespinat gestreichelt hättest. Aber du hast wieder einmal deinen Mund nicht aufgekriegt. Nie hast du gesagt, wenn dir etwas auf der Seele lastete. Bloß meinen jugendlichen Liebhaber, den hast du mir verboten. Du wolltest keinen Nebenbuhler. Für unser Glück musste ich diese Liaison aufgeben. Habe ich mich denn je beschwert, als du mit deiner Arbeit verheiratet warst? Ja, ich weiß, das war nötig, damit du dich jetzt nur mehr der Forschungsaufträge annehmen musst, die du wirklich magst und du den Rest der Zeit unserer Familie widmen kannst, während ich Karriere machen kann.
Schatz, wo hast du eigentlich den Spaten hingegeben?
Man stirbt ja viel zu schnell heutzutage, finde ich. Ich hätte den Moment gerne etwas mehr ausgekostet. Kein Knack und aus. Mit einem Kuss deinen Mund verschließen und fühlen, wie du dein Leben aushauchst. Mich um dich schlingen bis dir die Luft weg bleibt und das Leben aus dir pressen wie den Saft aus einer Zitrone.
Schatz, kannst du dich noch an die Limonade erinnern, die du uns immer im Sommer gemacht hast?
Ich zerre und ziehe schwer an deinem toten Körper auf dem Weg durch die Küche zur Terrasse, Bastard. Du hast ordentlich zugenommen.
Da, auf der Terrasse haben wir immer im Sonnenuntergang gesessen und haben deine selbstgemachte Limonade getrunken, wenn ich mit dickem Bauch aus der Kanzlei kam. Ich habe die Beine hochgelegt und du hast sie mir unermüdlich massiert. Schatz, das waren noch Zeiten. Ich wollte nie Kinder, aber du warst so vernarrt in diese kleinen Racker. Da habe ich dir eben den Gefallen getan, als ich wusste, du würdest in Vaterschaftsurlaub gehen. Monatelang habe ich mich mit Babybäuchlein und schließlich mit dicker Wampe durch die Hitze gequält. Ich habe es für dich getan. Mein Gott, wie sehr habe ich dich geliebt.
Du warst immer so gut zu mir. Ich bewundere dein Geschick mit Kindern und Kochrezepten. Du hast mich mein Studium fertig machen lassen, bevor wir geheiratet haben und ernsthaft über Nachwuchs nachgedacht haben. Ich habe dir die Partnerschaft in der Kanzlei zu verdanken. Du hast mich behandelt wie eine Prinzessin und mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Aber mit jedem Kettchen, das ich mir beim Juwelier aussuchen durfte, hat es mir die Kehle ein Stückchen mehr zugeschnürt und wurde die Kette, die sich mir um den Hals gelegt hatte, sichtbarer für mich. Sicherlich, sie war lang und aus Gold, aber sie war da. Ich konnte hingehen, wohin ich wollte, nur weglaufen konnte ich nie.
Bis dass der Tod uns scheidet, haben wir uns geschworen. Schnell kanns gehen! weiß ich heute.
Der alte Traum vom neuen Leben kann endlich real werden. Ich hebe im Garten ein Loch aus und hoffe mich dort wieder zu finden. Dann werfe ich deinen Körper in mein finsteres Grab und kann wiederauferstehen. Ich werde nicht als frustriertes Anhängsel im Schatten eines erfolgreichen Mannes enden, dann lieber als von allen bemitleidete Witwe. Doch wer wird sich um den Jungen kümmern, wenn du erst 2 Meter tief unter den Rosen liegst und ich im Büro bin?
Schatz! Und wenn alles ganz anders kommt? Wenn sie mich holen? Abführen in Handschellen?! Und alle, die sie da waren zur letzten Grillfeier, werden um das Loch im Garten stehen und sich denken, wir wären doch glücklich gewesen.
Wir waren doch glücklich, oder? Schatz?
Hättest du nur nicht ohne Vorwarnung diese verdammten Würstchen gebraten …
geb. Juli 1966 / Gladbeck / verh. / 2 Söhne /
Erzieher in der Jugendhilfe / Betreutes Wohnen / Psychiatrie /
Seit 2003 monatl. Lesung im Lokalfunk (REL) „Die Jungs können lesen“ / Live-Lesungen im Ruhr-Gebiet
Veröffentlichungen:
Recklinghäuser Autorennächte 2004
Recklinghäuser Autorennächte 2005
„Grenz-Erfahrungen“ (Alheimer Verlag)
„Danach“ (Literaturkreis Marl, Herten, Bochum)
Berliner Verstärker-online-Magazin 04
Berliner Verstärker-online-Magazin 05
Angekündigt „Geschichten aus dem Untergrund“ (Seidl-Verlag, Nürnberg)
Klaus Schmeing – Dienstgespräch im Hühnerstall
Die Notlage eines Hühnerhofes hatte die Verlegung einiger Hennen hier her notwendig gemacht. Der Transport fuhr vor und übergab offiziell das Federvieh.
„Guck mal, die Neuen!“, standen zwei Hennen am Zaun.
Betrachteten, wie die Ankömmlinge im Hof sich ein Dach übern Kopf suchten.
„Lass uns mal hin. Gucken wer das so ist.“
Die Zwei eilten zum Stall. Tapsten die Stiege hinauf. Sahen eine Kollegin, aus deren Hintern gerade ein bräunliches Ei quoll.
Die Neue hockte daneben. Blickte missmutig auf das Produkt.
„Hallo. Wie heißt du?“, kamen die Zwei der Neuen entgegen.
„Uta!“
„Was ist los? Warum stierst du so auf das Ei?“, fragten die Zwei. Sie hatten den Blick der Neuen sofort bemerkt.
„Braun!“, äußerte die. „Wie langweilig!“
„Langweilig?“, wiederholten beide im Chor. „Eier sind doch immer weiß oder braun.“
„Wenn ihr meint…“
Die Zwei sahen einander fragend an. Schließlich ergriff die Eine zögerlich das Wort. „Ist doch so … oder?“
Uta erklärte: „Auf unserem Hof war alles besser. … Wir haben die Eier direkt für den Osterhasen gelegt.“
„Hä?“
„Ja! Grüne Eier … Gelbe … Blaue … Eine von uns hat sogar mal eins getupft geschafft.“
„Und das geht?“, sahen die Zwei sich ungläubig an. „Haben wir noch nie gehört.“
„Natürlich. … Was meint ihr denn woher die bunten Eier kommen?“
„Machst du mal eins?“, fragte die Eine verschämt.
„Geht jetzt nicht. Bin nicht in Stimmung.“
„Tach Mädels“, kam der Hahn in den Stall. „Na? Wie is `s?“
„Du störst!“, meinte die Eine forsch.
„Wieso? Was ist denn los?“
„Wir führen gerade so etwas wie … ein Dienstgespräch!“
„Ein Dienstgespräch?“, riss der Hahn die Augen auf. „Erzählt. Worum geht’s?“
Die Drei blickten skeptisch. Steckten die Köpfe zusammen. Tuschelten. Der Hahn meinte etwas von, „… ob wirs ihm sagen sollen?“ gehört zu haben.
Dann fassten die Hennen einen Entschluss. Schließlich ergriff die Rechte das Wort: „Das ist Uta. … und die … kann bunte Eier legen!“
„Bunte Eier?“, zeigte sich der Hahn mit fragendem Gesicht. „Wie … bunt … !?!?“
„Na bunt halt eben. Nicht weiß oder braun.“
„Wie?“ schüttelte er den Kopf.
„Kapierst du denn nicht? Grüne Eier, Gelbe, Blaue … oder getupft.“
„Und das geht? … Hab ich ja noch nie gehört.“
Er beobachtete die Drei gegenüber sehr genau.
Die Rechte schien entzückt vom Gedanken bunter Eier. Klang beinahe euphorisch, wie sie sprach. Die Linke schien etwas abwesend zu sein. Dachte vermutlich darüber nach, ob ihre weißen Eier bislang nicht gut genug gewesen sind. Uta hockte dazwischen. Hüllte sich in Schweigen. Hatte sich aufgeplustert. Sich dick gemacht.
„Du sagst also, dass du bunte Eier legen kannst …“, forschte der Hahn.
Uta nickte andeutungsweise.
„… Grüne … zum Beispiel …“, fragte der Hahn mit detektivischem Gespür.
Uta nickte erneut.
„Wie schmecken denn … grüne Eier?“
Uta verzog über die Frage das Gesicht.
„Ist doch egal“, wurde die Rechte initiativ. „Ist halt mal was anderes.“
Uta erweckte den Eindruck auf ihn, als hätte sie mit dieser Frage nicht gerechnet.
„Nun? … Wie schmecken sie denn?“ wollte der Hahn wissen.
Uta, deren Aufplusterung zwischenzeitlich abgeklungen war, erklärte: „Sie schmecken auch nicht anders als Weiße. … Eier eben … Wie Eier halt schmecken …“
„Aha!“ riss der Hahn die Augen auf. „Wo ist dann der Sinn?“
„Hää?“ sahen ihm die Drei entsetzt ins Gesicht.
„Ja! … Wo ist der Sinn grüner Eier, wenn die doch genau wie Normale sind?“ wiederholte er wissbegierig. Wurde dabei das Gefühl nicht los, die Drei zutiefst entrüstet zu haben.
Die sahen einander an. Ergriffen plötzlich alle gleichzeitig das Wort.
Plapperten wild durcheinander. Versuchten ihm das zu erklären. Überschlugen sich mit Ausführungen in schillernsten Farben …
… und hinterließen einen Hahn, der noch ratloser war.
„Und? … Hast du`s jetzt kapiert?“ fragte die Rechte stellvertretend für alle Drei.
„Nein …“ schüttelte der Hahn den Kopf, „um ehrlich zu sein, … nein.“
Die Drei sahen einander empört an. Schließlich huschten ihre Blicke zum ratlosen Hahn. „Hach“, riefen sie im Chor, „du bist halt ein Mann …“
… und schmissen ihn aus dem Stall.
Draußen kullerte er durch den Sand, während drinnen das Dienstgespräch weiter lief. Er richtete sich auf, schüttelte den Kopf und sah missmutig zurück zum Stall.
„Sollen sie doch … bunte Eier … so`n Quatsch … hab ich ja noch nie gehört … wo ist der Sinn? … sich über ungelegte Eier Gedanken machen …“ Dann bemerkte er wie herrlich die Sonne schien und zog es vor den Tag zu genießen.
Indes, im Stall, tauschten die Hennen sich eifrig aus, als plötzlich Uta in Regungslosigkeit verfiel.
„Was ist los?“ fragte die Rechte.
„Ruhe!“ sagte Uta, „… ich muss mich konzentrieren.“
Dabei schwoll ihr Kopf gut auf das Doppelte an.
„Was hast du vor?“ hopsten die Zwei fort, nach Deckung zu suchen.
„Ist n Experiment.“ knirschte Uta mit geschlossenem Schnabel.
Machte dabei den Eindruck so unter Spannung zu stehen, dass sie gleich explodiert.
„Legst du jetzt ein grünes Ei?“ fragte die Eine, in deren Stimme Ängstlichkeit schwang.
„Nein. … Ich mach jetzt was Neues.“
„So? Was denn?“
„Ich will versuchen, dass mein Nächstes eckig wird.“
geboren 1972, 1992- 1996 und 1998-2001 an der Universität Greifswald studiert, seitdem Diplom-Geograph, Standort Osnabrück, schreibt, seit er alphabetisiert wurde, und zwar überwiegend Miniaturen und alles, was kurz ist: Satiren, Sketche, Gedichte, Essays… bisher veröffentlicht in diversen Anthologien.
Kontakt Stephan W. Schmidt-Marx
Stephan W. Schmidt-Marx – Taktik
Nur so kannst du wirklich weiterkommen: Du mußt so tun, als ob du etwas anderes tust als was du tust. Sonst halten die Leute dich für unbeweglich.
Du mußt z.B. andere Dinge sagen, andere Dinge tun und, ganz wichtig: andere Kleidung tragen als wie sie angemessen wäre. Du mußt so tun, als wärest du ein anderer und an anderer Stelle. Dann werden die Leute dir abnehmen, daß du die gespielte Stelle tatsächlich einnehmen könntest (wenn du sie gut spielst). Denn die Leute glauben nur, was sie sehen.
Solche Schauspielerei und Trockenübungen lenken natürlich ab. Du mußt immer mit halbem Wesen anderswo sein, immer Rollen spielen, statt dich auf dein gegenwärtiges Tun zu konzentrieren. Wer schnell lernt, muß nicht viel üben; wer Dinge längst kennt, erst recht nicht. Aber Erfahrung und Beweglichkeit im Denken reichen nicht. Denken kann man nicht sehen.
Ganz bei sich und seinem Tun zu sein, wird dir zum Nachteil angerechnet. Es wird als Manko wahrgenommen, wenn du dich ganz dem widmest, was aktuell und angemessen ist; wenn du womöglich noch versuchst, dem Gutes abzugewinnen und mit Freude darin aufgehst. Wenn du ganz dort bist, wo du bist, glauben die Leute nicht, daß du an jeder Stelle ganz dort bist, wo du bist. Sie glauben, du könntest nur an einer Stelle sein, bis an dein Lebensende. Daß du auch mit anderen Situationen umzugehen weißt – nicht einmal die Möglichkeit wird in Betracht gezogen.
Sich im vermeintlich fremden Umfeld längst heimisch zu fühlen, sich schnell auf Neues einstellen zu können, das wird als Unbeweglichkeit gesehen, als unflexibel, weil man dich nicht üben sieht. Wenn du etwas kannst oder zumindest leicht dich damit vertraut zu machen weißt, glauben die Leute, du könntest es gerade nicht oder nur mit großer Mühe. Eben weil man dich nicht üben sieht.
Man wird große Aufgaben lieber den Übenden geben. Nur ungern aber denen, die sich schon auskennen oder den schnellen Lernern, denn das setzt mehr Vertrauen voraus. Wer noch übt, das ist wenigstens „einer von uns“.
Iß ständig, denn sonst glauben die Leute, du hättest doch sowieso niemals Hunger, und du bekommst in Zukunft nichts mehr. Male große Buchstaben, um zu zeigen, daß du tatsächlich schreiben kannst. Führe überflüssige Selbstgespräche, damit die Leute erkennen, daß du durchaus sprechen könntest, wenn es nötig ist. Trage Koffer mit kräftigem Arm, auch wenn sie Rollen haben. Sprich Englisch mit Deutschen. Tue alles, was unangebracht ist, damit die Leute wissen, daß du es kannst, für den Fall, daß es mal angebracht sein sollte. Das ist nicht effizient, vielleicht noch nicht einmal taktvoll – aber die Leute setzen Vertrauen in dich.
Dichter und Kunst-Maler, freischaffender Autodidakt; verheiratet, ein Sohn, katholisch.
Erste Veröffentlichung in Nationalbibliothek des Deutschsprachigen Gedichtes 2002, weitere Veröffentlichungen in Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte; Frankfurter Bibliothek (Brentano-Gesellschaft Frankfurt/M.); Cornelia Goethe Literaturverlag.
Lyrik – Veröffentlichungen:
Gedicht Schienenstrang bei Nationalbibliothek des Deutschsprachigen Gedichtes 2002 in Band V
Gedicht im Katalog zur Ausstellung Aquarell- Meeting in Altötting mit gleichnamigem Titel 2003
Gedicht Dampf- Bahn- Blues in Bibliothek Deutschsprachiger Gedichte 2004 in Band VII
Gedicht Ich mag bei Frankfurter Bibliothek des Zeitgenössischen Gedichtes 2004
Gedicht Wir sind Tür und Tor bei Cornelia Goethe Literaturverlag 2004 in Text-/ Bildband
Gedicht Gedanken Frankfurter Bi d. Zeitgenössischen Gedichtes 2005
Gedicht Vor geraumer Zeit Frankfurter Bi d. Zeitgenössischen Gedichtes 2006
Am 1. Dez 2004 Bericht im ANA der PassauerNeuenPresse über meine Arbeit als Dichter
Helmut Seilmaier – Ich hör sie reden
Ich hör sie reden
Von Alten und Kranken
Von Kosten
und wie sehr die
die Jungen belasten
Von Leben das nicht mehr produziert
das nicht mehr den Reichtum der Reichen
multipliziert
Von Leben das nur noch belastet
Ich höre Klagen
wie sehr sich die Jungen plagen
und wie viele Arbeitslose und Kranke
die Jungen mittragen.
Ich höre es!
Viele hören es!
und reden es nach
und werden zum Werkzeug
von Reichtum und Macht
Wer getreten wird
der tritt
Der Unterdrückte
bald erdrückt
und alle werden reden
von unwertem Leben
Zu meiner Person: Ich bin am 6. Sept. 1964 in Bruck a. d. Mur geboren und in der Breitenau aufgewachsen, wo ich die Volks- und Hauptschule besuchte. Meine Pflichtschulzeit beendete ich mit dem Polytechnischen Lehrgang in Kapfenberg. Da ich danach keine abgeschlossene Ausbildung zustande brachte, verdiene ich heute meinen Lebensunterhalt als Raumpflegerin. Ich bin allein erziehende Mutter von zwei Buben im Alter von 17 und 11 Jahren. Seit fast zwei Jahren bin ich nun auch Betriebsrätin in der Firma Pedus- Gebäudereinigung.
Brigitte Steinbauer – Ein Putzfrauendasein
Grod hob i frisch in Boun aufgwischt ghobt,
kummt die Frau vom Büro
mit muads dreckige Schuach
va da Stroßn eina.
Zeascht is ia peinlich,
daun moats:
„Owa damit sicha i eia Existenz.“
Do bleibt da amoi die Luft weig.
Söm san ma dou wichtig,
um deinan eana schlechts Gwissn
zu beruign.
Geboren 1976 in Waiblingen. Nach Abitur und einem einjährigen Irlandaufenthalt studierte ich Lebensmitteltechnologie in Freising. Auch während dieser Zeit zog es mich in die Welt hinaus und ich absolvierte ein Praktikum in Neuseeland und verbrachte ein weiteres Jahr in Irland am University College Cork. Seit meinem Abschluss wechselte ich beruflich bedingt von Hamburg nach Freising nach Schwäbisch Gmünd und nun bald wieder zurück nach Bayern, wo ich hoffentlich länger bleiben werde.
Susanne Steinle – Freundschaftsdienst
Johannes drückte auf Speichern und lächelte zufrieden vor sich hin. Der Auftrag war fertig und er wusste, dass er gute Arbeit geleistet hatte. Dieser Moment, wenn er den letzten Punkt gesetzt hatte mit dem Gefühl sein ganzes Wissen und Können erfolgreich eingebracht zu haben, genoss er am meisten. Er fühlte eine tiefe innere Ruhe und Ausgeglichenheit in sich, die er als sein ganz persönliches Glück definierte. Geld wog dieses Gefühl nicht auf und es kam ihm seltsam vor, dass seine Existenz trotzdem mehr von Geld, als von diesem Gefühl abhing. Manchmal schämte er sich beinahe den erforderlichen Betrag von seinen Kunden einzufordern, weil ihm die Arbeit so viel Spaß gemacht hatte. Er schloss das Dokument und öffnete den Posteingang seines email-accounts. Schon im nächsten Moment wünschte er sich, es nicht getan zu haben. Bernd hatte ihm geschrieben und das verhieß nichts Gutes. „Heute Mittag um 12:00 beim Griechen?“ las er, als er die email geöffnet hatte und sah damit seine Befürchtungen bestätigt. Er kannte Bernd seit der ersten Klasse und seit sie beide selbstständig waren, gab es nur einen Grund, weshalb sich Bernd mit Johannes mittags beim Griechen verabredete. Er wollte ihn als Übersetzer anheuern. Im Grunde war das etwas Positives, denn jeder Auftrag brachte Geld, aber nicht jeder Auftrag machte ihm Spaß. Johannes spielte mit dem Gedanken so zu tun, als ob er die email nicht gelesen hätte, verwarf ihn aber sogleich wieder. Spätestens um Viertel nach 12:00 Uhr würde Bernd ihn anrufen und dann hätte er den Auftrag vielleicht eine viertel Stunde später in den Händen. Nein, so ging es nicht weiter. Das wusste er im Grunde schon seit ein paar Monaten, aber er brachte es nicht übers Herz, Bernd eine Absage zu erteilen. Erstens war er sein bester Freund und zweitens lag es zu einem großen Teil an ihm, dass er den Sprung in die Selbstständigkeit überhaupt geschafft hatte. „Heute sage ich es ihm!“, dachte er und sendete ihm die Zusage zum Essen.
Danach nahm er den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Agentur Töpfer. „Marquart,“ meldete sich eine resolute Frauenstimme am anderen Ende. „Guten Tag, Frau Marquart, hier ist Johannes Kugler. Die Übersetzung über die römischen Katakomben ist fertig. Ich sende Ihnen die Datei heute noch zu.“ „Das ist ja gut,“ antwortete Frau Marquart, „dann kann der Prospekt ja noch diese Woche in Druck gehen. Vielen Dank für den Anruf und bestimmt bis bald mal wieder.“ Zufrieden legte Johannes den Hörer auf die Gabel. Die Agentur gehörte zu seinen besten Kunden, sie zahlten gut und vor allem bezogen sich ihre Texte auf das Kerngebiet seiner Kompetenz, was die Übersetzungen zügig voran schreiten ließen. Anders lag der Fall bei Bernd. Übersetzungen für ihn bedeuteten immer eine Qual, denn Handelsrecht interessierte ihn ebenso sehr wie Lockenwickler. Allerdings konnte er sich nur zu gut an die Zeit erinnern, als diese Qual seine Lebensgrundlage darstellte. Inzwischen bekam er regelmäßig Aufträge von Agenturen, Museen und Universitäten, um wichtige Dokumente über Kunst- oder Kunstgeschichte aus dem Italienischen ins Deutsche zu übersetzen oder umgekehrt. Und er liebte diese Arbeit. Bei jedem Stück Text lernte er wieder neues hinzu und schon oft hatte er seine Auftraggeber auf inhaltliche Fehler aufmerksam gemacht. Vor vier Jahren, zu Beginn seiner Selbstständigkeit konnte er noch nicht auf diesen Kundenstamm zurückgreifen und er selbst war es gewesen, der die Kooperation mit Bernd ins Leben gerufen hatte. Bei einem Mittagessen beim Griechen. Er wusste, dass Bernd öfter Texte ins italienische übersetzen ließ und zu der Zeit, als er ihm anbot, diese Arbeiten für einen Sondertarif zu übernehmen, war er seine einzige Hoffnung gewesen. Er erinnerte sich noch genau, wie er vorsichtig das Thema ansprach und Bernd, der zunächst nicht wusste, worauf er hinaus wollte langsam zu verstehen begann. Bernd stimmte nicht sofort zu, aber schließlich ließ er ihm zwei Tage später einen Auftrag zukommen. Sobald Johannes vor Augen hatte, was er übersetzen sollte, wusste er, dass es schwer werden würde. Er verstand das Zögern seines Freundes, denn ein Fehler bei der Übersetzung hätte für beide das Ende bedeuten können. Aber Bernd war das Risiko eingegangen, Johannes zu Liebe. Was also sollte er Bernd sagen? Und wie sollte er es ihm sagen? „Tut mir leid mein Freund. Ich brauche Deine Aufträge nicht mehr. Such Dir doch Jemand anderen.“ So herzlos konnte er nicht ihm umgehen. Auf der anderen Seite war es ihm beinahe unmöglich noch weitere Aufträge anzunehmen, außer er würde abends bis weit nach acht Uhr arbeiten. Er grübelte, blickte auf seinen Monitor und zuckte zusammen, als er die Zeitanzeige rechts unten sah. „Scheiße,“ , fluchte er, „jetzt sitz ich tatsächlich schon eine halbe Stunde rum und hab nix neues übersetzt. Wenn ich so weiter mache sitze ich demnächst noch um Mitternacht da!“ Er verdrängte das Problem Bernd und las bis Viertel vor 12:00 Uhr den italienischen Originaltext seines nächsten Auftrages durch. Dann erhob er sich mit einem tiefen Atemzug und verließ seine Wohnung in Richtung Griechen. Johannes öffnete die Tür zum Restaurant und sah Bernd schon an ihrem Stammplatz sitzen. Aber er war nicht alleine gekommen. Er unterhielt sich mit einem Mann, der Johannes den Rücken zukehrte. Johannes runzelte fragend die Stirn und ging auf die beiden zu.
„Oh, hallo Johannes, da bist Du ja,“ , sagte Bernd, „darf ich Dir Dirk Schuster vorstellen? Er, äh, er ist ein neuer Mitarbeiter von mir.“ Johannes blickte seinen Freund fragend an. Er konnte sich nicht erinnern, dass Bernd jemals mit seinen Neueinstellungen Mittag essen gegangen war. „Er, er ist Übersetzer und Handelsrecht ist sein Spezialgebiet.“, sagte Bernd mit angehaltenem Atem und fügte sofort hinzu: „ich weiß Johannes, ich hätte es Dir schon viel früher sagen sollen. Ich wollte auch immer, aber ich wusste nicht wie. Versteh mich jetzt bitte nicht falsch. Deine Übersetzungen waren immer einwandfrei, aber in Zukunft wird sich die Zahl der Übersetzungen wahrscheinlich verdoppeln und du musst auch zugeben, dass Handelsrecht nicht gerade Dein Spezialgebiet ist. Auf Dauer hättest Du das Pensum gar nicht mehr erledigen können. Und eigentlich brummt es doch bei Dir schon seit einer Weile und Du brauchst mich gar nicht mehr als Auftraggeber, oder? Also bitte, sei mir nicht böse. Ich zahle auch das nächste halbe Jahr die Rechnungen beim Griechen.“ Johannes hatte sich bemüht während des Vortrages seines Freundes gefasst zu bleiben und hatte ihn ernst angesehen. Jetzt erlaubte er sich ein kleines Lächeln und sagte: „ein halbes Jahr essen umsonst? Abgemacht!“
s.u.bart ist:
1965 in Esslingen am Neckar geboren;
gelernte Sparkassenkauffrau (Kreissparkasse Hannover);
M.A. Ethnologie und Politische Wissenschaften (Universität Hamburg);
verschiedenen Broterwerbstätigkeiten nachgegangen;
zur Zeit Rikschafahrerin;
Spaziergängerin;
Einer der letzten Tage der Saison in Berlin. Rasend schöner Herbst. Zweite Oktoberwoche schon und immer noch warm in der Sonne und ein Licht, so schön, dass es weh tut. Um vier oder halb fünf oder was dazwischen hat die Rikschafahrerin keine Lust mehr und fährt vom Pariser Platz aus durchs Brandenburger Tor rechts rauf an der Ostseite des Reichstags vorbei auf die Spree zu. Wendet sich an der Kante rechts, kurzes Stück, macht ein U, rollt die Rampe ans gepflasterte Flussufer runter, macht einen flachen Bogen um spazierende Touristen, lässt leise bremsend ausrollen an der verglasten Kantine mit den bunten Lampen unten im Paul-Löbe-Haus vorbei. Beginnt wieder zu treten kurz vor dem Abgeordneten-Kindergarten und nimmt dann nicht die Rampe nach oben zu diesem Aussichtspunkt, der überhaupt nicht wie ein Aussichtspunkt aussieht, der aber einer ist, von dem aus man alles sehen kann: Zirkelpanorama. Also den Aussichtspunkt nimmt sie nicht. Sie bleibt unten am Fluss, noch ein kleines Stück weiter, Ludwig Erhard Ufer. Alles neu angelegt, sau gepflegt, Regierungsviertel eben. Die Rikschafahrerin hält an, steigt ab, macht die Bremsen fest, nimmt Wasserflasche, Kekse und Decke und setzt sich auf die Steinstufen im Rasen. Die Decke aber untern Hintern, ohne ist es schon zu kalt. Sonne aufm Rücken. Erst mal ein Kippchen. Die Rikschafahrerin bin ich.
Da ist was los aufm Wasser. Eins nachm andern, so rum und so rum, beide Richtungen. Das hab ich noch nie bemerkt, wie unterschiedlich die Boote sind und wie irre gut manche von ihnen aussehen. Alte James Bond Filme. Es wird gearbeitet. Touristen arbeiten ihr touristisches Pflichtprogramm ab, Schiffer fahrn, Stadtführer sabbeln, Fleiß fließt, und ich kann einfach so sitzen und der Zeit beim Vergehen zuschaun. Ganz große Kulisse hier: die Brücke über der Einfahrt zum Humboldthafen, die Spree, der riesen blaue Himmel, der Glastunnel des Lehrter Bahnhofs, neun Kräne dabei, neun!, und alles in dem Licht, das so schön ist, dass es weh tut. Und nachdem ich ein dreiviertel Stündchen, das sich anfühlte wie anderthalb, so gesessen und die Schönheit in mich aufgesogen habe, zieht in meinen Gedanken noch mal die ganze Saison vorüber.
Wie mir der Job doch auf die Nerven geht, Kunden und Kollegen sind manchmal nicht auszuhalten. Ewiges Gedöns wegen des Dritte Welt Gefühls, das Touristen beim Anblick von Rikschas haben, aber dann zu teuer und in Thailand kost das bloß ein paar Pfennich. Wie ich erst Anfang Mai habe anfangen können und mir das ganze Ostergeschäft entgangen ist. Und wie die Saison dann gelaufen ist, Tag für Tag auf der Straße, und wie alle gestöhnt und geflucht haben, weil die Umsätze so runter gegangen sind, das reicht ja grad mal für ein Rosinenbrötchen vom Vortag, weil es immer mehr Rikschas auf der Straße gibt und wie dann auch noch das Wetter so schlecht war. Ein Fiasko. Der Mai, die erste Hälfte eiskalt und batschnass, der Juni, der Juli, der August, das nicht aufhörende Warten auf den richtigen Sommer, aber nächste Woche solls besser, und die ganzen Baustellen immer mit dem Lärm.
Aber Malte. Wie Malte jedes Mal, wenn er angefahren kam, und ich an einem Standplatz Thomas Mann lesend in der Rikscha saß, wie Malte also jedes Mal fragend die Augenbrauen hochzog und fragte, Thomas Mann?, wo ich doch seit vorletzter Saison schon (seit zwei Jahren!) wirklich nichts anderes las als Thomas Mann, und wie ich dann einmal, extra nur für Malte, ein Buch mitnahm, das nicht von Thomas Mann war, und auch so tat, als lese ich darin, und als dann Malte angefahren kam, als er fragend seine Augenbrauen hochzog und fragte, Thomas Mann?, wie ich dann sagte, heute nicht, und gelangweilt das Buch hochhielt, damit er selber sehen konnte, was ich las, und wie ich dann noch hinterher warf, ach übrigens, falls ichs dir noch nicht gesagt hab, Thomas Mann ist doch der Größte, und er antwortete, ach ja, gut, dass du’s noch mal gesagt hast. Und wie es letztlich doch das einzig Wahre ist, jeden Tag draußen zu sein und keinen Chef zu haben. Und wie in Wirklichkeit gar nicht bloß Malte, sondern auch viele andere Kollegen knorke sind. Und sogar Kunden. Dieser französische Bankmanager zum Beispiel (ein Banker!, wer hätte das gedacht), der an einem turbulenten Tag zu mir kam und so was Tröstendes verströmte wie die Engel in „Der Himmel über Berlin“, so dass mein Fahrzeug plötzlich dahinglitt wie in einer Blase und der ganze Trubel mir nichts mehr anhaben konnte. Wie ich mit dem ein bisschen sprach und ein Weilchen schwieg, und es war so friedlich, und wie er sofort alles sah und verstand und fragte, schreiben Sie?
Und dann denk ich so zwischen die Saisongedanken rein, die Schönheit hier, denkt ich, für die ich auch ein bisschen frier, ach, geht die mir ans Herz. Die Schönheit ist auch, dass ich sie einfach so haben kann, weil ich Lust daran habe. Unbezahlbar, diese Lust und diese Schönheit, und jetzt bad ich meine Augen in dem Himmelsblau, und dann geh ich vielleicht doch irgendwann los. Ein Kippchen noch, ein extra langsames. Die Kekse sind alle. Die Schatten werden länger. Im Westen lässt das schmerzhaft schöne Licht einen rosa Schimmer ahnen, einen Hauch nur, und die beiden Frauen dort stehen auf und gehen. Ich werd einfach reinfahren. Schluss machen. Morgen arbeite ich nicht mehr und übermorgen auch nicht. Ich lass es so wie es ist, ist es gut. Ich stehe auf, packe die Sachen ein, löse die Bremsen und fahre los. Gleich ganz einschlagen, drehen und zurück. Ob ich noch mal zu dem Aussichtspunkt rauf?, ach nö, zu anstrengend. Also vorbei am Abgeordneten-Kindergarten und an der Kantine mit den bunten Lampen unten im Paul-Löbe-Haus, die Rampe rauf, am Reichstag vorbei, durchs Tor und die Linden runter Richtung Garage. Stell die Rikscha rein, schließ ab und geh nach Hause.
1976 in Freising geboren; erste Schritte in München
1993 Mittlere Reife (Wertingen); Praktikum in einem Grafikbüro (Augsburg)
1994 Erste (einer mehrmaligen) Teilnahme am Symposion Weissenseifen (Eifel) mit Schwerpunkt Zeichnung und Malerei, Bildhauerei, sowie Literatur
1995 Steinmetzlehre (Mertingen); parallel dazu erste Ausstellungen freier Malerei
2000 Ausbildung in Heilerziehungspflege (Herzogsägmühle)
2003 Soziales Filmprojekt mit der Regiestudentin Julia Aigner (München)
2004 Kamerabühnenpraktikum beim ndF (München); erster Drehbuchentwurf nach einer bislang unveröffentlichten Erzählung; Bilderserie mit Textsequenz
2007 Überarbeitung eines ersten „psychosophischen“ Romans über „Grenzen“
Bis dato: Zwei Kinderbücher vorhanden, mehrere Kurzgeschichten und Roman/ Drehbuch in Bearbeitung, bislang noch keine literarischen Veröffentlichungen.
Eines Tages erhielt ich einen Brief folgenden Wortlauts: Bei der Prüfung Ihres Antrags ist uns ein kleiner Fehler unterlaufen. Uns ist bedauerlicherweise gar nicht bekannt, dass Sie je gearbeitet haben. Deshalb ziehen wir unsere Leistungen für die Zukunft zurück. Sie haben eigentlich zu unrecht Geld von uns erhalten. Bitte zahlen Sie die von uns irrtümlich ausgehändigten Zahlungen in Höhe von 8.145 Euro und 82 Cent umgehend an uns zurück. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Ein paar Tage später fand ich einen weiteren Schrieb im Briefkasten: Uns ist im Grunde – nach eingehender Prüfung – nicht ersichtlich, dass Sie überhaupt existieren. In ein paar Tagen werden Sie des Landes verwiesen werden. Sie brauchen nichts weiter zu tun.
„Willkommen an Bord der … Ich bin Ihr Kapitän … und darf Sie auf Ihrem Flug nach Nirgendwo recht herzlich begrüßen. Ich bitte Sie um ihr Verständnis, dass wir im Moment die Fluggeschwindigkeit auf Null Meilen pro Stunde reduziert haben. Das ist die Pausetaste sozusagen. Wir fliegen zwar nach wie vor, drehen uns aber derzeit aufgrund mangelndem Auftrieb ausschließlich im Kreis. Please hold the line. Willkommen an Bord der … Ich bin ihr Kapitän … und darf Sie auf ihrem Flug …“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich darüber eingeschlafen bin und das Folgende nur geträumt habe, oder auch nicht: Jedenfalls traute ich meinen Augen nicht, als auf den beiden freien Plätzen neben mir ein großer, dicker Bär sich daran machte, Platz zu nehmen. Ich war überrascht, wie höflich er war. Entgegen meiner Befürchtung, dass er sich jeden Moment zu mir hinüberbeugen könne, um sein gefräßiges Maul über meinem Kopf aufzureißen, lockerte er seine Krawatte und legte sich entspannt zurück. Er fragte mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er einen kleinen Snack zu sich nehmen würde, da ihm schon hier und da Beschwerden zu Ohren gekommen wären, wegen angeblicher Schmatzgeräusche, die seinen Essvorgang begleiten würden und wollte außerdem wissen, warum Bären keine Zahnpasta mit an Bord nehmen dürften. Ich erwiderte, dass es mich natürlich nicht störe, wenn er einen Snack zu sich nehmen würde und klärte ihn darüber auf, dass es auch meiner Gattung nicht mehr erlaubt sei, Getränke und Zahnpasta im Handgepäck mitzuführen, wegen dem Terrorismus. „Oh ja, der Tourismus, ganz schlimm, ganz schlimm, hab davon gehört,“ meinte der gepflegte Bär und holte eine Packung Zimtsterne hervor. Er fasste mit der Hand hinein, wobei er wahrscheinlich jede Menge Feinstaub aufwirbelte und zeigte mir seine, in der Packung mitgeschmuggelte, Zahnpastatube. Donnerwetter, dachte ich. Damit war ich wohl der höchsten Gefahrenstufe ausgesetzt, die überhaupt möglich war. Zuletzt trug er noch die Vogelgrippe mit sich herum. Es war nicht leicht für mich, ganz still auf meinem Platz zu verharren. Als er mir dann noch einen Zimtstern anbot, aß ich diesen todesmutig und dachte: Was kann mir jetzt noch passieren?
„Sind Sie auch arbeitslos?“ fragte der Bär. „Nein, nein, … Hartz 4“, sagte ich. „Ach so, ja dann“, sagte der Bär. „Ach sagen wir doch Du zueinander, ich bin Bruno, angenehm.“ „Bruno?“ fragte ich entsetzt, „dachte, Du bist tot?“ „Nein, nein, war ein Irrtum. Ich trug eine schusssichere Weste?“ „Am Kopf?“ „Ja, auch.“ „Aha.“ „Willst Du bei mir einsteigen?“ fragte Bruno und blinzelte.“ „Wie, wo?“ fragte ich. „Ins Geschäft.“ „In welches Geschäft?“ „Waffelhandel.“ „Ach je,“ seufzte ich und schrumpfte in meinen Sitz hinein. „Waffenhandel? Im Ernst? Für wen halten Sie, äh, hältst Du mich? Ich tauge nicht mal zum Hartz 4 – Betrüger.“ „Nein, nein, Du hast mich wohl falsch verstanden. Ich sagte Waffelhandel, nicht Waffenhandel. Ich handle mit Waffeln aller Art. Ein wirklich lukratives Geschäft. Es funktioniert ganz einfach: Du backst eine Waffel, gibst die Hälfte davon mir, die andere Hälfte isst Du selbst, dann bist Du schon mal satt. Ich stelle Dir dafür mein Waffeleisen, Eier, Mehl und Unterkunft zur Verfügung. Wenn wir beide satt sind, verkaufst Du einfach alle weiteren Waffeln. Die Hälfte von der Kohle bekomme ich. Mit der Knete kaufe ich sämtliche Waffel-Fonds der Konkurrenz auf. Dann machen wir sie platt und schmeißen die Mitarbeiter raus. Toll, oder? Die Leute werden sich in die Hose scheißen vor lauter Bewaffelung. Das nenn ich Kloballisierung. Was heißt: Fressen, Scheißen, Fußball! Toll, oder?“ Der Bär fing an zu lachen und er lachte und lachte immer lauter und noch lauter und das Flugzeug geriet dabei ins Wanken.
Ohne Zweifel befand es sich – gegen meinen Willen – im Begriff, abzustürzen … bis ich nach einem harten Aufschlag, schweißgebadet, neben dem Bett erwachte. Immer noch schellte der Alarmton in meinem Ohr . Nein, es war das tatsächliche Klingeln des Telefons. Leicht orientierungslos – weil so jäh aus dem Schlaf gerissen – stolperte ich zum Telefonapparat und riss den Hörer von der Schale „Hallo?“ „Willkommen an Bord der Arge Noah. Ich bin Ihr Kapitän Peter Hartz und darf Sie auf dem Abstellgleis recht herzlich begrüssen. Ich bitte Sie um ihr Verständnis, dass wir im Moment die Vermittlungsgeschwindigkeit auf Null Stellen pro Kunde reduziert haben. Das ist die Pausetaste sozusagen. Sie drehen sich zwar nach wie vor im Kreis, fliegen aber derzeit trotz mangelnder Initiativen aus der Statistik. Please hold the line.“
Mary West lebt seit 1977 in Schleswig-Holstein und arbeitet im Bereich der Pflege. Seit etwa 2001 verfaßt sie meist lyrische Texte. In der Zwischenzeit hat sie bereits eine Reihe von Texten veröffentlicht.
Zerrissen
als Pflegekraft
zwischen Bewohner und Etat
Zerrissen
vom Zwiespalt
zwischen Liebe und Frust
Zerrissen
trotz Engagement
durch tiefste Enttäuschungen
Zerrissen
bis ins Innerste
Wo bleibt das Ethos
Zerrissen
in Gedanken an mein Alter –
Wer pflegt mich später?
Zerrissen
die armen Alten
Die Pflegeberufe sind ausgestorben
1 Gedanke zu „Weitere Beiträge“