MULTATULI: „MAX HAVELAAR“

Er soll gelesen werden!

Eine Würdigung Multatulis (Eduard Douwes Dekker) und eine Rezension seines Buches „Max Havelaar“ von Peter Metz.

Keinen Romanhelden nehmen wir so oft in die Hand. Seit 1988 tragen Produkte aus fairem Handel das Max Havelaar Logo, und heute verkaufen nicht nur Dritt-Welt-Läden, sondern auch grosse Supermarktketten Bananen, Kaffee oder Orangensaft in seinem Namen. Nur ihn selbst, den Titelhelden des grössten Romans niederländischer Sprache, können wir seit 1996 nicht mehr in deutsch kaufen.
Auch jetzt, im 150. Jahr seines Erscheinens, planen die Verlage Ullstein und Manesse, von denen die letzten deutschen Ausgaben stammten, keine Wiederveröffentlichung.

Eduard Douwes Dekker quittierte den ostindischen Dienst, um sich in der Politik des Mutterlandes für die unterdrückten Untertanen des niederländischen Kolonialreiches einzusetzen, was ebenso erfolglos blieb wie seine vorherigen Bemühungen als Kolonialbeamter. Zum Aussenseiter und Geächteten geworden, schrieb Douwes Dekker auf Vorstellungen seiner Frau 1860 unter dem Pseudonym Multatuli in der Dachkammer eines Brüsseler Hotel innerhalb kürzester Zeit sein Erstlings- und Meisterwerk „Max Havelaar“.

Multatuli führt uns durch ein Labyrinth von Erzählpositionen: Batavus Droogstoppel, Kaffeehändler, begegnet in den Strassen Amsterdams dem völlig heruntergekommenen Max Havelaar und lässt sich von diesem einen grossen Packen Papiere aufdrängen, Aufzeichnungen seiner Erlebnisse in Niederländisch – Ostindien. Droogstoppel entschliesst sich, ganz entgegen seiner Gewohnheit, zwei Bögen Papier mehr zu bestellen, und beginnt, aus Havelaars Aufzeichnungen ein Buch zusammenzustellen, wobei er uns seine ganz persönliche Poetiktheorie, seine Verachtung des Versagers Havelaars und seine Selbstgefälligkeit als anständiges Mitglied der Gesellschaft und gläubiger Christ serviert – und Droogstoppel ist ohne Frage die komischste Figur dieses Buchs.

Weil das Romaneschreiben ihm aber zu mühsam wird, überlässt Droogstoppel den „Packen“ seinem jungen Praktikanten, Stern junior, damit der für ihn aus Sjaalmans Aufzeichnungen ein Buch über den Kaffeehandel schreibt.

Unter dessen Händen wird Max Havelaar zum Gutmenschen, der uns nach der Rede vor den Häuptlingen von Lebak als Humanitäts- und Aufklärungsimperialist, nach den endlosen Tischreden vor den übrigen niederländischen Beamten als Fantast und Schwätzer mit wilden Gedankensprüngen erscheint, ehe Stern eingesteht, er habe alle diese Reden aus Havelaars Aufzeichnungen kompiliert – und dies in einem schrecklich sentimentalen Stil. – Und so entlarvt jede Erzählung über Max Havelaar immer nur den Erzähler; die Erzählweisen sabotieren sich selbst, und wenn wir plötzlich glauben, in traditionellem Fahrwasser zu sein, wie in der Geschichte von Saidjah, seinem Büffel, und seiner grossen Liebe, die wie ein Märchen wirkt, werden wir in ein blutiges Kolonialmassaker geführt.

Endlich entzieht Multatuli allen seinen Erzählern das Wort. Dreimal ruft er aus: „Ik will gelezen worden. Ja, ik will gelezen worden! Ik will gelezen worden“, und er klagt in seinem furiosen Schlusswort die ganze Drogstoppelei und Kaffeehändlerschaft und den König der Niederlande an, und er klagt auch die heutige Brabeckerei an und deren unersättliche Gier und die Regierungen, die für freie Handelswege und „berechtigte Interessen“ heute Kriege führen.

Ja, er soll gelesen werden. Manesse und Ullstein planen nach entsprechenden Anfragen keine Neuauflage, Max Havelaar Schweiz hat den Rezenszenten auf seine Mailingliste gesetzt, aber eine ablehnende Antwort auf die Frage nach einer gesponserten Neuausgabe gegeben. Vielleicht braucht es noch mehr potentielle Leser, die sagen: Ja, er soll gelesen werden, Multatuli soll gelesen werden, Max Havelaar soll auch auf Deutsch gelesen werden!

In den Niederlanden liegen zurzeit mehrere Ausgaben vor, wovon je nach den persönlichen Kenntnissen des Niederländischen die Ausgabe von nrc-boeken in der Bearbeitung durch Gijsbert van Es (ISBN: 9789079985159 ) der kritischen Edition (Prometheus Groep, 2009; ISBN 13: 9789044614237 ) vorzuziehen ist.

Peter Metz

Cover Max Havelaar - Multatuli

Von und über Multatuli im Internet

Website des Multatuli-Museums in Amsterdam

Internationale Multatuli Gesellschaft Ingelheim

150 jaar Max Havelaar / 150 jaar Multatuli

LiberLey: MULTATULI (Eduard Douwes Dekker) – Texte im Internet und Sekundäres

Guttenberg.de: Eduard Douwes Dekker Multatuli – Texte im Internet

Max Havelaar oder Die Kaffee-Versteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft im Volltext (Übers. Karl Mitschke) bei Zeno.org

Max Havelaar oder oder Die Kaffee-Versteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft Online-Text, Project Gutenberg. (Übers. Wilhelm Spoor)

Max Havelaar – oder: Die Kaffee-Versteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft. Übertragung von Karl Mischke. Hendel Verlag, Halle a. d. Saale, o. J. [verm. 1900]

Max Havelaar, of de koffij-veilingen der Nederlandsche Handel-Maatschappij als freies Hörbuch (niederländisch) bei LibriVox

Google Bücher – Multatuli, das eigenartige Genie in „Moderne niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1830 – 1990“ von Herbert van Uffelen

Deutschlandradio: „Ein unglaublich emotionales politisches Pamphlet“ Leon de Winter über das vielschichtige Buch „Max Havelaar“

Held der Geschichte. Der Schriftsteller Multatuli ist einer der berühmten Vergessenen – In den Niederlanden wird er dieses Jahr groß gefeiert und fast täglich zur Auferstehung gebracht. Ein Beitrag von Andrea Grill im Standard v. 11. Juni 2010

Multatuli und ein Fundstück. Späte Wiederentdeckung eines antikolonialistischen Romanklassikers. Ein Beitrag von Wilfried W. Meyer. Erschienen in Kommune, Dezember 1995.

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