Wo bleibt das Meer?

Sandburgen ergeben sich dem Wind

Sie sind auf keinen Bestseller-Listen zu finden, bei preisgekrönten Büchern sucht man sie zumeist vergeblich, Feuilletons meiden sie und der Weg hinein zwischen zwei eigene Buchdeckel bliebt ihnen oftmals verwehrt: Einzelveröffentlichungen von Kinder- und Jugendgedichten. Zugegeben, es gibt Ausnahmen in der Kinderlyrik wie zum Beispiel „Das kleine Ich bin ich“ von Mira Lobe oder „Der Leuchtturm auf den Hummerklippen“ von James Krüss oder „Und außerdem sind Borsten schön“ von Nadja Budde.
Oder „Wo bleibt das Meer?“ von Ted van Lieshout. Der niederländische Autor, Grafiker, Illustrator zeichnet sich durch eine Vielfalt literarischer/bildnerischer Werke aus: Romane, Gedichte, Hörspiele … Eine Zusammenstellung seiner Gedichte der letzten dreißig Jahre erscheint zum ersten Mal in deutscher Übersetzung (Rolf Erdorf) im Susanna Rieder Verlag. Und zwar als Einzelveröffentlichung!

Wie ist es, wenn man sich auf der Schwelle zum Erwachsenensein befindet? Ted van Lieshout bringt die zwiespältigen Stimmungen auf eben dieser Schwelle in seinen Gedichten nuancenreich aufs Papier. Er zeigt, dass es auch ohne anbiedernde Holzhammermethoden wie liebliche Verkleinerungen, coole Ausdrücke oder Fäkalsprache gelingen kann, Kindern/Jugendlichen anspruchsvolle Lyrik „schmackhaft“ zu machen und zugleich Erwachsene anregt, sich vergangene Kindheitstage zu vergegenwärtigen. Seine Poesie folgt keinem lyrischen Sprachregelwerk, bei dem es ein bestimmtes Versmaß oder strenge Reimformen zu befolgen gilt.
Wie ist es also, wenn einen die Eltern nerven, gleichzeitig sich aber die Sorge breit macht? „Ach, was soll ich nur tun, wenn ich der Erste bin, / der für dich sorgen muss, Mutter, wenn du tot / bist und keiner in der Welt es noch weiß?“ („Mutter“, S. 31)
Wie ist es, wenn man sich seiner selbst noch nicht ganz sicher ist? „Ich schwebe über allem dahin / im Geheimen – denn wie Welt weiß / noch nicht so recht, dass es mich gibt. Ich muss mich manchmal auch noch / an mich gewöhnen, / doch mein Vorsprung ist schon groß. Wer auf dem Fahrrad / an mir vorbei will, muss mit einer Biege / um mich herum. Und eine Biege / ist auch eine Verbeugung.“ („Verbeugung“, S.15)
Wie lässt sie sich aushalten, die Spannung zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit von und dem Wunsch nach Geborgenheit in der Familie? „So wie Eis aus Wasser ist, aber Wasser nicht aus Eis, / so spüre ich festen Grund unter den Füßen. / Jetzt muss ich hinüber, ehe es taut.“(„Gefrorene Sprechblasen“, S. 51)
Und dieses leidige Warten! „Wo bleibt / das Meer? / Ach, wo bleibt / doch das Meer? … Die Dünen / wollen ins Wasser / gehen und der Abend senkt sich.“

In Brigitte Püls‘ Holzschnitten hinterlässt das Meer und viele seiner Attribute Spuren im Buch. In einfachen Linien kommt eine Angelschnur daher, ein Papageifisch, ein Swimmingpool, im Wasser zeigt sich die Flosse eines Hais; die weiße Silhouette eines Bootes gleitet über Gedichte, die es geschafft haben, ihren Platz zwischen zwei Buchdeckeln zu finden.

Petra Öllinger

Ted van Lieshout (Text), Brigitte Püls (Illustrationen und Buchgestaltung): Wo bleibt das Meer? Gedichte
Aus dem Niederländischen Rolf Erdorf
Susanna Rieder Verlag, München 2017
Gebunden, 64 Seiten, € 15,- (Ö)
Über Ted van Lieshout
Über Brigitte Püls Serge Bloch
Über Rolf Erdorf
Interview mit Rolf Erdorf zum Thema Übersetzen

© Cover: Susanna Rieder Verlag / Brigitte Püls

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