RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 8

VI Lichter

Diese Lichter nachts, überall, die machen mich ganz sentimental. Und ich frage mich, besonders wenn es draußen stockdunkel ist und die letzten Badegäste nach der Durchsage das Bad verlassen haben, während ich noch einmal eine letzte Kontrollrunde im Freien um die von den sanften Lichtkegeln der Scheinwerfer erleuchteten Becken drehe – liegt dort irgendetwas am Beckengrund? Hat irgendwer irgendetwas beim Schwimmen verloren? Dann suche ich noch ein letztes Mal den Boden der Edelstahlbecken ab, meine Augen wandern, scannen jeden Zentimeter ein, während ich immer wieder verzaubert innehalte und sich mein Blick für einen Augenblick in den geräuschlos tanzenden Luftblasen verliert, welche anmutig ruhig aus der Einströmleiste am Beckengrund aufsteigen. Ja, ich frage mich: Was mag am Grund des Ozeans verborgen sein, am Beckenboden der Weltmeere?

Der Schichtleiter meinte, dass er im Gegensatz zu mir keine Bedenken habe, Kunststücke vom 3-Meter-Turm zu vollbringen: „Ach je, wir ham so Sachen gemacht, seinerzeit. Wir sin aufn Dreimeterturm … und das war uns ja noch nich genug. Dann bin ich Klaus auf die Schultern gehockt und Gabi, damals Azubi, auf meine. Mein Gott … und dann sin ma noch auf ne Leiter gestiegen und alle mit Kopfsprung rein.“

Die Bremer Stadtmusikanten?

Am selben Abend erfuhr ich, dass man Kopfsprünge aus 120 Metern Höhe überleben könne, auch wenn er damit jetzt persönlich noch keine Erfahrungen gemacht habe und dass es Kakteen gibt, die über 40 Meter hoch wachsen würden. Mag sein, dass das stimmt. Was er aber am liebsten sagte und deswegen unentwegt wiederholte, war der Satz: „Das ist heut noch so..“ Die alte Fräs-Maschine, an der er vor 25 Jahren gearbeitet hatte „läuft heute noch“, ein unterirdischer Schwelbrand im Torf brennt seit Jahren unentwegt „… und selbstverständlich auch heute noch!“. Oder Vaters alter Trabband „1983 eigenhändig mit dem Taschenmesser repariert“, der heute noch „einwandfrei“ und „ohne Beanstandung“ fahre …

Herbst.

Auch wenn ich vor kurzem erst – während eines Abendspaziergangs – auf die schwarzbraunen Ackerfurchen blickend, für einen kurzen Moment lang in Erwägung zog, dass es auch genauso gut hätte Frühling sein können, ist es doch bereits November.

Bunte Blätter treiben über die Wasseroberfläche im Außenbecken wie auf einer zähflüssigen Substanz. Nebel quillt aus dem trüb gewordenen Becken.

Warum hat die Angst soviel Macht über mich? Warum gelingt es mir nicht, Rebecca zu lieben? Einfach nur – zu lieben?

Und: Warum musste der kleine Junge sterben?

Es war vor drei Tagen passiert. Er war am Grund des Beckens gelegen. Der Schichtleiter hatte ihn rausgefischt: Tot. Der Schichtleiter hatte nur gesagt „Zu DDR-Zeiten hätte es das nicht gegeben ( – ). Da konnten alle Schulkinder schwimmen.“, und: „Eher kamste nich inne Schule.“ Ja dachte ich, da gebe ich ihm nun doch einmal uneingeschränkt recht! Jetzt suchen alle – wie immer – einen Schuldigen. Es muss ja immer einen Schuldigen geben! Die Bildzeitung hat sich bereits die Eltern gekauft. Es wäre besser, Bild würde sich stattdessen weiterhin um eine aufmerksame Beobachtung von Britney Spears` Achselbehaarung bemühen, um der Welt rechtzeitig von schmutzigen Veränderungen in deren Achselhöhlen berichten zu können.

Wie seltsam eine Gesellschaft sein muss, die sich an drei Komma fünf Millimeter langer Achselbehaarung echauffiert, denke ich mir.

Aber das ist eine andere Frage.

Er war am Boden gelegen, mein Gott, ersoffen, in der Tiefe, am Boden. Vieles liegt im Schatten, aber tote Kinder sind noch einmal etwas ganz anderes. Manche fallen deutlich, manche still und leise, andere stehen ihr Leben lang im Rampenlicht. Auch Helden können fallen, denke ich, wie Gegenstände, Urteile und Grenzen. Wer hoch hinaus will, fällt manchmal tief. Ob er jetzt wohl denkt, er habe versagt? „Wenn Du nicht schwimmen kannst, gehen dir schnell mal die Lichter aus,“ hörte ich ihn erst kürzlich noch zu einer Schar übermütiger Kinder sagen. Wer denkt nun nicht: Was hat es genutzt?

Eis auf dem Außenbecken.

Wenn ich am Rand entlang gehe so schimmert das Wasser im Hallenbecken schwarz. Nahezu so schwarz wie die Kleidung unseres Betriebsleiters und seiner Sekretärin, die ersten Tage danach.

Auch wenn der Schnee nicht liegen bleibt, schneit es doch im Überfluss. Aprops Überfluss. Ich habe eigentlich alles. Doch das ist vielleicht auch zuviel? Vielleicht habe ich weit mehr, als ich zum Leben brauche. Zuviel an Dingen, an Wünschen, Gedanken, Ideen?

Ich kann nur weiter auf die Becken starren. Darüber hinaus bleibt nichts zu tun.

Offenbar.

Doch irgendwie treibt es mich auf das Eis. Ich darf es jedoch nicht betreten. Auf dem Computer lese ich die Temperatur des Außenthermometers: Minus drei Grad Celsius.

Was passiert aber, wenn ich mich der Ahnung widersetze. Welche Ahnung meine ich überhaupt?

Ich starre auf das Eis. Es kann sehr glatt sein unter der zarten Schneedecke. Glatt oder gar rissig. Ich entscheide mich dafür, das Eis nicht zu betreten. Ich traue dieser Schönheit nicht. Es wäre größenwahnsinnig und ein bisschen narzisstisch, den Gefallen an der eigenen Angst zu verehren, denke ich mir. Ich mache nicht mal vom Dreimeterbrett einen Kopfsprung. Vielleicht bin ich auch nur etwas feige. Das Eis trägt, das Eis trägt nicht. Der Kippmoment scheint beinahe fließend und irgend etwas Ominöses zieht mich in zwei Richtungen. Vielleicht ist es nur die Angst davor, nicht standzuhalten, einzubrechen. Was dann?

Zurück am See.

Das Licht für die Sturmwarnung wirft einen orangefarbenen Strich auf die graublaue Oberfläche des Sees, in unsere Richtung, der Richtung des Stegs, auf dem wir stehen. Ich von ihr weg gedreht, die Hände auf die Brüstung gestützt, Rebecca auf der gegenüberliegenden Seite, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt.

Ich sage „hier war ich und habe an der Tiefe des Beckens geschrieben“ und dass ich (wieder) weg müsse, irgendwie, weit weg.

„Dann mach es doch endlich einmal und red nicht nur ständig davon!“

„Ich möchte aber viel lieber noch hier stehen und das einfach schön finden und Geld dafür bekommen,“ erwidere ich und bin froh, nicht sehen zu müssen, ob sie – während ich dies sage – die Augen verdreht.

Anschließend verlasse ich schnellen Schrittes den Steg.

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 4
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 5
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 6
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