Erzaehlung aus dem Erzgebirge
Von Margarete Steger
Das Dorf hatte unter dem Krieg gelitten. Das Schlimmste war wohl, dass so viele Vaeter, Soehne und Brueder nicht mehr nach Hause kamen. Sie blieben im Felde. Marianne dachte damals, dass alle Kriege auf Kornfeldern stattfinden. Die Namen der vielen Gefallenen hatten keinen Platz mehr am Kriegerdenkmal. Man fuegte einen grossen, glattpolierten Stein hinzu. Der Steinmetz, der auch der Totengraeber des Dorfes war, gravierte in grossen Lettern als oberste Zeile: Den Gefallenen beider Kriege. Das Kind Marianne wollte vom Großvater wissen: „Großvater, kommt keiner mehr? Ist das der letzte Krieg?“ Der hochbetagte Altbauer des Fischergutes war der einzige Mann am Bauernhof. Der Vater und auch die Knechte waren alle zum Kriegsdienst eingezogen worden. Der Altknecht hatte sich sogar darueber gefreut, dass er die Musterung bestanden hatte. Er steckte sich ein gruenes Zweiglein vom Buchsstrauch an den Hut, tanzte durch den Ort und versoff beim Lindenwirt einen halben Jahreslohn.
Von einigen Maennern hatte man Feldpost erhalten und wusste, dass sie am Tag der Aufgabe des Briefes noch lebten. Das Kriegsende nahte und mit ihm naeherte sich auch das Ende des Mordens und das Gräuel des Krieges. Die Ueberlebenden schleppten sich nach Hause. Wer nicht in Kriegsgefangenschaft geraten war, versuchte das zu erreichen, was einmal sein zu Hause war, um zu erfahren, wer noch lebt und wer am Schlachtfeld geblieben war. Viele Menschen, besonders die aus den Lagern befreit wurden, konnten keine Heimat mehr finden, denn alles war zerstoert und die Angehoerigen umgebracht.
In dieser Zeit war das vierzehnjaehrige Kind Marianne in der Obhut des Großvaters geblieben. Es gab am Fischergut eine Kammer, die ein richtiges Versteck war. Sie war auch als solches gebaut worden. Direkt ueber der Scheuneneinfahrt, durch Stroh und Heu verdeckt, war ein Verschlag, schmal, doch lang, dass er nicht auffiel. Dort verbargen sich neun Frauen. Das Kind Marianne und die greise Schwester des Altbauern, die Annatant, waren in der Stube. Im Verschlag hatte man zu essen, denn Marianne brachte zur Scheune taeglich einen gefuellten Henkelkorb. Die Angst war gross. Die Besatzungssoldaten, die nun ins Land kamen, waren durch Krieg und Entbehrung hemmungslose Pluenderer geworden. Sie zogen in Horden uebers Land und wollten das, was sie monatelang entbehren mussten: Nahrung, Schnaps und Frauen. Manche gaben sich mit einer Taschenuhr zufrieden.
Die Besatzer wurden schon im nahen Ort gesichtet. Zum Hof war es von dort nicht mehr weit. Furcht ueberkam die Alte Annerl. Sie begann wie wild zu beten und dabei zu jammern. „Nimm dich zusammen Schwester. Denk an das Kind.“ Das Gesicht des Kindes war blass geworden. Sein Mund zu einem Strich geschrumpft. Marianne drueckte sich noch naeher an den Großvater. Der nahm ihre zarte Hand in die seine. Sein fester Blick sagte: „Verlass dich auf mich.“ Ein dumpfes Trommeln war zu hoeren noch ehe das Motorengeraeusch zu den Wartenden drang. Die Urangst der Menschen vor herannahenden Kriegern erfasste nun auch den alten Herrn. Er sass ruhig und wartete auf das nahende Unheil. Die Tuere flog auf. Ein Huehne in Uniform, mit einem auf die Menschen gerichteten Gewehr stampfte in die Stube. Er rief laut Silben und Worte, die keiner verstand. Der Großvater gab ihm seine Taschenuhr. Sie verschwand in der Uniform. Dem Eindringling wurde eine Flasche Schnaps gereicht. Der Fremde, durchschritt das Zimmer. Er blieb vor dem Tisch stehen, an dem das verschreckte Grueppchen sass. Er hielt kurz inne. Dann deutete er mit seinem Gewehr auf Marianne. Das Kind wusste was gemeint war. „Mitkommen“ hieß diese Geste. Das Kind dachte nicht weiter. Marianne stand auf und wollte ihre Hand aus der des Großvaters loesen. Der alte Herr versuchte, den Knoten der Finger mit seiner anderen Hand zu entflechten. Der Alte dachte an die nun kommende Vergewaltigung des Maedchens. Er dachte an die Geschlechtskrankheiten, die die Soldaten haeufig verbreiteten. Es koennte auch eine Schwangerschaft entstehen. Der alte Herr dachte an seinen Sohn, der ihm das Kind anvertraut hatte. Haette er Marianne nur in dem Versteck belassen. Das Kind wollte raus. Es wollte den Gestank der versteckten Frauen nicht mehr haben.
Des Altbauerns Gedanken rasten dahin. In diesen Minuten zog nicht nur sein Leben vor seinem geistigen Auge vorbei, sondern auch das Leben aller am moerderischen Krieg beteiligten. Warum war das Kriegsunheil wie ausgeschuettete Jauche in alle Ritzen und Taeler gedrungen? Wer wollte den Krieg? Wer hasste wen? Wer sollte oben sein, wer unten? Warum wurde seine Heimat zerstoert? Gibt es Leben ohne Wert? Weshalb das Morden? War der fahrende Haendler, der regelmaessig das Gut aufsuchte, nicht wert sein Leben zu behalten; nur weil er Jude war? Der Großvater blickte in das flache Mongolengesicht und dachte: „Du wirst wohl auch eine Mutter oder eine Schwester haben.“ Großvater stand auf und Marianne mit ihm. Nun wollte er die verschlungenen Haende loesen. Auch Marianne war bemueht, aus der Fingerumarmung zu kommen. Der Soldat wurde ungehalten und schlug mit dem Gewehr auf den Tisch. Dem Soldaten wurden die verschlungenen Finger gezeigt. Er selbst versuchte nun sie zu loesen. Als er merkte, dass die Handflaechen und die Finger zusammengewachsen waren, wurde er bleich und verliess das Haus. Die Hand des Alten und die der Enkeltochter loesten sich, nachdem die Furcht vor dem Unheil vergangen war.
Nach etlichen Tagen wagten sich die versteckten Frauen aus ihrem Verschlag. Die Geschichte der verschlungenen Haende wurde verbreitet und macht die Runde durch das Erzgebirge. Marianne blieb zeitlebens mit ihrem Großvater eng verbunden. Sie ist heute Grossmutter und ihrem Großvater dankbar, dass sie nicht hassen muss.