Grandpa meets Dr. K.
88 Jahre nach seinem Ableben von seiner Enkeltochter geschrieben.
© Margarete Steger
Am Jeschken bei Reichenberg
Der Berg hatte einen Wolkenkragen angelegt. Zwei Maenner gingen den Weg zum Gipfel, in Richtung Jeschkenbaude. Feuchter Schotter knirschte und quietschte. Der moosige Duft floss in Nase und Mund. Die Nadelbaeume dufteten wie sie nur im Oktober duften, wenn alle Oberflaechen feucht und nass sind. Zwei geroetete Nasen tropften. Herrentaschentuecher fingen Herrennasentropfen. Ließ der eine Herr seine Nasentrompete geraeuschvoll ertoenen, so versuchte der andere dezent und leise die herbstlich rot gefaerbte Gesichtsoeffnung einzusetzen.
Es fielen nur wenige Worte.
„Bleiben Sie doch besser knapp hinter mir, Herr Doktor!“ Weil es in Reichenberg geschah, wurde geogt. Max sagte zu Dr. K.: „Bleiben Sie og besser knapp hinter mir, Herr Doktor.“ Aus dem doch wurde das og.
Der Angesprochene schmunzelte insgeheim ueber die Sprache der Grenzbewohner hier im Norden Boehmens.
„Herr Oberbuchhalter, Sie kennen den Berg doch genau?“
Max wehrte sich gegen die Anrede, die auf seinen Beruf hin deutete. „Verehrter Herr Doktor! Darf ich Sie bitten, mich bei meinem Namen zu rufen. Mein Name ist …“, er blieb stehen und drehte sich um.
Dr. K. hatte nicht alles verstanden. Die dumpfe Herbstluft hatte die Haelfte verschluckt.
„Gut, ich werde Sie nicht mehr Herr Oberbuchhalter nennen, obwohl Sie einer sind, oder etwa nicht? Nun sagen Sie mir Ihren Namen. Wenn ich bitten darf, Ihren richtigen. Bitte sagen Sie nicht ‚Man nennt mich’. Wie man Sie nennt, das habe ich ja schon gehoert.“
Max schluckte und sagte: „Gehen wir doch weiter. Ich werde neben Ihnen gehen. Der Weg ist hier breit genug. Sie koennen mich so auch besser verstehen.“
Die Maenner gingen eine Weile. „Da, sehen Sie das Schild: ‚Zur Jeschkenbaude 45 Minuten. Gebirgsverein Reichenberg’.“
Dr. K. Hatte das Schild zuerst entdeckt. „Wir brauchen sicher nur dreißig Minuten. Diese Angabe ist fuer Rentnervereine geschrieben.“
Die beiden gingen nun etwas schneller und notwendigerweise erneut hintereinander. Diesmal ging der akademische Herr voran.
Max sagte nun laut und vernehmlich seinen ganzen Namen. „Ich heiße Chil Mendel Tikulsky und wurde in Krakau im selben Jahr wie Sie selbst, Herr Doktor, geboren.“
„Sie wissen mein Geburtsjahr? Das ehrt mich. Was wissen Sie noch von mir?“
Dr. K. wollte hoeren, welchen Ruf er in der Kreisstadt hat. Sie blieben abermals stehen. Dichter Nadelwald umgab die beiden jungen Maenner.
„Daß Sie schreiben, Herr Doktor; und dass Sie deshalb beruehmt sind. Verlobt sollen Sie auch sein.“
Die beiden blieben stehen und sahen einander an. „Leider bin ich nicht mehr verlobt. Ich koennte Ihnen viel darueber erzaehlen. Doch das wuerde Sie nur belasten. Ich hatte viele Gruende, die Verlobung aufzuloesen. Es tat mir selbst am meisten weh. Jetzt habe ich Ihnen von mir erzaehlt, obwohl ich merke, daß Sie selbst ein Anliegen haben. Ist das richtig?“
Max nickte und sagte nur: „Ja, bitte und danke. Sie sind der einzige, der mir helfen kann.“
„Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Ich sag das nicht einfach so dahin.“
Max bueckte sich, um seine Knickerbocker etwas enger zu schnallen und um dem Begleiter nicht seine nassen Augen zu zeigen. „Max, so darf ich Sie doch nennen? In der Firma Liebig sind Sie bekannt fuer Ihre gute Laune. Der Herr Direktor hat Sie mir empfohlen. ‚Fragen Sie Max um Begleitung beim Wandern. Da kann keine traurige Stimmung aufkommen.’ So hat er zu mir gesagt.“ Max beeilte sich zu sagen: „Darf ich Ihnen trotzdem, oben auf der Baude, meine Geschichte erzaehlen?“
Die zwei schritten nun kraeftiger aus.
„Sollte der Weg nicht schon laengst steiler sein? Ich habe das Gefuehl, wir gehen in die falsche Richtung.“
„Das ist der dumme Nebel“, stellte Max fest. „Bei klarer Sicht kann man ab halber Hoehe schon den Gipfel sehen. Sie haben recht, Herr Doktor, wir sind zu weit gegangen! Wir sind ins Gebirge, anstatt auf den Jeschken gewandert. Es tut mir leid.“
Sie blieben erneut stehen. Rascheln war aus dem Unterholz zu hoeren. Mit einem Mal stand ein junges Maedchen vor den erstaunten Wanderen. Es war gekleidet nach der Sitte der Bauern. Es trug einen Bund Reisig auf seinem Ruecken. In seiner Hand hielt es einen jungen Vogel, den es sorgsam in Gras und Moos gehuellt hatte.
„Du mußt keine Angst haben. Es geschieht dir nichts. Kannst du uns vielleicht sagen, wie wir in diesem Nebel den Weg auf den Berg finden koennen?“
Erst jetzt bemerkte Dr. K., daß sich Max und das Maedchen anstarrten. Sie sahen einander an, als wuerden sie sich gleich zu erkennen geben, wie Freunde oder Verwandte. Der Doktor, der die Szene beobachtete, fand daß die beiden wie Statuen aussahen. Noch etwas fiel ihm auf. Das Maedchen hatte das gleiche Gesicht wie Max. Es hatte die gleichen schwarzen Augen, die gleiche getoente Haut. Unter einem bunten Kopftuch lugten die gleichen schwarzen Haare hervor. Das Anstarren dauerte. Dr. K. wollte dieser Szene kein Ende bereiten. Spaeter war man sich nicht ueber die Zeit einig. Max meinte, es waeren nur einige Sekunden gewesen. Herr Doktor sprach von fuenf Minuten und laenger.
Nach einiger Zeit deutete das Maedchen in die Richtung, aus der die beiden Herren gekommen waren. Es oeffnete seinen Mund, doch keine Silbe, kein Wort war zu hoeren. Das Maedchen drehte sich pfeilschnell um und lief in den Wald. Es war nur mehr das Knacken einiger Aeste zu hoeren. Nun erst sahen die Wanderer, die selbst schwere Schnuerschuhe an ihren Fueßen hatten, daß das Maedchen barfuß lief.
„Wer war das?“ fluesterte Max.
„Wir koennen ruhig wieder laut reden. Die Erscheinung ist vorbei.“
Die Maenner schwiegen. Nach einiger Zeit kamen sie wieder zum Wegweiser. Diesmal hielten sie sich direkt an den steilen Aufstieg.
„Hat der Berg einen Hut, wird das Wetter gut. Hat der Berg einen Kragen, kann man beruhigt den Aufstieg wagen“, rezitierte Max.
Der Nebel gab sich dem Blau des Himmels geschlagen. Sie hatten die Wolken hinter sich gelassen.
„Diesmal hat der Berg sich eine Wolkensteppdecke zu Fueßen gelegt. Sehen Sie nur, mein lieber Max. Ganz Reichenberg unter der schneeweißen Daunentuchent.“
Die Maenner gingen den kurzen Weg bis zur Baude. Sie setzten sich auf die Stufen der Huette, um dieses Schauspiel zu genießen.
„Max, wenn es Ihnen recht ist, werde ich ihnen jetzt das Du-Wort anbieten. Ich heiße Franz, Franz Kafka. “
Max fuehlte sich geehrt und reichte dem Wanderfreund die Hand. Sie betraten die Baude. Sie sprachen von dem Maedchen im Wald.
Max summte „Wilja oh Wilja.“
„Die Wilja ist doch ein Reh.“
Sie raetselten, wer es sonst gewesen sein koennte und ob das Maedchen stumm sein koennte. Max ging zum Baudenpaechter, dem Wirten. Er erzaehlte von dem Erlebnis im Wald.
Hinter dem Jeschken liegen einige tschechische Doerfer, wo man nachfragen koenne, meinte der Baudenwirt.
„Kannst du Tschechisch, Max?“
„Nein das leider nicht, aber ganz gut Polnisch, womit wir wieder bei meinem Anliegen waeren.“ Max hatte den Themenwechsel herbeigefuehrt.
„Zum Waldmaedchen kann ich nur sagen, wenn du willst, gehe ich mit dir bei meinem naechsten Reichenbergaufenthalt in die tschechischen Doerfer und suche mit dir das Maedchen. Wie du weißt, schickt mich die Versicherung regelmaeßig hierher. Aber nun zu deiner Geschichte.“
Der Streuselkuchen duftete und wurde mit Genuß verzehrt. Franz lehnte sich zurueck und legte den Kaffeeloeffel zur Seite.
„Ich wurde in Krakau als zweites Kind einer juedischen Tuchhaendlerfamilie geboren. Mein Name ist, wie schon gesagt, Chil Mendel Tikulsky. Meine Schwester Rachel ist vier Jahre aelter als ich. Meine Mutter stammt aus einer Krakauer Familie, die ein koscheres Restaurant betrieb. Ich weiß noch, wie ich meine Großmutter besuchen durfte. Sie stand in der Kueche. Auf ihrem Kopf trug sie einen weiße Haube. Aber ich will nicht zu weit ausschweifen. Ich sag wie es ist. Ich bin ein entfuehrtes Kind. Entfuehrt vom eigenen Vater, im Alter von vier Jahren. Nach einer Familienfehde verließ er seine Heimatstadt. Den Grund des Streits habe ich nie erfahren. Ich kam an der Hand meines Erzeugers, zu Fuß, ueber die Berge, nach Reichenberg.
Die Familie blieb in Krakau. Mein Vater hatte zu Lebzeiten keinerlei Kontakt mit seiner Familie oder mit Verwandten aufgenommen. Bis vor vier Jahren wußte keiner, ob ich noch lebe. Nach dem Tod meines Vaters habe ich meine Mutter und meine Schwester gesucht. Ich war in Krakau. Eine Tante hat mir nur mehr das Grab meiner Mutter am jüdischen Friedhof zeigen koennen. Man hat mir gesagt, sie starb an gebrochenen Herzen. Meine Schwester konnte ich auch nicht sehen, da sie Jahre zuvor nach Amerika ausgewandert war. Wenn ich genug Geld beisammen habe, dann fahre ich zu ihr. Sie wartet schon. Meine Schwierigkeit ist die: Ich habe keine Dokumente. Mein Vater hat, ohne auch nur ein Schriftstueck mitzunehmen, bei Nacht und Nebel, seine Heimatstadt verlassen. Ohne Papiere kann ich nicht einmal nachweisen, daßs ich existiere. Das einzige, was ich besitze sind Zeugnisse der Buergerschule und der Handelsakademie. Die haben gewusst, ich bin juedisch und haben keinen Taufschein verlangt. Dort habe ich allerdings Max als Vornamen angegeben. In Reichenberg war ich auf der Stadtgemeinde. Sie sagten, man koenne mir nur einen Heimatschein ausstellen, wenn ich einen gueltigen Reisepaß haette.
Am Konsulat in Prag hoerte ich folgendes: Ich bekaeme nur einen Reisepass, wenn ich einen Heimatschein einer boehmischen Gemeinde vorweisen koenne. Auch die Kultusgemeinde konnte mir nicht helfen. Sie haben zwar den Eintrag der Geburt meiner Mutter gefunden. Sie sagten, es sei wohl an dem Tag in diesem bestimmten Haus ein Maedchen zur Welt gekommen, aber dieses hieß Josefine und nicht Elisabeth. Meine Mutter verehrte Kaiserin Elisabeth und wollte so wie diese heißen. Ja, ich habe meine Mutter sehr vermißt.
Mein Vater zog mich auf. Er wollte mich immer in seiner Naehe haben. Ich saß im Kontor unter dem Schneidetisch. Die Stoffreste waren mein Spielzeug. Mein Vater blieb im Tuchgeschaeft. Er wurde Tuchverkaeufer. An manchen Tagen schlich ich mich vom Geschaeft ins Bureau. Dort saß der Buchhalter und gab mir Papier und einen Graphitstift. Er sagte, ich solle etwas zeichnen. Ich aber kopierte lange Listen, die ich im Papierkorb fand. Als der Buchhalter meine Neigung entdeckte, durfte ich offiziell kopieren. Ich kannte noch nicht alle Ziffern und schrieb schon fuenfstellige Zahlen.
Wir wohnten in Reichenberg in der Bahnhofstrasse zur Untermiete. Meine Vater hat nie mehr eine bessere Wohnung gesucht. Die Vermieterin war sehr nett. Sie wohnte selbst im Haus. Ihre Tochter, Grete, war etwas aelter als ich. Ich hab mich schon als Kind in sie verliebt. Damals wusste ich nicht, daß wir anders sind. Mein Vater ist nur zu den hohen Feiertagen in die Synagoge gegangen. Nach meiner Zeit in der Handelsakademie haette ich gerne um Gretes Hand angehalten. Aber ohne Papiere? Gretes Mutter gab mir bald zu verstehen, daß ich aus religioesen Gruenden nicht als Schwiegersohn in Frage kaeme. Grete wurde zu Verwandten nach Maehren geschickt, wo sie heute noch lebt. Das ist meine Geschichte. Franz, gell Du wunderst Dich jetzt, daß ich immer froehlich bin! Nein, das Maedchen im Wald war nicht Grete. Grete ist dunkelblond und hat blaue Augen. Was moechtest du jetzt von mir wissen? Glaubst du gibt es eine Chance fuer mich. Ich kann gut Englisch. In Amerika koennte ich mich wohlfuehlen. Ich moechte nicht mehr die Berge sehen, ueber die ich als Kleinkind durch Vaters Hand entfuehrt wurde.“
Franz sagte: „Amerika! Sag Max, wenn du dann ausgewandert sein wirst, darf ich dich besuchen kommen? Amerika interessiert mich sehr! Deine Lebensgeschichte ruehrt mich. Ich moechte nur wissen, ob du deinem Vater verziehen hast. Er hat dir so vieles genommen.“
Max antwortete: „Ich habe ihm alles mit Liebe vergolten. Er wußte wohl von seiner Schuld. Er selbst wollte vor seinem Tod noch alles wieder ins reine bringen. Doch es war zu spaet. Ich bekomme vielleicht einmal meine Dokumente, doch meine Kindheit, mit einer Mutter und einer Schwester, bekomme ich niemals mehr zurueck.“
Jetzt war das große Taschentuch wieder im Einsatz.
Auch Franz hatte rote Augen. „Lieber Max, mein Freund kann ich jetzt sagen, bitte vertrau mir, ich werde noch diese Woche ein Schreiben an die Krakauer Kultusgemeinde senden. Bitte vertrau mir. Alles wird gut!“
Sie saßen noch eine Weile auf den hoelzernen Baenken und schwiegen. Franz sagte in das Schweigen. „Das Maedchen im Wald war nicht Wirklichkeit. Kannst dir denken wer es war?. War es deine Vergangenheit, oder deine Zukunft?“ Max antwortete: „Ich kenne niemanden der so aussieht.“ „Max, das Maedchen hatte dein Gesicht. Genau deine Augen und deine Haare. Auch den gleichen Mund und auch deine Nase. Es muss jemand aus deiner Zukunft sein. Vielleicht bekommst du einmal eine Tochter, die so aussieht.“
Max laechelte. „Das waere schoen. Hoffentlich habe ich bis dorthin alle Papiere beisammen. Sonst koennte ich dem Kind nicht einmal meinen Namen geben.“
Franz legte den Arm um die Schulter seines neuen Freundes. „Ich komme wieder nach Reichenberg. Vielleicht kann ich dir schon bald eine gute Antwort bringen. Schau, du hast mir viel gezeigt. Den Nebel da drunten, das Maedchen im Wald und die herrliche Aussicht. So verlaeuft mein Leben. Meist im Duesteren. Nicht ahnend welche Pracht ueber uns herrscht. Wenn ich dir von meinem Leben erzaehle, dann wirst du auch nicht froh. Es klingt so gut, denn ich habe keine finanziellen Sorgen. Wenn ich in Prag bin, dann habe ich kein eigenes Leben. Mein Vater erwartet von mir vollsten Einsatz im Familienunternehmen. Er sieht meine Taetigkeit bei der Allgenmeinen Unfallversicherung fuer das Koenigreich Boehmen als mein persoenliches Steckenpferd. Es ist wahr. Gefordert bin ich nicht. Im Buereau ist mir oft langweilig. Die Fahrten nach Reichenberg sind mir willkommen. Ich pruefe die Firmen nach der richtigen Deckung fuer ihre Beschaeftigten. Manchmal mache ich Vorschlaege zur Verbesserung der Lage der Arbeiter. Es haengt immer mit Sicherheit zusammen. Im Textilhandel wurden frueher Arbeiter giftigen Chemikalien ausgesetzt, die hoechst gesundheitsschaedlich waren. Ich konnte da viel bewirken. Weißt du was, Max. Mach es wie ich. Schreib deinem Vater einen Brief und leg ihn auf sein Grab. Ich habe schon viele Briefe an meinen Vater geschrieben. Wenn er gestorben ist, dann mach ich das genau so. Weißt du, daß mein bester Freund den ich in Prag habe, auch Max heißt. Er kuemmert sich um meine Texte und spricht mit den Verlegern. Deshalb wuerde ich dich lieber Mendel nennen. Wie hat dich denn dein Vater gerufen?“
Max atmete tief durch und sagte: „Ja, du hast recht. Mein Vater hat mich nicht Max genannt. Er hat Mendele zu mir gesagt. Wir haben die meiste Zeit Jiddisch gesprochen. Kannst du Jiddisch?“
„Ja, ich kann’s. Meine Großmuetter haben sich so untereinander verstaendigt. Die eine konnte nicht Tschechisch und die andere nicht Deutsch. Sie haben sich so gut verstanden, daß sie im hohen Alter zusammengezogen sind. Das war praktisch. Da mußte ich nur eine Wohnung aufsuchen, wenn ich beide besuchen wollte. Also, darf ich Mendel sagen?“
„Ja, doch, aber bitte nicht in der Fabrik. Manche wissen gar nicht, daß ich juedisch bin. Franz, sag mir: Glaubst du an Gott? Darf ich dir diese Gretchenfrage stellen?“
„Mendel, mein Freund, der heutige Tag ist dazu angetan, daß ich wieder an Gott glaube. Als Bub konnte ich wunderbar Zwiesprache mit ihm fuehren. Meine innere Dunkelheit hat diese Faehigkeit geloescht. Heute bin ich wieder nach Monaten der schweren Traurigkeit, erwacht. Jetzt folgen helle Tage, auch wenn der Winter kommt. Jetzt muß ich schreiben. Nun laehmen mich keine schweren Gedanken. Ich kann mich nur in andere hineinversetzen und das Schicksal anderer beschreiben. Es ist zum Glueck nicht meines. Ich versuche instaendig, wieder die Verbindung zum Schoepfer zu finden. Es soll ihn fuer mich und fuer dich geben. Es muß.“
Zwei Tweedjacken dampften. Max schuettelte es vor Feuchtigkeit, die noch in den Kleidern steckte. „Komm, Mendele! Wir gehen schnell hinunter nach Reichenberg, damit uns wieder warm wird.“
Der Abstieg war steil und rasch bewaeltigt. Als die beiden Wanderer den Stadtrand erreicht hatten, fror Mendel nicht mehr.
„Mendele, hab ich dir schon von meinen Schwestern erzaehlt? Ich habe drei schoene und kluge Schwestern. Die huebscheste ist die mittlere, die Valli. Die aelteste, Elli, ist auch ein schoene gradgewachsene Frau. Beide sind schon Ehefrauen. Mein Liebling aber ist Otla, die juengste. Sie ist nicht so groß wie die anderen, und nicht so huebsch. Doch sie hat ein Wesen wie ein Engel. Sie wird bald heiraten. Sie hat einen braven Mann gefunden. Ich werde mich um die neue Familie kuemmern, sobald ich wieder in Prag bin. Wenn ich dich das naechste Mal sehen werde, kann ich dir schon von der Hochzeit erzaehlen und von der Chance, einen Paß fuer dich zu bekommen.“
An der Straßenbahnhaltestelle verabschiedeten sich die neuen Freunde herzlich. Max ging zu Fuß weiter und Franz bestieg die Trambahn.
Im Sanatorium
„Der Herr Doktor hat ein Einzelzimmer ganz hinten, vor dem Wintergarten. Er moechte aber nicht gestoert werden. Was soll ich denn bestellen?“
„Sagen Sie, sein Freund Max, nein sagen Sie lieber Mendele aus Reichenberg sei hier.“
Der Krankenpfleger schritt den langen Gang entlang. Er klopfte, oeffnete die Tuere und betrat das Zimmer des Erste-Klasse Patienten. Max stand am Gang und hielt sich am hoelzernen Gelaender fest.
Wenn der Pfleger nicht bald kommt, muss ich mir einen Stuhl holen, so dachte Max. Er zitterte. Sein Koerper war geschwaecht von der Krankheit, die man frueher als galoppierende Schwindsucht bezeichnet hatte. Doch nicht der Pfleger erschien. Franz selbst kam mit ausgestreckten Armen auf Max zu.
„Mendele, mein Lieber. Dich hat’s schoen erwischt. Ich werde dich an Doktor Loevy weiterempfehlen. Der ist der einzige, der wirklich Bescheid weiß. Komm in mein Zimmer. Wir setzen uns auf den kleinen Balkon. Dort koennen wir so wie in Reichenberg miteinander sprechen. Sprechen.
Max bedankte sich erneut für den polnischen Reisepaß, den er, dank Franz, im Konsulat in Prag erhalten hatte. Es sei ihm auch schon von behoerdlicher Seite das Heimatrecht in Reichenberg zugesichert worden. Sobald es dieses haette, koenne er heiraten. „Ein kleines Toechterlein habe ich auch schon. Es soll bald meinen Namen haben. Die Mutter des Kindes ist Rosl; eine Reichenberger Putzmacherin. Ein tuechtiges und fesches Maedchen. Sie ist eine Bruenette. Nicht so langweilig blond wie in Reichenberg alle Maedchen sind. Mein Toechterl heißt Grete. Es ist jetzt schon eineinhalb Jahre alt. Ein sueßes, sehr lebhaftes Ding. Sie spricht noch nicht viel, aber zu mir sagt sie Da-Da. Auch zu allem anderen sagt sie so. Man laeßt sie nicht mehr zu mir, wegen meiner Krankheit. Ich durfte sie unlaengst durch die Glasscheibe sehen. Sie schien mich bemerkt zu haben, denn sie schrie wie am Spieß. Sie hob die kleinen Aermchen und rief Da-Da. Ich hab auch geweint und bin dann weg von der Glastuere in mein Zimmer gegangen. Du Franz, mein Lieber, die kleine Grete sieht aus wie das Waldmaedchen; genau so!“
„Mendele, mein Lieber! In unser beider Leben ist auch bei schonen Dingen, etwas Bitterkeit dabei. Wenn du erst Dr. Loewy konsultiert hast, dann wird es dir besser gehen. Schau mich an! Weißt du, daß ich die Frau fuer mein Leben gefunden habe. Sie heißt Dora und ist Kindergaertnerin. Genau wie ein Kind, so behandelt sie mich und das tut so gut!“
Die Herren saßen und redeten bis das Nachtmahl gebracht wurde. Max war muede geworden und ging in sein Zimmer, das er mit zwei anderen Lungenkranken teilte. Sein Herz war froh, denn er fuehlte sich in seinem Unglueck verstanden.
Nachsaetze
Es ist eineTatsache, daß ich von Franz Kafka mehr weiß, als von meinem Großvater Chil Mendel Tikulsker, den meine Großmutter, den schoenen Max nannte. Von Verwandten weiß ich, daß er sehr lustig war. Er wollte nicht, daß seine Tochter Grete, meine Mutter, jemals in Staub, oder in einer ungesunden Umwelt, arbeiten sollte. Er kam an der Hand seines Vaters, im Alter von vier Jahren zu Fuß ueber die Berge von Polen nach Reichenberg.
Er war Buchhalter. Er starb im Alter von 36 Jahren an Lungentuberkulose, die damals unheilbar war. Es existiert ein Portrait eines schnauzbaertigen, ernst blickenden Mannes. Es ist in einem ovalen Passpartout. Es gibt noch ein Gruppenphoto, auf dem er rechts außen steht. Bei genauer Betrachtung sieht man, daß das Portraitphoto dem Gruppenbild entnommen ist. Auch gibt es ein Schmuckbild mit allen seinen Todestagen, nach dem Hebraeischen Kalender. Das ist alles.
Durch diese Kurzgeschichte bin ich meinem Großvater und auch Franz Kafka naeher gekommen. Großvater und Kafka hatten den gleichen Glauben, sie hatten das selbe Geburtsjahr, sie hielten sich in Reichenberg auf und sie hatten die gleiche unheilbare Krankheit. Beide starben noch vor dem Nazigreuel. Haetten beide laenger gelebt, so haette Franz Kafka vielleicht seine drei Schwestern vor der Ermordung im Vernichtungslager retten koennen. Meine Mutter hat ueberlebt, wie, weiß ich nicht, da bei uns zu Haus ueber solche Dinge nicht gesprochen wurde; auf gar keinen Fall mit uns Kindern.
danke – wir leiten ihre anerkennenden worte gerne an die autorin weiter!
Toll und berührend geschrieben. Literaturgeschichte mit mystisch, privaten Hintergrund ist eine nie gekannte Kategorie!