„Eine farbenfrohe Einladung zu irren.“
Der böse Wolf ist immer die arme Sau. Bauch aufgeschnitten, Wackersteine eingefüllt bekommen, um hernach in den Brunnen zu stürzen und zu ersaufen. Anders bei Mara Burmester. Hier schafft er es sogar aufs Titelbild ihres Buches „Großmutters Pelz“. Darin heißt es: „Es war einmal ein böser Wolf, der war kein guter Mensch.“ – Ende vom Märchen Nummer 2.
Halt! Großmutters Pelz ist ja gar keine Märchensammlung. Das steht im Untertitel. Und die 16 Kürzesttexte („DRAMATISCHE Schicksale“) halten, was dieser Untertitel verspricht. Auch wenn in Mara Burmesters Arbeiten bekannte Zitate aus der Märchenwelt vorkommen wie „Es war einmal“ oder „Wenn Sie (ja, mit großem S!) nicht gestorben sind, dann …“ – haben der Froschkönig, das hässliche Entlein oder die Prinzessin auf der Erbse nichts Märchen-Zauberhaftes an sich. Sie erleben kein Happy-End, sind nicht einfach gut oder böse, eine moralische Lehre haben sie auch nicht zu bieten. Und eindeutige Antworten? Fehlanzeige, denn in „Großmutters Pelz“ steckt viiiiiel mehr als in herkömmlichen Märchen: absurd Komisches (ein Elch, der eigentlich ein Baum war), tragisch Komisches(ein stabhochspringender Hase, der sehr, sehr, sehr hoch sprang), Trauriges (ein fliegender Bär, der von dieser Eigenschaft nichts wußte), Gruseliges (ja, der Wolf).
Worin steckt die Moral der Texte? Das gilt es beim Lesen selbst zu enträtseln, ohne Garantie auf einfache Antworten. Falls es überhaupt welche gibt, wie das Märchen – Entschuldigung, das Nichtmärchen – „Die drei Schweinchen“ zeigt: „Es war einml ein Schweinchen, das saß gemütlich bei Kerzenschein und dachte, es wäre drei Schweinchen. Bis die Sonne aufging und es voll Entsetzen feststellte, dass das gar nicht stimmte.“ Das vermeintliche Borstenraufen als, wie es der Text auf der Verlagsseite verspricht, „eine farbenfrohe Einladung zu irren“.
Skurril, unheimlich, uneindeutig sind auch Mara Burmesters großflächige Illustrationen, die teilweise Collagenelemente enthalten. Vieles erschließt sich erst beim zweiten, dritten, vierten Blick. Da entpuppt sich das Auge auf dem Ei, das das hässliche Entlein anstarrt, als ein menschliches. Menschlich sind auch die Zähne, die der „Gaul und seine Plagegeister“ in seinem seltsam verzogenen Mund trägt. Damit nicht genug, spielt Mara Burmesters einerseits mit Textinhalten, andererseits mit deren grafischen Gestaltung. Jeder Text ist in einer anderen Handschrift und Farbe verfasst. Somit wird die Doppel- und Dreideutigkeit zusätzlich verstärkt. Blutrot steht es über den Wolf geschrieben da: „… der war kein guter Mensch.“ – das erinnert an Szenen aus einem Thriller, in dem mit dem Blut des Opfers eine „Nachricht“ hingeschmiert wurde. Die Prinzessin hingegen findet ihren Prinzen in zarter, brauner Faserstift-Schreibschrift nicht.
Wer dann noch immer nicht genug hat vom Schriftgestalten, findet auf der letzten Seite beim Copyright noch einen Augenschmaus.
Petra Öllinger
Mara Burmester (Text und Illustrationen): Großmutters Pelz. Keine Märchensammlung.
Kunstanst!fter Verlag, Mannheim 2015. 48 Seiten, € 20,60 (Ö)