Das fremde Zimmer

Demenz abseits von ICD-10

Anna Gemmeke Das fremde Zimmer BuchcoverImmer die selben Fragen. Immer die selben Geschichten. Was erst kürzlich geschah – vergessen. Was lange Zeit zurückliegt – verknotet mit der Gegenwart. Namen von verstorbenen Angehörigen werden erinnert – die Namen der noch Lebenden sind vergessen. Der Krieg. Die Soldaten. Die Kinder, die zur Schule müssen, der Braten, der fertig werden muss. Die Sorge um den Ehemann.

Verwirrt. Ängstlich. Wütend. Der Wunsch, nicht in einem fremden Zimmer bleiben zu müssen. Nach Hause zu dürfen. Die Scham darüber, wenn für kurze „lichte“ Momente bewusst wird, dass ein Hinabgleiten nicht mehr aufzuhalten ist in eine Welt, in der geistige, emotionale und soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten zunehmend verlorengehen. Demenz, Alzheimer Demenz, Vaskuläre Demenz – Klassifikationsschemata, die diesen schleichenden Abbauprozess erklären. Aber machen sie ihn auch wirklich fassbar?

Anna Gemmeke Arzt

Anna Gemmeke versucht mit ihrem Buch „Das fremde Zimmer“ dieses Hinabgleiten nachzuzeichnen – im wahrsten Sinn des Wortes. Sie verleiht den von Demenz Betroffenen selbst eine Stimme mit ihrer namenlosen Protagonistin. Keine Erklärungen von Außenstehenden, kein ICD-10, keine Studienergebnisse. Nur die Frau, ihre Gedanken und Fragen, ihre Hilflosigkeit und ihre Unruhe, ihr Misstrauen und ihre Sorgen. Themen, die sich im Kreis drehen (der Weg zum Bahnhof, Onkel Bruno, die Mutter). Poetisch und berührend. Oft bedarf es dafür nur eines Satzes, eines Namens („Ursel …?“) pro Seite.
Anna_Gemmeke_Mutter_Essen Die mit Bleistifstrichen ausgeführten Illustrationen füllen manchmal eine Doppelseite, manchmal eine Seite aus. Auf manchen Blättern wirken sie dunkel und bedrohlich. Ein anderes Mal scheinen sie sich aufzulösen, wenn nur mehr ein Teil des Kleides zu sehen ist, oder eine Häuserzeile nach und nach die Fenster verliert. Manche Seiten bleiben ganz leer.

Text und Illustrationen spiegeln inhaltlich und formal dieses Pendeln zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Ineinandergleiten und Durcheinandergeraten der Erinnerungen aus diesen Zeitebenen – und berühren tiefer als ein medizinisches Diagnoseklassifikationssystem.

Petra Öllinger

© Illustrationen: Anna Gemmeke/Kunstanst!fter Verlag

Anna Gemmeke (Text und Illustration): Das fremde Zimmer.
Kunstanst!fter Verlag, Mannheim 2015. 180 Seiten, € 22,70 (Ö)

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