Würdigungspreise

11. bis 15. Platz des Literaturpreises „Der Duft des Doppelpunktes“ – erste Wettbewerbsstufe

Auf Grund der vielen ausgezeichneten Beiträge haben wir uns entschlossen, neben den zehn Hauptpreisen, fünf Würdigungspreise zu vergeben. Zu diesem Zweck erhielt jedes Jury-Mitglied einen „Joker“, d.h. jede/r durfte einen Text „außer Konkurrenz“ (das heißt ohne Teilnahme an der zweiten Stufe) auswählen. Diese AutorInnen werden mit ihrem Beitrag ebenfalls in der Anthologie vertreten sein.

Sämtliche Rechte am Werk verbleiben beim Autor, bei der Autorin. Die LiteratInnen haben der Veröffentlichung der nachfolgenden Texte im Literaturblog „Duftender Doppelpunkt“ und in der virtuellen Wohnung von Petra Öllinger zugestimmt. Diese kann jederzeit vom Autor / von der Autorin widerrufen werden.

Der Verlauf des Wettbewerbs
Entscheidung der Jury
Die Biographien aller AkteurInnen
Die 10 PreisträgerInnen der 1. Wettbewerbsstufe
Weitere Beiträge von TeilnehmerInnen der 1.Wettbewerbsstufe
SponsorInnen und UnterstützerInnen

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Die Texte und Biographien der WürdigungspreisträgerInnen

Christoph Aistleitner – Biografie
Christoph Aistleitner – Der Wolfsmann

Susanne Gregor – Biografie
Susanne Gregor – Maschinenlärm

Sylvia Günther – Biografie
Sylvia Günther – Teamwork

Lisa Neumeier – Biografie
Lisa Neumeier – Pflege

Marcela Vseticková – Biografie
Marcela Vseticková – Mein Arbeitstag beginnt – aus dem Leben einer Bibliothekarin

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Christoph Aistleitner

Christoph Aistleitner, geboren am 25.2.1982 in Linz, hat unlängst sein Mathematikstudium abgeschlossen und ist nun als Wissenschaftler an der TU Graz tätig. Er interessiert sich für Architektur und Biologie und verehrt Cechov, Maupassant und Carl Barks. Etwa 20 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, diverse kleinere Preise. Details siehe Homepage.

Christoph Aistleitner – Der Wolfsmann

An einem Dienstagmorgen hatte der Wolfsmann überraschend seine Arbeit verloren. Daraufhin streifte er müde durch die nebelverhangenen Straßen. Die Leute wiesen mit Fingern auf ihn und lachten.

Viel hatte der Wolfsmann aufgewendet, um im Zirkus Aufnahme finden zu können. Er hatte sich die Gesichtshaut tätowieren lassen, und Barthaare aus Fiberglas wurden seinen Oberlippen eingestochen. Die Zähne wurden spitz geschliffen, und in den ersten Tagen biss sich der Wolfmann selbst den Mund blutig. Die Ohren wurden kantig geformt, und die Fingernägel zu langen Krallen gestaltet. So war der Wolfsmann im Zirkus erschienen, und man hatte ihn willkommen geheißen und ein Fest gefeiert und getanzt und gesungen.

Viele Jahre war der Wolfsmann mit dem Zirkus durch die Lande gereist. Die Menschen hatten ihn geachtet und gefürchtet, und sie hatten geklatscht und gejubelt. Der Wolfsmann hatte schöne Jahre verbracht, er war glücklich gewesen, und er hatte mit der Eidechsenfrau ein harmonisches Zusammenleben gepflegt. Dann aber wurde er gekündigt.

Mit tränenden Augen ging der Wolfsmann durch die Stadt. Sie schien ihm grau und leer. Er begab sich in eine Kellerkneipe und betrank sich unmäßig. Als er morgens erwachte, fand er sich mit ausgeschlagenen Zähnen und bar allen Geldes im Gartenpavillon des hiesigen Stadtparks. Neben ihm lag eine jugendliche Heroinsüchtige, die noch schlief oder bereits tot war. Der Wolfmann erhob sich mit schmerzenden Gliedern und ging nach Hause.

„Was“, sagte der Herr Doktor Doktor Garbe, „was sind denn Ihre Qualifikationen?“
„Meine Qualifikationen“, erwiderte der Wolfsmann, „sind die folgenden: Ich kann finster blicken und die Zähne fletschen, ich kann Angst verbreiten im Volk und Schrecken, ich kann brüllen und jaulen und die Krallen spreizen.“
„Danke“, sagte darauf Doktor Doktor Garbe, „all das ist jetzt nicht mehr gefragt. Soft skills sind heut von Nutzen“, und beendete damit das Einstellungsgespräch.

Der Wolfsmann versuchte vieles mehr. Er bewarb sich als Bediensteter der öffentlichen Verkehrsbetriebe.
„Wie kann man“, fragte ein Abgeordneter der hiesigen populistischen Partei, „einen Dunkelhäutigen des Busfahrens für fähig befinden?“
„Das ist keine dunkle Haut“, erwiderte der Wolfsmann, „das ist eine Tätowierung.“
„Noch schlimmer“, sagte darauf der Abgeordnete der hiesigen populistischen Partei und beendete damit das Gespräch.

Er bewarb sich als Kindergärtner.
„Wie kann man“, fragte eine besorgte Mutter, „wie kann man jemanden mit spitzen Zähnen, mit Klauen und dergleichen mehr mit der Leitung eines Kindergartens betrauen?“
„Die Kinder mögen mich“, antwortete der Wolfsmann.
„Noch schlimmer“, sagte darauf die besorgte Mutter, und beendete somit das Gespräch.

Der Wolfsmann musste aus seiner Wohnung ausziehen. Er musste hungernd und heulend durch die Straßen huschen, und die Leute wiesen mit Fingern auf ihn und lachten und ließen ihn an Zeiten denken, in denen sie ihn bejubelt hatten und ihm Kusshände zugeworfen und ihn in ihre Häuser eingeladen und mit seiner Bekanntschaft geprahlt. Müde ging er durch die Straßen und weinte und die Tränen glitten an den Schnurrbarthaaren aus Fiberglas entlang und verfingen sich im dichten Pelz, den er am Körper trug, und froren und stürzten als Eiszapfen zu Boden und zerschellten mit hellem Klang.

All dies hatte sich vor etwa einem Jahr ereignet. Vor kurzem aber traf ich den Wolfsmann in der Stadt. Er versicherte mir, dass es ihm jetzt besser gehe, und dass er auf bestem Wege sei wieder ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Er hätte wieder eine Wohnung jetzt, sagte er, und mit dem Trinken aufgehört, und er hätte Arbeit gefunden in der Kartonagenfabrik. Es gehe ihm sehr gut jetzt, sagte er, es gehe ihm wirklich sehr gut.

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Susanne Gregor

Gregor, Susanne: geboren 1981 in Zilina, Slowakei, lebt seit 1990 in Österreich. Sie studierte Germanistik und Publizistik an der Universität Salzburg und unterrichtete dann Deutsch, u.a. in Budapest und an der Universität New Orleans. Seit 2005 lebt sie in Wien, unterrichtet Deutsch als Fremdsprache und engagiert sich ehrenamtlich für die Caritas. Das Schreiben hat sie immer schon begleitet; „Maschinenlärm“ ist die erste veröffentlichte Kurzgeschichte.

Kontakt Susanne Gregor

Susanne Gregor – Maschinenlärm

Sie hatte alles Vieh nach Hause getrieben und klopfte einem Rind auf den Rücken. Vor dem Stall tauschte sie die Gummistiefel gegen Holzpantoffeln. Am Tisch stand eine Suppe aus Innereien und über der Bank hing der gekreuzigte Jesus. Sie holte etwas Brot und ein Glas Milch aus der Kammer. Das Schmatzen ihres Bruders hatte in ihren Ohren ein Echo. Sie drückte ihre Fingerspitzen gegen die Krümmeln auf der Tischdecke, damit sie kleben blieben. Nach dem Abendessen strich der Vater seinen Schnurrbart zurecht und sagte du musst dir eine Arbeit suchen. Er sagte es, als sage er, die Erde ist braun. In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen. Sie zog die Vorhänge zu und doch sah sie, wie der Mond sie auslachte.

Am nächsten Tag saß Tante Angela am Tisch und schnaufte. Ich bin über den Hügel vom Meiereder herübergelaufen, hechelte sie ihr ins Gesicht. Du kannst beim Weiniger arbeiten, ich hab ein gutes Wort für dich eingelegt, sagte sie und klopfte ihren Löffel am Tassenrand ab. Die Mutter schlug die Hände vor der Brust zusammen, mach mir keine Schande, Kind!
Der Vater nahm den Hut vom Haken und zog die Stiefel an. Es war also beschlossen.

Am nächsten Morgen zog sie ihr gutes Gewand aus dem Schrank. Die Mutter stand in der Ecke und sah ihr wortlos zu. An der Tür drückte sie ihr ein Stück Brot in die Jackentasche.
Der Mond stand noch immer klar am Himmel und lachte.

Sie bekam eine blaue Weste mit gelber Aufschrift am Rücken. Am Klo sah sie sich damit lange im Spiegel an. Eine dicke Frau erklärte ihr den Arbeitsablauf. Aus ihrer Weste quoll saurer Schweißgeruch. Nimm die Hüllen vom Fließband und schlichte sie in die Schachtel. Es müssen 340 sein. Verzähl dich nicht. Immer 340. Wenn die Schachtel voll ist, verschließt du sie. So. Und dann reichst du sie auf die andere Seite. Sie begann und die dicke Frau blieb mit verschränkten Armen hinter ihr stehen. Die Uhr über ihren Köpfen zeigte 6 Uhr.
Die kleinen Hüllen waren kaum größer als ihr kleiner Finger. Gern hätte sie gewusst, wofür sie waren. 340 in eine Schachtel. Sie zählte langsam und sorgfältig. Die dicke Frau zählte mit.

Um halb zehn hielt das Fließband an und sie holte ihr Brot aus der Tasche. Alle anderen gingen die Treppe hinauf. Als sie zurückkamen und sie noch an ihrem Brot kaute, lachten sie. Morgen würde sie auch die Treppen hinaufgehen.

Als sie am Abend nach Hause kam, war das Vieh schon im Stall. In der Küche waren die Fenster beschlagen und der Tisch schon gedeckt. Die Mutter stand mit hinaufgekrempelten Ärmeln am Herd.Trags dem Vater zu Tisch. Der Vater setzte sich, dass die Bank unter ihm krachte. Hat dich jemand geschimpft? Fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

In der Nacht hatte sie immer noch den Maschinenlärm in den Ohren. Sie zog sich die Decke über den Kopf und konnte dennoch nicht schlafen.

Am nächsten Tag war die dicke Frau nicht mehr bei ihr. Sie kam aber später ab und zu vorbei und stellte sich für eine Weile hinter sie. Sie wusste immer schon am Geruch, wenn sie hinter ihr stand. 340 in eine Schachtel. Verzähl dich nicht. Als das Fließband stehen blieb, eilte sie mit gesenktem Kopf die Stufen hinauf. Die anderen flüsterten trotzdem. Oben war ein großer Speisesaal mit Holztischen und Bänken. Sie bekam ein Tablett mit Teller in die Hand gedrückt und stellte sich an. Aus einem Loch in der Wand kam ein Schöpflöffel und ein paar Knödel fielen auf ihren Teller. Alle saßen in kleinen Gruppen an Tischen zusammen. Sie setze sich an einen kleinen Tisch ans Fenster. Die Knödel waren hart aber sie hatte großen Hunger. Mit vollem Mund sah sie die anderen an, aber sie sahen immer weg. Vom Fenster aus konnte man ins gegenüberliegende Gebäude sehen, wo Sekretärinnen fein angezogen auf Schreibmaschinen tippten. Auch sie sahen weg. Zwischen den zwei Dächern war ein Stück Himmel eingeklemmt. Sie sah hinein wie in einen Brunnen. Als sie wieder zu den Knödeln sah, saß an ihrem Tisch ein Mann. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Sie kauten an den Knödeln. Als er fertig war, lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er lächelte. Seine Brille saß wie Wagenräder auf seiner Nase. Dann trug sie ihr Tablett weg und ging zurück zum Fließband. Es rollte noch stundenlang weiter.

Vater und Mutter saßen schon am Tisch, als sie die Haustür hinter sich schloss. Sie holte sich einen Teller und setzte sich zu ihnen. Der Vater streckte die Hand aus und sie legte die paar zerknitterten Geldscheine hinein, die ihr die dicke Frau heute gegeben hatte. Er strich sie mit seiner großen Hand glatt und schob sie in seine Jacke. Hat man dich geschimpft? Fragte er wieder. Sie schüttelte den Kopf.
Ihr Bruder betrat mit großem Krach die Küche. So eine Saukälte! Sogar die Kühe sind froh, wenns im Stall sind! Die Mutter richtete ihm einen Teller an und er lachte.

Der nächste Morgen kam genauso unerwartet wie die vorangegangenen. Das Fließband brachte die Hüllen. In der Mittagspause saß sie am gleichen Tisch und beobachtete die Sekretärinnen. Die mussten sicher nicht jeden Tag bis 340 zählen. Dann kam wieder der gleiche Mann und setzte sich zu ihr. Die anderen sahen zu ihnen hinüber. Sie sah lieber nicht vom Teller auf. Es war ja nicht ihre Schuld. Als sie satt war, schob sie die Kartoffeln noch eine Weile von Seite zu Seite. Vielleicht hatte der Mann ja etwas zu sagen. Aber er schwieg.
Am Fließband sah sie die anderen zusammen sprechen und lachen. Als sie lächelte, sahen sie weg. Die dicke Frau sah sie nur noch abends, wenn sie das Geld bekam.

Der Vater wartete schon mit seiner offenen Hand. Der Bruder saß am Tisch und schmatzte. Ich hab gehört du hast einen Freund. Er lachte, dass man die zerkaute Wurst in seinem Mund sehen konnte. Der Vater sah vom Teller auf. Das ist nicht wahr! Rief sie. Die Mutter begann zu weinen. Mach mir keine Schande, Kind! Der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch und die Mutter schluchzte nur noch ganz leise in die Schürze.

In der Nacht schlief sie mit offenem Fenster. Manchmal hörte sie durch den Maschinenlärm die Kälber schreien.

Als sie am nächsten Tag zum Fließband kam, warteten die Schachteln schon geöffnet auf ihrem Platz. Jemand hatte sie vorbereitet. Vielleicht die dicke Frau. Sie hoffte, das Fließband würde an diesem Tag nicht stoppen. Als es halb zehn wurde, blieb es natürlich trotzdem stehen. Zögerlich stieg sie als letzte die Stufen hinauf. Es gab Leberkäse. Vorsichtshalber setzte sie sich an einen anderen Tisch. Obwohl ihr die Aussicht fehlte. Sie saß in der Mitte des Raums und konnte hören, wie die anderen über sie sprachen. Sie schnitt den Leberkäse in kleine Teile und strich ihn durch das Öl. Da saß er plötzlich wieder vor ihr. Ich habe gehört, du hast heute Geburtstag. Sagte er. Und während sie noch überlegte, woher er das wohl wusste, drückte er ihr plötzlich einen ölverschmierten Kuss auf. Vor Schreck
glitt ihr Besteck aus der Hand und alle lachten.

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Sylvia Günther

Geboren 1958 in Thüringen. 1977 Abitur in Rostock. Studium der Germanistik und Anglistik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und Humboldt-Universität zu Berlin, Abschluß mit Diplom. Tätigkeiten an der Universität, Kulturbereich, Gesundheitswesen, Übersetzerin sowie im Medienbereich. Verheiratet, 2 Kinder, Familienpause. Schreibe eigentlich überwiegend Gedichte. Kleine Gruppenlesungen. Veröffentlichungen in Untergrundlyrikheften der DDR, auch im Acheron-Verlag mit einem Gedicht-Beitrag zum best german underground lyrics 2005 (Am Ende…).

Kontakt Sylvia Günther

Sylvia Günther – Teamwork

Am 21. März küßte ich Verena Blum. Ihre Lippen schmeckten nach einem fremden Salz. Ich war irritiert, spürte sofort einen unmäßigen Hunger. Wir waren den halben Tag im Wald spazierengegangen. Die Sonne schien durch die Zweige der noch kahlen Bäume. Vögel begleiteten unser heiteres Gespräch mit ihrem Gezwitscher. Deutlich rochen wir den Frühling. Die Luft war wärmer als in den Tagen davor. Meine wattierte Jacke trug ich lässig über die Schultern gehängt. Sie war mit einer dünnen, grasgrünen Lederjacke bekleidet. Unter einer ebenso grasgrünen Lederkappe quoll ihr langes dunkles Haar in leichten Wellen hervor und fiel ihr ungebunden über die Schultern hinab. Zunächst befürchtete ich, daß ihr bald kalt werden würde. Doch mir war dann schnell warm geworden. Es war nicht, weil wir zu schnell liefen,
außerdem lief ich regelmäßig lange Strecken. Bummeln konnten wir allerdings auch nicht, denn die Kinder rannten wahrscheinlich den dreifachen Weg, versteckten sich, erschreckten sich, warfen sich sogar gegenseitig auf den weichen Waldboden. Es war nur zum Spaß. Wir sorgten uns nicht um die kindische Rempelei und beschäftigten uns miteinander. Ich hatte meinen Sohn mitgebracht. Er war ein Jahr älter und stärker als ihre beiden. Eigentlich lebte er bei seiner Mutter, doch heute war mein Tag mit ihm. Wochenende.

Verena war eine scheue Kollegin, der ich manchmal bei Tisch begegnet war. Als ich eine neue Arbeitsgruppe für die Einführung unserer Computersoftware bilden mußte, holte ich sie in mein Team. Das war kurz vor Weihnachten. Sie sprach kaum. Persönliches schien tabu für sie zu sein. Bald wußte ich auch, daß ich sie für Überstunden nicht einsetzen konnte. Sie mußte zu ihren Kindern. Jedesmal etwas anderes. Ich gab es schließlich auf, sie zu fragen. Sie machte ihre Sache gut, auch ohne Überstunden. Dann kam endlich ein Einsatz im nahen Ausland. Ein großer Auftrag für mehrere Tage. Ich wollte sie unbedingt dabei haben und teilte ihr meine Erwartung mit, daß sie eine Betreuung für ihre Kinder finde. Der Vater, vielleicht, legte ich ihr nahe. Weg, mehr sagte sie nicht, und: ich regele das.

Wir schliefen alle im selben Hotel und nach der Arbeit trafen wir uns an der Bar. Fast zufällig verbrachten wir dann einen ganzen Abend zusammen. Ich sah sie mit sehr ebenen Zähnen lachen, dabei ihr langes Haar nach hinten werfend. Mehr war leider nicht.

Sie gefiel mir. Ich lud sie einen Monat später zum Essen ein. Doch sie hatte keine Zeit. Keine Zeit hieß: es gab etwas Wichtigeres für sie als ein Abendessen mit mir. Seltsame Frau, dachte ich. Doch ich lud sie erneut ein, diesmal ins Kino. Leider hatte sie den Film schon gesehen. Ich verfolgte sie mit meinen Blicken, wann immer sie in meine Nähe kam. Ich suchte ihren Arbeitsplatz häufiger als alle anderen zusammen auf. Sie blieb unverändert freundlich, so daß ich sie fragte, ob wir vielleicht am Wochenende einen Ausflug machen könnten. Schwierig, sagte sie. Mehr nicht. Die Kinder nehmen wir mit, schlug ich vor und fügte schnell hinzu: Ich habe auch ein Kind. Es war Frühlingsanfang. Ein gutes Omen, dachte ich. Wir liefen durch den Wald, bis ich sie einfach küßte.

Ich habe sie seither noch oft geküßt und sie hat sich küssen lassen und auch noch mehr. In einem Team zu arbeiten war jedoch schwer, ich als Teamleiter und sie als Mitarbeiterin. Es gab Getuschel und vielsagende Blicke, bis ich sie bat, ihre Versetzung in eine andere Abteilung zu erwirken. Sie sagte: klar doch. und ging in ein anderes Team und nie wieder mit mir spazieren. Der Frühling war vorüber und der Sommer auch bald.

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Lisa Neumeier

Ich wurde am 14.02.1961 in Schwandorf, Bayern, geboren. Bin von Beruf Krankenschwester, bilde mich derzeit als Fachwirtin für Sozial- und Gesundheitswesen fort. Verheiratet seit 25 Jahren, 2 Söhne.
Ich schreibe schon seit meiner Jugend. Seit damals habe ich die Angewohnheit, alles, was mich beschäftigt, in Gedichtform niederzuschreiben. Dies ist meine Strategie, um meine Gedanken zu ordnen. So kann ich alle Probleme, Sorgen, aber auch Freuden besser einordnen und mich auch nach Jahren wieder damit identifizieren.

Im Internet: Wetterhexe

Lisa Neumeier – Pflege

Es ist bekannt,
dass man in der Pflege
die Mangelwirtschaft betreiben kann,
so gut und gründlich
wie in keinem anderen Bereich.
Denn immer wieder,
werden Pflegende pflegen
und zu Pflegende gepflegt werden,
selbst wenn die Kräfte schon längst
erschöpft,
die Kapazitäten schon längst
aufgebraucht sind.
Immer wieder
werden sich Pflegende finden,
mit Gewissen,
mit der inneren Kraft,
das Letzte aus sich herauszuholen
um einem Anspruch gerecht zu werden,
der ungerecht ist.
Einem Anspruch der nur daraus
resultiert,
dass die Pflegenden mehr Gewissen
haben,
als ihre Arbeitgeber.
Ein teuflischer Plan,
welch ein Verrat an Menschen
mit Gewissen.

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Marcela Vseticková

Geboren am 25.3.1977 in Olomouc (Olmütz). Nach der Volksschule folgte in den Jahren 1991 – 1995 Studium am Gymnasium in Prostejov (Prosnitz). 1995 – 2001 – Studium an der Masaryk-Universität in Brno (Brünn), Fach Geschichte – Archivwesen. 2001-2002 – Studium am Sprachinstitut „Lingua Centrum“ in Olomouc. Seit August 2002 Bibliothekarin der Universitätsbibliothek in Olomouc.

Kontakt Marcela Vseticková

Marcela Vseticková – Mein Arbeitstag beginnt – aus dem Leben einer Bibliothekarin

Als ich noch Schülerin war, haben meine Eltern immer zu mir gesagt: „Lerne, sonst wirst du als Melkerin arbeiten und die müssen wegen der Kühe um 3,30 Uhr aufstehen!“ Ich habe den Rat meiner Eltern befolgt. Ich habe akademische Ausbildung. Ich stehe morgens um 4 Uhr auf.

Morgen – 4 Uhr, mein Wecker schrillt. Ich schreie. Mein Arbeitstag beginnt. Nachdem ich den Wecker ausgeschaltet habe, klettere ich aus dem Bett, denn die Zeit läuft. Gerade weil die Zeit läuft, klettert unser Hund in mein Bett. Er wirft einen frechen Blick auf mich und dreht sich in eine bequeme Lage auf den Rücken. Ich bin verzweifelt. Ein paar Sekunden später schaue ich auf mein Bild in das Spiegel des Badezimmers. Ich bin verzweifelt. Nach 30 Minuten harter Arbeit verlasse ich das Badezimmer mit einem neuen Gesicht. Ich werfe etwas zum Essen in meine Tasche und gehe Richtung Bahnhof. Falls ich mit dem Make-up um 3 Minuten mehr verbracht habe, gehe ich nicht zum Bahnhof, sondern ich laufe.

Während der Zug fährt, höre ich den Gesprächen der Mitreisenden zu, sodass ich eine gute Vorstellung davon habe, wer zu Hause Streit hatte, wessen Chef ein Trottel ist, was für ein Wetter kommt und welche Fussballmannschaft gewonnen hat. Obwohl mich diese Neuigkeiten gar nicht interessieren, wehre ich mich nicht. Ich bin Bibliothekarin, die Informationen sind mein tägliches Brot. Ich steige aus dem Zug in der Stadt Prostejov aus. Bevor der nächste Zug fährt, der mich nach Olomouc bringt, habe ich etwa 10 Minuten Zeit. Ich stehe in der Bahnhofshalle unweit von der Bäckerei, betrachte das frisch gebackene Gebäck und atme tief ein. Man könnte sagen, ich frühstücke. Endlich kommt der Zug. Falls die Teenagers nicht mitfahren, setze ich mich bequem auf den unbequemen Sitzplatz und schlafe ein. Falls die Teenagers mitfahren, setze ich mich bequem auf den unbequemen Sitzplatz und bemühe ich mich intensiv
einzuschlafen. 3 Meter von mir entfernt sitzt ein Junge, Kopfhörer auf dem Kopf und hört Musik. Ich höre mit. Ich will es zwar nicht, aber ich muss, denn das Radio brüllt. Der Klang, den ich höre, erinnert mich an die Hammerschläge. Ein paar Minuten später nähere ich mich dem Wahnsinn. Der Zug fährt los, was mich rettet. Der brüllende Zug überbrüllt die brüllende Musik. Wie die richtige Atheistin sage ich zu mir: „Gott sei Dank“ und beginne zu relaxen. Der Schaffner kommt, er kontrolliert die Fahrkarten und wirft nur so hin, dass sich auf der Strecke eine Stelle befinde, die gerader repariert wird und dass die Reisenden aus diesem Grund einen Teil der Reise mit dem Bus absolvieren müssen. Ich vergesse meinen Atheismus und beginne wild zu beten. Es hilft nicht. Ich kehre zurück zum Atheismus. Auf der Haltestelle in der Mitte unserer Strecke steigen wir aus dem Zug aus. Die Busse, die auf uns schon warten sollten, sind nicht zu finden. Die Gruppe der Werktätigen beginnt zu nörgeln. Wir warten. Es passiert nichts. Wir warten. 10 Minuten später kommen die Busse. Die Laune ist euphorisch. Wir absolvieren die nächsten 5 Km im Buss. An dem nächsten Bahnhof steigen wir aus dem Buss aus. Wir kommen dorthin, wo wir den Zug erwarten. Der Zug ist nicht zu finden. Würde so etwas in Japan passieren, müsste die Regierung abdanken. Passiert es bei uns, werden die Fahrkarten teuerer.

Der Zug kommt gleich. Wir werfen die letzten Reste der Würde weg und drängen uns rücksichtlos herein. Die nächsten 10 Minuten geniesse ich die Reise wirklich. Am Bahnhof in Olomouc steige ich fast mit der Rührung und den Tränen in den Augen aus. Ich habe es geschafft. Ich bin dort, wo ich sein wollte, nämlich in der Stadt, wo ich arbeite.
Ich trete in die Bahnhofshalle ein. Zwei Polizisten beobachten mich mit strengen Blicken. Da ich keine Probleme haben möchte, gehe ich an den schlafenden Obdachlosen auf den Zehespitzen vorbei. Ich bleibe vor meinem Gebäckstand stehen, kaufe mir Frühstück und beeile mich in die Arbeit. Ich habe Verspätung. Na ja, Verkehrssperre.

In meinem Büro falle ich völlig erschöpft in den Sessel, aber ich bin glücklich. Das gewöhnliche Morgen-Abenteuer habe ich überlebt, zwar knapp, aber doch. Mit dem Anfang der Arbeitszeit beginnt ein neues Abenteuer – nämlich meine Arbeit. Das wäre aber schon eine andere Geschichte.

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