Zwei Tage Zeit: Herta Reich und die Spuren jüdischen Lebens in Mürzzuschlag. Herausgegeben von Heimo Gruber und Heimo Halbrainer im CLIO Verlag.
1998 erschien die erste Auflage von Zwei Tage Zeit mit der Fluchtgeschichte Herta Reichs und historischen Beiträgen zum Kladovo- Transport, dem sich Herta Reich nach ihrer gewaltsamen Vertreibung anschließen konnte, sowie zu den Lebensbedingungen von Jüdinnen und Juden in Mürzzuschlag bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung 1938. Der Erscheinungszeitpunkt des Buches fiel mit dem 60. Jahrestag des Novemberpogroms zusammen – in Graz wurde damals der Grundstein zum Neuaufbau der zerstörten Synagoge gelegt und fast zeitgleich hat die Bundesregierung die Historikerkommission der Republik Österreich eingesetzt. Im Bemühen, wiedergutzumachen, was nicht wiedergutzumachen ist, wurden damit auf regionaler und staatlicher Ebene sehr späte Zeichen im Umgang mit den Folgen nationalsozialistischer Geschichte gesetzt.
Mit ebensolcher Verspätung hat auf lokaler Ebene in Mürzzuschlag die Erinnerung an die vor Ort ausgeübte Gewalt gegen hier ansässige jüdische Familien begonnen. Nicht zuletzt war es Herta Reich selbst, die mit der Niederschrift ihrer Vertreibungsgeschichte diesen Prozess in Gang gesetzt und ihm eine Grundlage gegeben hat. Dank ihres hohen erreichten Lebensalters konnte sie noch von Israel aus beobachten, wie diese Initiative in ihrer früheren Heimat aufgegriffen wurde.
Seither sind sechzehn Jahre vergangen. Herta Reich ist 2012 verstorben und zur bleibenden Erinnerung an sie hat sich das örtliche Gymnasium den Namen Herta Reich-Gymnasium und Realgymnasium Mürzzuschlag gegeben. Nicht nur dieser Akt des Gedenkens war für uns Anlass und Ansporn, eine erweiterte Neuauflage von Zwei Tage Zeit herauszugeben. Es ist auch der Umstand, dass geschichtliche Erinnerung ein ständiger und offener Prozess ist, den jede Generation von Neuem in Angriff nehmen muss. Keine Gesellschaft ist davor gefeit, hinter einen bereits erreichten Stand historischen Bewusstseins zurückzufallen. Das Versprechen des NIEMALS VERGESSEN, das die der Nazibarbarei Entronnenen nach der Befreiung 1945 abgelegt haben, hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Unsere historische Verantwortung wahrzunehmen, sind wir nicht nur den Opfern nationalsozialistischer Gewalt und Verfolgung schuldig, sondern auch der Zukunft unserer Gesellschaft im Sinne einer humanen, demokratischen und sozialen Entwicklung.
Der erste Teil des Buches umfasst die Erinnerungen von Herta Reich, in welchen sie über Alltägliches und über heute fast Vergessenes bzw. Verdrängtes spricht. Sie berichtet über ihr glückliches Leben in der kleinen obersteirischen Industriestadt Mürzzuschlag und dem jähen Ende dieses Glücks. „Zwei Tage Zeit, um zwanzig Jahre meines jungen Lebens zurückzulassen“, sollte sie 50 Jahre später jenen Zeitpunkt nennen, an dem sie gezwungen wurde, Mürzzuschlag zu verlassen, da sie Jüdin war. Herta Reich schildert ihre Flucht aus Österreich, das seit dem 12. März 1938 ein Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reiches war, die Erniedrigungen, denen sie und andere ausgeliefert waren, und sie schildert das Schicksal eines illegalen jüdischen Flüchtlingstransportes, der später den Namen Kladovo- Transport bekommen sollte.
Ihre Erinnerungen zeichnen ein erschütterndes und berührendes Bild ihrer sechs Jahre dauernden Flucht vor den Nationalsozialisten, die 1944 mit der Ankunft in Palästina endete.
Die Geschichte der „gescheiterten Flucht“ des Kladovo- Transportes (so auch der Buchtitel ihres 1993 erschienenen Buches) zeichnen Gabriele Anderl und Walter Manoschek in ihrem Beitrag nach und ordnen so die außergewöhnliche Flucht und das Überleben von Herta Reich in die Geschichte der illegalen Einwanderung nach Palästina ein. Während Herta Reich und eine kleine Gruppe polnischer Juden nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Jugoslawien 1941 entkommen konnten, wurden alle anderen zu diesem Zeitpunkt noch in Jugoslawien befindlichen Flüchtlinge des Kladovo- Transportes ermordet. Dabei spielten zwei Österreicher – der Wehrmachtsgeneral Franz Böhme und der SS-Untersturmführer Herbert Andorfer eine führende Rolle.
Im Beitrag „Plötzlich waren sie alle weg“ werden die Erinnerungen von Herta Reich als Ausgangspunkt genommen, um das jüdische Leben in Mürzzuschlag im 19. und 20. Jahrhundert nachzuzeichnen. Neben einem bescheidenen jüdischen Leben ist in Mürzzuschlag – wie in vielen anderen Orten Österreichs auch – ein Aspekt durch all die Jahre hin wahrnehmbar: der Antisemitismus. Dieser reichte vom „Fremdenverkehrs-Antisemitismus“ über die öffentlichen Aufforderungen, nicht bei Juden einzukaufen, bis hin zur Beraubung ihrer Geschäfte – der .Arisierung“ – und der Vertreibung der wenigen 1938 noch hier wohnhaften jüdischen Familien. Das Ehepaar Haas konnte sich nicht mehr retten und wurde in Mali Trostinec ermordet.
In der biografischen Skizze .Herta Reich und ihre Familie“ wird ein Bogen von der Herkunft der Familie Eisler bis zum Leben Herta Reichs und ihrer Nachkommen in Israel gespannt.
Und in einem abschließenden Beitrag werden die Bemühungen in Mürzzuschlag geschildert, ein bleibendes Zeichen der Erinnerung zu setzen, die letztlich in der Namensgebung des Herta Reich-Gymnasiums und Realgymnasiums ihren Ausdruck gefunden haben.
Ein Glossar jüdischer und hebräischer Begriffe sowie eine Zeittafel ergänzen dieses Buch.
Wir widmen dieses Buch in Dankbarkeit dem Andenken Herta Reichs. Indem sie sich ihren schmerzhaften Erinnerungen gestellt hat, gab sie uns die Möglichkeit, uns mit den monströsen Seiten unserer Geschichte auseinanderzusetzen. Ihr Beispiel, ihre Persönlichkeit und ihre Menschlichkeit dürfen nie in Vergessenheit geraten.
Herta Reich und die Spuren jüdischen Lebens in Mürzzuschlag. Herausgeber: Heimo Gruber und Heimo Halbrainer, 212 Seiten, € 15,–, CLIO Verlag Graz 2014.