Erinner-Dinge an Papa und andere Verstorbene
Bald ist es wieder soweit. Die Zeit um Allerheiligen und Allerseelen ruft in Erinnerung, was allen Lebewesen gemeinsam ist: Sterben und Tod.
Wären wir nicht glücklicher, wenn wir ewig lebten? Dass diese Idee – konsequent zu Ende gedacht – vielleicht nicht gar so verlockend ist, zeigt das Gedicht „Wenn du niemals“. Würde man sich trotzdem auf eine Reise mit der Bahn freuen? Macht es Sinn, das Schwimmdiplom zu bestehen? Eindeutige Antworten gibt es darauf nicht, auch nicht in dem in jeder Hinsicht bemerkenswerten Buch „Überall und nirgends“. Zum Glück.
Verlassensein, Fassungslosigkeit, Unfassbarkeit, Erinnerung; die Trauer um eine/n Verstorbene/n, die Frage nach dem eigenen Tod zeigt sich in einem Koffer von Papa, im leeren Sessel eines Klassenkameraden, in der Feststellung, dass Hochhäuser abgerissen werden, Züge weiterfahren, die Menschen reden und lachen, alles „ohne dich“. Sie zeigt sich aber auch darin, dass man dem verstorbenen Haustyrannen noch eines auswischt.
„Überall und nirgends“ ist eines der wenigen Bücher für Kinder (empfohlen ist es ab 8 Jahre) und Erwachsene, das den Themen Selbstmord („Aus eigener Kraft“), Hospiz („Hospiz“) und dem Tod von Frühgeborenen („Zu klein“) einen Platz bietet. Es stellt die kluge Frage nach einer Existenz vor dem Leben „War ich schon, bevor’s mich gab?“ („Davorseits“). Es verdeutlicht, dass gutgemeinte Trostworte wie „Für ihn war es am besten.// Kopf hoch, du bist noch jung,/das wird schon wieder“ besser nicht gesagt werden („Besser nicht“). Es bringt eine/n darauf, dass es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, als Katze wiedergeboren zu werden („Gepard“).
Das Ende ist nicht ausschließlich schwarz, oder mündet in einer Erdbestattung, oder ist das alleinige Refugium des Sensenmannes. An manchen Orten in der Welt kommen die Geier zu Hilfe („Himmelsbegräbnis“), anderswo werden Sterbende auf einen Berg hinauf getragen („Narayama“) oder die Lebenden feiern mit den Toten („Fiesta de los Muertos“).
Sylvia Weves Illustrationen begleiten Bette Westeras Sprache. Die Bilder lassen unterschiedliche Zeichen- und Malutensilien (Filzstift, Kreide, Tusche, Wasserfarben) und Stile erkennen. Raffiniert die Idee, aus einem Fingerabdruck „Omas Mantel“ zu kreieren wenn der Kleidung der Verstorbenen etwas ganz Wichtiges beigelegt werden muss.
„Bevor wir ihre Sachen zum Altkleiderladen bringen,
stecke ich in Omas Manteltasche rasch ein Stück Papier,
damit die fremde Frau, die irgendwann
den Mantel kauft, auch lesen kann,
er war von Oma. Denn das schreib ich ihr.“
Für „Ohne dich“ zum Beispiel malte Sylvia Weves mit brauner/schwarzer (Wasser-)Farbe eine Stadt. Auf den ersten Blick ähnelt das Bild einer krakeligen Kinderzeichnung, beim genauen Hinschauen jedoch lassen sich viele gekonnt gesetzte Details erkennen. Ein gelungenes Beispiel dafür, dass Illustrationen nicht nur „schmückendes“ Text-Beiwerk sind, sondern eigene Geschichten erzählen.
Ein besonderer Kniff ist die Gestaltung einiger Seiten hinsichtlich ihrer Größe. Nur halb so breit wie das Buchformat korrespondiert das Motiv auf einem Bild mit jenem auf der Folgeseite. Eine Raupe im rechten oberen Eck wird beim Umblättern Teil einer Girlande. Der Vorderkörper eines Geparden wandelt sich zu einer Katze, eine Tasche gibt plötzlich den Blick in einen Koffer frei. Apropos Kniff und speziell:
Die Titel der insgesamt 46 Gedichte finden sich in einem nicht gewöhnlichen Inhaltsverzeichnis.
Rolf Erdorf übersetzte Bette Westeras Gedichte aus dem Niederländischen ins Deutsche. Böse Zungen behaupten zuweilen, das sei keine große Sache, weil die beiden Sprachen eh fast gleich sind. Und die Lyrik, das sei doch Jacke wie Hose. Dem ist aufs Entschiedenste zu widersprechen. Luftig, zart, raffiniert, witzig, traurig – eine Poesie, die berührt und zu Herzen geht, ohne sentimental zu werden.
Verbeugung vor Rolf Erdorf.
Danke für das Wort Erinner-dinge.
Petra Öllinger
Bette Westera (Text) & Sylvia Weve (Illustration): Überall und nirgends
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf.
Buchgestaltung von Hans und Sabine Bocketing.
Susanna Rieder Verlag, München 2016
Halbleinen, gebunden, mit drei Lesebändchen, 112 Seiten, € 26.- (Ö)
Über Bette Westera
Über Sylvia Weve
© Cover: Susanna Rieder Verlag/BuchgestalterIn