Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet23. Mai

Wie oft schon habe ich dem Einäugigen Erwin eingebläut, nichts zu essen, was in Regenbogenfarben schillert. Oder seltsam riecht. Oder sich an den Rändern wellt. Oder eingetrocknet ist. Und was macht er? Kommt bei mir vorbei mit einem Extrawurstblatt im Schlepptau, das ständig von einer Regenbogenfarbe in die andere changiert, und seltsam riecht, und sich an den Rändern wellt, und eingetrocknet ist, und fragt mich, ob ich davon kosten wolle! Gefragt hat er genaugenommen nicht. Vielmehr streckte er mir kauend und schmatzend diesen vergammelten Teil entgegen. Mein heftiges Kopfschütteln quittierte er mit einem Schulterzucken. Nachdem er das letzte Stück hinuntergewürgt hatte, bot er an, mich in die weite Welt zu begleiten.
„Da warst du doch länger nicht“, bemerkte er.
Ich lehnte ab. Wenn ich die Luft der weiten Welt schnuppern oder mir die Meeresbrise um die Ohren wehen lassen will, mache ich das alleine, dazu brauche ich Erwin nicht, der dann stets mit seinen Erinnerungen an seine Abenteuer als Schiffsratte prahlt. „Und beim Zweikampf mit dem Kapitän der ‚Mausolos‘ hab ich mein linkes Aug verloren.“ Dazu brauche ich auch seine Bemerkungen nicht wie „Ja, Leo, wir zwei haben‘s immer gewusst: Wien liegt am Meer“ – und haut mir dabei mit seiner Pranke auf die Schulter – oder „Strafft die Segel, der Wind Richtung Wiental ist gerade günstig!“ oder „Schiff ahoi, Leo, und pass auf, dass du nicht vom Kurs in die Matrosengasse abkommst!“.
Er winkte zum Abschied und bog behände in die Millergasse ein; ein Tempo, das man einer so alten Ratte – Erwins Berichten nach, müsste er mindestens dreihundertfünfundsiebzig Jahre alt sein, haha – nicht zutrauen würde. Noch dazu einer Ratte, die ihr linkes Auge im Kampf gegen den Kapitän eines Schiffes verloren hatte, das nach einem persischen Regenten benannt war.
Aber Erwin hatte natürlich recht. Es ist wieder einmal an der Zeit, die Matrosengasse aufzusuchen. Gleich morgen will ich mich auf den Weg machen, denn jeder hat seine urbanen Wunder.

Die Fortsetzung folgt am 30. Juni 2015.

Alle bisherigen Abenteuer finden Sie hier.

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