Raphael Vogt – Die Tiefe des Beckens – Teil 4

Als ich am 25. April zu meiner ersten Frühschicht antrat, empfing mich der Schichtleiter mit den freundlichen Worten „wir werden sehen, wie lang du das machst“, was mir wiederum Anlass genug war, den ganzen folgenden Tag an mir und jeder abgeleisteten Arbeitsaufgabe zu zweifeln, auch wenn sie an sich noch so einfach zu bewältigen war. Nachdem ich mich, mit der zaghaften Bemerkung „Kaffee tut schon ganz gut zwischendurch“ – die der Schichtleiter daraufhin mit der Gegenfrage „Willste?“ beantwortete – sozusagen selbst zu einer Tasse Kaffee eingeladen hatte, wagte ich es vorsichtig, mir aus der blauen Literkanne einzuschenken und fragte nebenbei den Schichtleiter was man denn „als Bademeister so wissen“ müsse?. Dabei drückte ich mühsam Kondensmilch aus der Dose in die Kaffeetasse und dachte darüber nach, dass da ein zweites Loch fehle und fühlte mich an meinen 1987 verstorbenen Großvater erinnert, der stets auch auf ein zweites Loch in der Bärenmarken-Büchse bestanden hatte, wenn Großmutter die Dose zum Malzkaffee – den sie stets in einer verbeulten, weißblau emaillierten Blechkanne servierte – auf den spartanisch gedeckten Küchentisch gestellt hatte. „Das heißt Schwimmmeister,“ korrigierte mich der Schichtleiter mit mahnendem Tonfall und fuhr mit den Worten „Kaffee kochen muss man können.“ fort. Nach einer Pause und einem kräftigen Schluck Kaffee – welchen ich ja kurz zuvor für ihn / uns aufbrühen durfte – ergänzte er „das kannste schon mal nich,“ und versuchte sogleich einem flüchtigen Seitenblick einhergehend, den an einem Abwenden meinerseits abgelesenen Schaden mit der Entschuldigung „aber das liegt vielleicht auch daran, dass es mir nie genug Pulver sein kann“ zu begrenzen. „Weißte, ich vertrag nämlich so ne Hühnersuppe nich.“ Dann hustete er kräftig und zog umgehend an seiner Zigarette, als wäre die Ursache (des Hustens) sogleich deren Heilung und nippte so langsam am Kaffee, als wolle er die Tasse dazu nützen, um sein Gesicht vor mir zu verstecken. „Nichts gegen deinen Kaffee. Ist halt Geschmackssache.“

Der Schichtleiter blickte auf seine stolze, vermutlich wasserdichte, Armbanduhr. Ohne von ausgesprochener Sachkenntnis sprechen zu können, wage ich die Vermutung, dass es sich bei ihr um die klassische Fälschung einer Rolex, oder was auch immer – ich hab gar nicht so genau hingeschaut – handeln musste. „So,“ sagte er dann „wo bleibt er denn?“ und ergänzte nach einem Blick in mein von Unwissenheit gezeichnetes Gesicht „na, dein Kollege.“ „Wie spät ist es denn?“ fragte ich „und wann sollte er denn da sein?“ „Sechs Uhr zwölf. Er sollte wie du – seit sechs Uhr – hier sein. Wenn Leandro – so heißt er, dein Kollege – bis viertel nach nicht hier ist, dann muss ich mit dir hinter gehen.“ „Hinter gehen?“ „Zur Putzkammer“ und dann lachte er „Einweisen!“. Mir schwante, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste und als ich mir schon geeignete Worte für die Verabschiedung zurechtlegte, meinte der Schichtführer „Ja. Putzen, natürlich! Was denkst `n du?“ und machte aus seiner Freude über meine Verwunderung keinen Hehl. „Ha ha, wir putzen doch alle hier.“ Dann klopfte er mir auf die Schulter. War dies als Ritterschlag zu verstehen?

Regentropfen kleben an den Schaufensterscheiben. Blinkende Reklame, Spritzwasser und Neonlicht. Die trübe Nacht schluckt den verbliebenen Schall des Tages. Der Regen trommelt leise auf das Blechdach über mir … vor dem großen Fenster eines Modekaufhauses. Ich vermisse mein Auto. Zwei Minuten später hält der Bus.

Ich habe Angst vor dem 10- Meter-Brett und Angst vor denen, die springen, so groß ist mein Respekt! Ich habe Anna Baders gespannte Fußsohlen gesehen, ihren Blick, ein Interview nach dem Sprung. Warum macht mich immer alles gleich so an? Ist es nur die Sehnsucht? Wenn ja, wonach? Wahrscheinlich nur die nach dem eigenen Mut. Begierde kann so tückisch sein! – Ein dunkler Wald aus Projektionen!

Ich lechze nach Leben!

Ich denke mir: Wie tief muss so ein Becken sein? Je höher gesprungen wird, desto mehr Fallgeschwindigkeit – und diese steigt mit zunehmender Höhe im Quadrat – damit jedoch auch die Aufprallhärte. Je höher der Sprung, desto härter also das Wasser, desto mehr Widerstand bzw. weniger Wasserverdrängung. Was logischerweise somit die Bremswirkung erheblich erhöht und die Tiefe des Eintauchens reduziert. Es ist also ein Trugschluss, dass ein Sprung aus großer Höhe eine wesentlich größere Wassertiefe erfordern würde. Wie tief ist so ein Becken? Ich befürchte, dass meine Männlichkeit im Gegensatz dazu verschwindend klein ist! Und ich glaube das nicht nur, was meinen Mut betrifft.

Denn so ein Becken ist tief!

Die einzelnen Teile werden im „Duftenden Doppelpunkt im Abstand von 14 Tagen veröffentlicht. Schreiben Sie Raphael Vogt Ihre Meinung zu seinem Text.

RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 1
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 2
RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS – Teil 3

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