„Der Titel ‚Nachrichten aus der Normopathie‘ bezieht sich auf einen Essay Lutz Holzingers, der im Sommer 2007 im Augustin erschien.
Die bestehenden sozialen Instanzen (Familie, Freundeskreis, Firmenleitung, Arbeit- und Sozialamt, Hausverwaltung, Exekutive, Verein, Partei usw.), mit denen man fortwährend zu tun hat und mit denen die Welt gepflastert zu sein scheint, fühlen sich berufen, Menschen ständig zu wiegen und häufig für zu leicht zu befinden.
Mit der Unterstellung, jemand agiere pathologisch oder lege abweichendes Verhalten an den Tag oder sei schlicht nicht normal, wird geradezu herumgeworfen. Dieses Netz wird vom eingespielten Kontroll- und Herrschaftssystem so geschickt ausgeworfen, dass die Anpassung der meisten ZeitgenossInnen an die bestehenden Normen mehr oder weniger unbewusst vor sich geht bzw. hinter ihrem Rücken abläuft, obwohl diese Domestizierung erzwungen wird. …
Im Wiener Volksmund wird eine milde Abart dieses Menschentypus als Zwangler bezeichnet: ZeitgenossInnen, die in Fragen der Moral, Sauberkeit, Konformität usw. ein Übermaß an Anpassung an den Tag legen und so etwas wie vorauseilenden Gehorsam walten lassen. Diese Haltung ist meist mit übergroßer Vorsicht verknüpft und läuft im praktischen Lebensvollzug darauf hinaus, nur zu tun, was ausdrücklich erlaubt ist.
Es liegt auf der Hand, dass derartige zwanghaft agierende Personen als Untertanen der Obrigkeit gerade recht sind. Um frei entscheidende Individuen, die ihr Tun und Lassen nach ihrer eigenen Überzeugung steuern und die als grundlegend für das Funktionieren entwickelter Demokratien und lebendiger Bürgergesellschaft betrachtet werden, handelt es sich nicht. Das krankhafte Streben nach Normalität ist nicht auf Menschen beschränkt, die über jeden Verdacht erhaben sind.
Lutz Holzinger: Nachrichten aus der Normopathie, Essays zum Zeitgeschehen, 189 Seiten, 18 Euro, Bestellungen an tarantel-wien@gmx.at