Werner Lang: Berndgeschichten aus der Arbeitswelt

Werner Lang veröffentlicht mit „Berndgeschichten aus der Arbeitswelt“ eine berührende und zugleich zur Reflexion anregende Kurzgeschichte. In ihr zeichnet er auf der Grundlage eigenem Erlebens und genauer Beobachtung der Arbeitwelt die Lebenswirklichkeit der IndustriearbeiterInnen in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ein autenthischer Gegenentwurf zu der vonseiten der Politik lange Zeit verbreiteten Sichtweise auf Österreich als einer „Insel der Seeligen“.

Regionale Erzählung

(Übereinstimmungen mit Orten, Handlungen, Personen, sind rein zufällig.)

Rückblickend wird das Jahr 1974 in den Wirtschaftsberichten über Österreich allgemein als Zeit der Hochkonjunktur angeführt. Die Regierung Kreisky verkündete: „Hand aufs Herz, es ging uns noch nie so gut wie heute.“ Der Arbeiter Bernd war um diese Zeit im Stahlwerk „Schoeller-Bleckmann“ Standort Mürzzuschlag als Schnitzbinder beschäftigt. Er arbeitete erst seit kurzem in diesem Werk.

Davor arbeitete er in einer Brotfabrik bei Krieglach. Sie lag zehn Kilometer von seinem Wohnort, der Werkssiedlung Hönigsberg, entfernt. Da sein Gehalt als Bäcker zu niedrig war, um davon leben zu können, lag er den Eltern trotz Vollbeschäftigung noch auf der Tasche. Das heißt, sein Lohn reichte nicht für sein Auskommen aus. An eine eigene Wohnung war nicht zu denken. Darum bewarb er sich, nach Drängen seines Vaters, im Personalbüro bei Schoeller-Bleckmann Mürzzuschlag als Hilfsarbeiter, denn die Bezahlung war dort um ein Drittel höher, als bei seinem erlernten Beruf als Bäcker. Dazu kam noch, dass die Bäckerei mehr eine Dampffabrik war als eine Backstube. Sie bezeichnete sich selbst als Dampfbäckerei. Schon als Lehrling machte er die gleiche Arbeit wie die Gesellen, die dort beschäftigt waren, nur nicht so schnell. Es herrschte Arbeitsteilung. Jeder machte seine Schrittfolgen. Der Teigmischer war schon um drei Uhr in der Früh an seinem Kessel, um den Teig vorzubereiten. Bernd kam mit ein paar anderen Bäcker um fünf Uhr in der Früh in die Backstube, um den fertigen Teig zu klopfen und ihn in Form zu bringen. Alles andere erledigten die Maschinen. Das fertige Gebäck wurde in Zehnerpackungen an die Kaufhäuser ausgeliefert. Bernd ist in seiner Lehrzeit zu einem perfekten „Teigschläger“ geworden.

Schoeller-Bleckmann Werk Mürzzuschlag 1962.
Schoeller-Bleckmann Werk Mürzzuschlag
Sein Vater, der in den Schoeller-Bleckmann Stahlwerken Standort Hönigsberg, die zu dieser Zeit kurz vor der Fusionierung zu den Vereinigten Edelstahlwerken standen, als Sanitäter, arbeitete, wusste, dass im Werk immer wieder freie Stellen angeboten wurden. Dabei handelte es sich um sogenannte Bewährungsstellen, bei denen keiner gekündigt wurde, solange er sich nichts Gröberes zu Schulden kommen ließ, die aber von jedem erst einmal durchgehalten werden musste. Das sagte ihm sein Vater aber nicht, als er seinen Sohn drängte, in die Stahlfabrik zu gehen. Er übersetzte ihm nur, was die Sozialdemokratische Partei Österreichs in ihrer Zeitung, der „Neuen Zeit“, veröffentlichte: Wenn unser Werk fusioniert wird, gehört es zu einem Weltkonzern, der unsere Arbeitsplätze „trottelsicher“ macht. Der Vater von Bernd wusste, wie der Hase bei Schoeller-Bleckmann lief. 1974 hatte er schon über dreißig Jahre bei dieser Firma abgedient. Es arbeiteten auch seine Mutter als Putzfrau und sein kleiner Bruder als Schlosser in dieser Fabrik. Und sie verdienten alle drei mehr als er in seiner Brotfabrik. Die Erziehung zum Werksoldaten hatte er sich nicht sonderlich anstrengend vorgestellt, denn, so war die Meinung der Außenstehenden, die verstaatlichte Stahlindustrie sei eine „Geschützte Werkstätte“ gegenüber der Privatwirtschaft.

Eines Tages kam ein Brief vom Personalbüro Schoeller Bleckmann Edelstahlwerke – Mürzzuschlag, in dem Bernd mitgeteilt wurde, dass er als Hilfsarbeiter im Stahlwerk Mürzzuschlag aufgenommen wird. In einem Monat, am ersten Montag, um fünf Uhr in der Früh, habe er sich beim Portier am Haupteingang des Werkes Mürzzuschlag mit einem gültigen Ausweis zu melden.
Bernd kannte das Eingangstor des Stahlwerkes schon aus seiner Hauptschulzeit. Aus diesem Tor strömten um zwei Uhr mittags Hunderte Menschen. Zur gleichen Zeit verließ er meistens die Hauptschule in Mürzzuschlag, ging zur Bushaltestelle und wartete auf den Bus, der ihn nach Hause in den nächstgelegenen Ort Hönigsberg brachte. Ein eigener Werkszug, der regelmäßig zwischen den Arbeitsschichten von Hönigsberg nach Mürzzuschlag und umgekehrt verkehrte, brachte Bernd an seinem ersten Arbeitstag als Werksarbeiter fast bis zum Portiereingang innerhalb des Werkes. Der Portier schickte ihn weiter zum Personalbüro. Eine Sekretärin legte ihm einen Arbeitsvertrag vor, den er zu unterschreiben hatte. Bernd unterschrieb, ohne den Vertrag genauer durchzulesen. Auf den ersten Blick stand zu lesen, dass er zur Probe für einen Monat als Schnitzbinder aufgenommen wird. „Drei bis vier Monate müsse er das machen“, sagte ihm die Sekretärin im Personalbüro. „Schnitzbinder das ist ein Aussortierungsjob im Werk so wie die Stutzenputzer“, meinte sein Bruder, als er Bernds Arbeitsvertrag zuhause durchlas. Ein Vertrauensmann von der Adjustage, der die gleiche Richtung hatte und bei den Scheren vorbeikam, nahm Bernd mit, zeigte ihm seinen Umkleideraum, übergab ihm einen Schlüssel für seinen Spind und eine Montur. Ein Vorschneider brachte Bernd zu seinem Arbeitsplatz und zeigte auf einen Jugendlichen, den Bernd von seinen Sauftouren kannte. „Der wird dich in deine Arbeit einführen“, sagte er noch und verschwand um die nächste Ecke. Der Spitzname, des fast gleichaltrigen, aber schon alkoholkranken Arbeiters, war Jesus. Jesus gehörte zur „Giftszene“ von Mürzzuschlag. Der machte beim Anlernen der Arbeit für Bernd den Eindruck, als stünde er neben sich. Nach einer Stunde Anlernzeit war Jesus verschwunden.

Zeichnung eines Sendzimir-Walzwerkes
Sendzimir-Walzwerk
Er wurde in die Sendzimirabteilung zum Kaltwalzgerüst versetzt und bald danach gekündigt. Bernd war von diesem Zeitpunkt an bei seiner Tätigkeit als Schnitzbinder alleine auf sich gestellt. Seine Handgriffe, die er auszuverführen hatte, wurden ihm von seinen Arbeitskollegen aufgedrängt. Er fiel von einer Handbewegung in die andere, bis der ganze Arbeitsablauf vollzogen war und diese wiederholte sich ab jetzt immer wieder. Sein Vorarbeiter sagte ihm am zweiten Tag: „Diese Arbeit kann sich auch bis zu einem Jahr hinziehen.“ Wer durchhielt, wurde zum „Alltagstrotttier“ gemacht, versuchte Jesus, Bernd einmal bei einem Gespräch in einem Wirtshaus zu erklären. Es gab danach nichts mehr anderes für ihn als Schichtarbeit, Hackeln, Essen, Schlafen und wochenends betrinken. Es war damals im Allgemeinen in der Arbeitersiedlung Hönigsberg, unter jungen Männern bis zu ihrer Verheiratung so. Die Arbeit musste vom ersten Tag an bis zur Pension durchgestanden werden. Arbeit für immer, damit du dir Wohnung, Auto und Fernseher leisten konntest, war das erste Gebot in der Werkssiedlung von Hönigsberg. Dafür stand das Stahlwerk vor der Haustür. Die Frauen der Arbeiter mussten wohl oder übel den Rest vom Geld herbeischaffen. Einer verdiente zu wenig für zwei. Das hielt Bernd für die Emanzipation der Frauen in den Industrieregionen der Obersteiermark. Die Lebenserfahrung lehrte hier jeden: Nach dem ersten Geschlechtsverkehr auf irgendeinem Feuerwehrball folgte später, bei durchaus mehrmaliger Wiederholung des Gleichen, die Heirat, und damit der Besitz einer eigenen Werkswohnung. Tiefere zwischenmenschlichere Beziehungen als reine Arbeitsbeziehungen, die später auf Bernd zukamen, verstörten ihn nur. Der Frau fällt die Aufgabe zu, nicht nur ihre Kinder, sondern auch den Mann für das „Werk“ zu disziplinieren.

Um es vorwegzunehmen, Bernd starb in seiner elterlichen Wohnung, nach der Scheidung von seiner Frau, die zwei Kinder in die Ehe mitbrachte und mit Bernd einen gemeinsamen Sohn zeugte, um die Bindung zu erhöhen, zurückgezogen und krank mit siebenundvierzig Jahren. Seine Kräfte waren zu Ende.

Bernd war 1974 22 Jahre alt. Er war zu diesem Zeitpunkt ein frischgefangener Werksarbeiter und hatte ein Drittel mehr Lohn als bei seiner vorherigen Arbeit als Bäcker. Dies konnte er aus seinem Arbeitsvertrag herauslesen. Er wird es schaffen, davon war er von sich überzeugt, denn die, die von selbst gekündigt hatten, kannte er von den Wirtshäusern und die soff er unter den Tisch, auch Jesus. „Die von sich aus selber kündigen sind alle Weichlinge“, sagte er einmal zu seinem Bruder, der ihm zu brav erschien. Der war ein Stubenhocker und ein Sparer und auch nicht sehr beliebt bei seinen Arbeitskollegen, weil er in seiner Arbeitszeit für Saufgelage nicht zu überreden war. Überhaupt störte Bernd, dass dieser, obwohl er jetzt nach der Abschlusslehre als Schlosser gut verdiente, nicht auszog, damit er mehr Platz in der Wohnung seiner Eltern in Anspruch nehmen konnte. Aber nach dem Präsenzdienst wird er wohl ausziehen, das hoffte Bernd.

Nach Bernds Worten musste er als Schnitzbinder die Abfallreste der geschnittenen Bleche, die direkt von den Walzstrecken kamen und die vorher noch gespannt wurden und auf den Scheren in gleichmäßige Rechtecke geschnitten wurden, bei allen Scheren wegräumen. Er stand hinter der Schere und sammelte die abgeschnittenen Teile der Bleche, die dort hinuntergefallen waren auf und schlichtete diese in einen Metallbehälter. Sobald der Metallbehälter voll war, wurde er vom Kran abtransportiert. Bei einigen der streifenförmigen Abfälle waren die Enden sehr spitz. Darum wurde jedem Schnitzbinder eingebläut, sie in der Mitte anzufassen. Einmal erwischte er einen Reststreifen am vorderen Ende mit der linken Spitze seines Zeigefingers so unglücklich, dass er sich die Kuppe des Fingers abschnitt. Er spürte einen Schnitt, sah auf den Arbeitshandschuh, bemerkte, dass ein Teil davon fehlte, zog ihn aus und stellte fest, dass die Kuppe seines Zeigefingers fehlte. Vierzehn Tage später war Bernd schon wieder auf seinem alten Arbeitsplatz. Die Amtsärztin hatte ihn gesundgeschrieben.

Es war Akkordarbeit, so wie die ganze Blechscherenschneiderei – wie die Abteilung von ihm genannt wurde und es für ihn auf den Punkt brachte – mit ihrer Arbeitsteilung Akkordarbeit verbunden war. Jeder, vom Vorarbeiter über den Vorschneider bis zum Hilfsschneider waren darin alle mit eingebunden. Bernd musste funktionieren, sonst war es nicht nur für ihn ein Lohnverlust, sondern für alle, wenn es einen Stau bei den anfallenden Abfällen gab. Die Schnitze mussten rechtzeitig weggeräumt werden, um keinen Stau zu produzieren. Es war so. Wer mit dem eingestellten Schneidetempo nicht mitkam, musste ersetzt werden, auch der Vorarbeiter. Für die vorgeschriebene Maßeinstellung der zu schneidenden Bleche auf der Schere war letztlich der Vorschneider verantwortlich. Er bediente auch den Schneidebalken mit dem Fuß, der die Schere betätigte und so die Bleche auf das vorgeschriebene genormte Maß brachte. Der Hilfsschneider stand hinter der Schere und musste die Bleche in einer vorgegebenen Zeit zum richtigen Abstand der Schnittfläche bringen. Das war alleine, von der körperlichen Anstrengung aus betrachtet, eine schwierigere Arbeit, als der Vorschneider sie hatte. Der Vorschneider übernahm die Verantwortung für die Verschnitte auf seiner Schere. Die Bleche wurden auf die vorgeschriebene Norm oder auf die vom Kunden bestellten Längen und Breiten geschnitten. Dem Schnitzbinder blieb letzten Endes die „Trottelarbeit“ über. Es war aber nicht die Schwerarbeit und das Tempo der Arbeit, die einen zermürbten. Der Akkord war vom Tempo erträglich eingestellt; aber die Einfachheit und Beschränktheit der Arbeit war für ein menschliches Wesen nicht ertragbar. Meistens war die hierarchische Arbeitsteilung mit den Jahren der Zugehörigkeit in der Fabrik verbunden. Daraus resultierte auch der minimal ansteigende Lohn der Arbeiter. Ein Zähler, der die Scherenbetätigung in einer vorgegebenen Zeit mitzählte, war letztlich für die Höhe des Akkordlohnes ausschlaggebend. Sie wurde von den Technikern berechnet und vom Vorarbeiter eingestellt und überprüft. Und so wurde der Schnitzbinder vom ganzen Getriebe Tag für Tag, Woche für Woche und monatelang angetrieben. Er musste durchhalten, bis eine andere, ertragbarere Arbeit für ihn frei wurde. Je nach Schichtbetrieb von Montag bis Freitag kam er jede Woche zu unterschiedlichen Zeiten müde und abgespant nach Hause, aß etwas, vielleicht noch etwas Fernsehen, dann ab ins Bett, mehr ließen seine Kräfte nicht zu. Aber einmal wird es besser werden, so hoffte er. Durchstehen war die Devise. Manchmal konnte er nicht schlafen, weil er Krampfanfälle in den Beinen bekam, die durch die ungewöhnliche Stellung, die seine Arbeit mit sich brachte, hervorgerufen wurden. Samstags traf er sich mit anderen Jugendlichen zum Besäufnis. Der Rausch wurde als Freude erlebt. Sonntags konnte man sich einmal richtig ausschlafen. Keiner macht diese Arbeit länger als ein paar Monate. Für ihn war aber zu diesem Zeitpunkt noch kein Ende davon abzusehen.

Einen Monat vor den neuen Betriebsratswahlen tauchte in seinem Jausenraum ein Betriebsrat auf, den er manchmal in seinem Wohnort vom Vorbeigehen kannte, im Betrieb hatte er ihn aber noch nie gesehen. Seine Arbeitskollegen nannten ihn hinter seinem Rücken „Breschnew.“ Bernd hatte noch nie darüber nachgedacht, warum er diesen Spitznamen hatte. Dieser Betriebsrat sammelte Unterschriften für die Betriebsratswahlen, vergeblich, wie es schien. Auf der Liste waren erst zwei Unterschriften, die von anderen Abteilungen stammten, die Bernd nicht kannte, da er ja an seinem Arbeitsplatz durch die Akkordarbeit gebunden war, und so nie von der Scherenabteilung raus kam. Aber ein Vorschneider, der schon jahrelang bei der Postenübergabe zum Vorarbeiter übergangen wurde und der die Blechschneiderei wie seine Westentasche kannte, weil er schon alle dort zu verrichtenden Arbeiten durchgemacht hatte, überredete einige Anwesende im Jausenraum, für diese Betriebsratsliste zu unterschreiben. Ein weiter Grund war, dass ihre Schicht einen überforderten Vorarbeiter hatte, der nur auf diese Stelle gekommen war, weil er einen Gewerkschaftskurs absolviert hatte, und es wegen seiner Überforderung immer wieder zu Akkordlohnverlusten kam. „Der Vorarbeiter unserer Schicht kann die Arbeit nicht so rationell einteilen wie die Vorarbeiter der anderen Schichten und gehört darum weg“, meinte dieser Vorschneider. Und so unterschrieben fast alle Anwesenden im Jausenraum, sogar ein Kranführer, diese Unterstützungserklärung. Auch Bernd ließ sich dazu überreden, für diese Unterstützungserklärung für die Betriebsratswahl zu unterschreiben. Er wollte so nur seine Zugehörigkeit zu seinen Kollegen festigen. Jetzt war er einer von ihnen. Er wurde als Kollege aufgenommen.

Eine Woche vor den Betriebsratswahlen suchte ein anderer Betriebsrat Bernd auf seinem Arbeitsplatz auf. Bernd hielt ihn für einen Angestellten, denn er war in Straßenbekleidung und in keiner Montur, wie alle anderen Arbeiter im Werk. Er stellte sich als Betriebsrat der sozialistischen Fraktion vor und sagte zu Bernd, dass er in seiner Jausenzeit in die Kanzlei des Betriebsratsobmannes kommen soll. Er, damit meinte er Bernd, habe einen Blödsinn gemacht. Bernd erkannte jetzt den Betriebsrat. Den traf er manchmal auf seinen Sauftouren durch die Wirtshäuser. Bernd schätzte ihn als einen feinen Kerl ein, denn er ließ ab und zu ein paar Runden springen. Sonst kannte er nur zwei oder drei Betriebsräte und ein paar Vertrauensmänner in seiner nächsten Arbeitsumgebung, die aber nie in ihrer Funktion als Betriebsräte bis jetzt für Bernd aufgefallen waren. Er hatte noch keine Ahnung, wie gut die Sozialistische Partei in diesem Betrieb organisiert war. Keiner sprach darüber. Es wurde im Jausenraum auch nicht politisiert. Er wusste nur, dass einige im Werk, weil sie der Sozialistischen Partei angehörten, Karriere gemacht hatten. Er lernte sie schon als kleines Kind kennen, wenn hoher Besuch bei den Weihnachtsfeiern der Kinderfreunde angesagt war. Der Betriebsrat klärte Bernd darüber auf, dass im Betrieb die Gewerkschaftsführung und die Unternehmungsführung für die Belegschaft denken. „Ihr“, damit meinte er Bernt, „braucht nur nach dem ausgehandelten Zeittempo zu arbeiten. Wenn wir Sozialisten mit unserer Machtstellung in diesem Betrieb nicht wären, würdet ihr euch bei der Arbeit zerreißen“, behauptete er gegenüber Bernd noch, bevor er ging.

Was der Betriebsrat nicht sagte, wie schnell oder langsam das Arbeitstempo auch ausgehandelt wurde, man wurde in den Arbeitsablauf hineingestellt und hat sich darin unter- und einzuordnen. Wie auch immer, Bernd soll ein Teil eines reibungslosen Produktionsprozesses werden.
Bernd wusste noch nicht, wo sich die Betriebsratskanzlei im Werk eigentlich befand. Er musste sich erst durchfragen. Als Bernd die Tür mit der Aufschrift Betriebsratskanzlei fand, trat er ein und stand in einem Vorzimmer. Die Sekretärin fuhr ihn an, dass er draußen warten soll, bis er aufgerufen wird. „Sie sind Bernd?“, fragte sie noch. „Ja“, sagte Bernd und wollte das Büro verlassen. „Jetzt bleiben sie schon einmal hier. Ich muss ihnen ja noch eine Zeitbestätigung aushändigen, die sie in ihrer Abteilung ihrem Vorarbeiter geben müssen, sonst könnten sie ja Stunden von der Arbeit weg bleiben und dann sagen: ´Ich war beim Betriebsrat`, das haben wir schon alles erlebt,“ sagte die Sekretärin noch. Dann wurde Bernd schon zum Betriebsratsobmann vorgelassen. Es war aber nur der zweite freigestellte Betriebsrat anwesend. Der Betriebsratsobmann musste zu einer Aufsichtsratssitzung, verkündigte ihm sein Stellvertreter und er habe jetzt diesen Blödsinn hier zu bearbeiten. „Um es kurz zu machen“, sagte er, als er sein Gesicht von einer Mappe hob, die vor ihm lag und Bernd ins Gesicht blickte: “Bernd, Du hast bei den Kommunisten unterschrieben. Wir sind hier alle Sozialdemokraten, wie Du weißt. Wenn Du Deine Unterschrift nicht zurückziehst, können wir Dir nicht mehr helfen. Du kannst noch eines machen und das lege ich Dir nahe, du kannst sagen: ´Ich habe nicht gewusst, dass ich für die Kommunisten unterschrieben habe, und ziehe meine Unterschrift zurück`, oder deine Unterschrift auf der Liste der Kommunisten ist gefälscht und du hast gar nicht unterschrieben, na ja da sieht sie mir zu genau nachgemacht aus. Am Besten ist, meine Sekretärin setzt einen Text auf, in dem Du deine Unterschrift, die irrtümlich auf die Liste der Unterstützungserklärung der Kommunisten gekommen ist, zurückziehst. Morgen oder übermorgen wird jemand von uns bei deinem Arbeitsplatz vorbeischauen und Du kannst das dann unterschreiben.“ Bernd begriff das Ganze nicht und sagte Ja und ging mit einer Zeitgutschrift, die aber nur für normale Arbeitszeit, und nicht für Akkordarbeitszeit, die ein bisschen höher bewertet wurde als die Normalarbeitszeit, zu seinem Arbeitsplatz zurück. Bis zu den Betriebsratswahlen kam kein Mensch mehr wegen dieser Angelegenheit zu ihm. Man hatte ihn wohl vergessen. Er lernte zum ersten Mal gelebte Demokratie kennen. Dieses Erlebnis hatte ihn in der Folge politisch geprägt.

Der Vater von Bernd, der wie erwähnt Sanitäter bei den Schoeller-Bleckmann Stahlwerken und nach der Fusionierung bei den Vereinigten Edelstahlwerken Standort Hönigsberg war und der auch als Subkassier bei der Sozialdemokratischen Partei fungierte, arbeitete in seiner Freizeit bei der Kinderorganisation der SPÖ – den Kinderfreunden. Bei einer Veranstaltung einen Tag vor den Betriebsratswahlen im Kinderfreundeheim, die von der Mutter und vom Vater von Bernd mitorganisiert worden ist, war auch ein freigestelter Betriebsrat der sozialistischen Fraktion aus dem Schoeller-Bleckmann Werk Hönigsberg anwesend. Dieser holte den Vater von Bernd beiseite und sagte ihm, dass „wir“ wissen, dass du, Bernd Senior als Sanitäter im Werk seit langem Tee stiehlst, den Du für die Belegschaft zubereitest. „Du nimmst jede Woche ein paar Beutel davon mit nach Hause. Wir haben den Portier als Zeugen. Verkaufst du ihn auch? Wenn Dein Sohn noch einmal etwas für die Kommunisten unterschreibt, werden wir Deinen Diebstahl zur Anzeige bringen. Ich weiß nicht, ob wir Dich dann noch im Werk als Sanitäter halten können. Wenn Du nicht die verantwortliche Stelle als Erziehungsberechtigter gegenüber deinen Söhnen wahrnimmst, müssen wir das in die Hand nehmen. Wir lassen uns von ein paar Wüterichen den Betriebsrat nicht wegnehmen. Wir hängen alle sozialpolitisch daran. Du weißt, wenn man Betriebsrat wird, bekommt man automatisch den höchsten Arbeitslohn bei uns in der Verstaatlichten. Nur so fallen auch für die Kinderfreunde leichter Spenden ab.“

Am Tag der Betriebsratswahlen hatte Bernd von der sozialistischen Fraktion einen Stimmzettel erhalten. Stimmzettel von anderen Fraktionen, obwohl die Listen des Österreichischen Arbeiter und Angestelltenbundes und des Gewerkschaftlichen Linksblockes auch kandidierten, bekam er nicht zu Gesicht. Jede Abteilung hatte ihr Wahllokal in den eigenen Jausenräumen eingerichtet. Bernd bekam bei der Stimmabgabe, so wie die ganze Belegschaft, die an den Betriebsratswahlen beteiligt war, vom Wahlhelfer ein gelbes Kuvert. Als er hinter eine für die Wahlen errichtete Abdeckung ging und den Stimmzettel in das Kuvert schob, bemerkte er, dass man durch die Kuverts hindurch den Stimmzettel lesen konnte, also nahm er den Stimmzettel wieder heraus, faltete ihn zusammen, steckte ihn wieder in das Kuvert und wollte es in die Urne werfen. Einer von der Wahlaufsicht, der hinter der Urne saß, nahm Bernd das Kuvert aus der Hand und warf es in die Urne.
Einen Tag nach den Betriebsratswahlen, als feststand, dass der GLB aus dem Betriebsrat hinausgewählt worden war, kam Bernds Vorarbeiter, Onkel und Vertrauensmann von der Sozialistischen Partei, auf ihn zu und sagte: „Bei der Spannmaschine wird ein Arbeitsplatz frei. Wenn Du nie mehr die Unterstützungserklärung der Kommunisten unterschreibst, bekommst Du diesen Arbeitsplatz.
Obwohl relativ viele Halbtagsbauern in dem Betrieb arbeiteten, schaffte es ein ÖAABler gerade noch in den Betriebsrat und die Sozialdemokraten erreichten wieder neunzig Prozent der Stimmen, die sie vor drei Jahren schon innehatten.

Aber Bernd hatte es geschafft. Er übernahm die Arbeit auf der Spannmaschine. Die Arbeit war leichter und der Lohn war besser als beim Schnitzbinden. Und er lernte auch dazu. Als die Mehrheit der Beschäftigten von Bernds Abteilung ihren Vorarbeiter, den Onkel von Bernd, als untragbar abwählten, schloss sich Bernd dieser Mehrheit an. Als Bernd verheiratet war, bekam er auch eine Werkswohnung zugesprochen. Nach ein paar Jahren wurde die Spannmaschine computergesteuert. Die Handarbeit fiel für ihn weg. Die einzelnen Scheren wurden stillgelegt und eine automatische Scherenstraße errichtet. Weil Bernd Mitglied der Sozialdemokratischen Partei wurde, war sein Arbeitsplatz abgesichert. Nicht die Begriffe Demokratie und Sozialismus lernte er als Parteimitglied kennen, sondern ein alltäglich erlebtes „so ist es.“ Als einmal in der Jausenzeit der Vorschneider beim Lesen einer Tageszeitung aufblickte und dahinmurmelte: „Der Broda mit seiner Justizreform, und wer hilft uns hier, in unserer lebenslänglichen Gefangenschaft, bei unserer Hefenarbeit“, fiel Bernd dazu nichts ein. Er hat sich zu einem Esel der Industrie verwandelt. Bei den anfallenden Rationalisierungen in den 1980er Jahren wurden andere in die nächstgelegenen Standorte der VEW – vierzig Kilometer entfernt – versetzt oder frühpensioniert. „Nach harten Verhandlungen wurde das Bestmögliche für die Belegschaft herausgeholt“, konnte man in der Gewerkschaftszeitung, die der sozialistischen Fraktion nahestand, lesen. Für eine Frühpensionierung war Bernd noch zu jung, obwohl er sie gerne in Anspruch genommen hätte. Bei allgemeinen Wahlen wählte er heimlich die Freiheitliche Partei Österreichs, weil sein Freund und Saufkumpane, der die zweite Schicht von der Spannmaschine überhatte, auch die Freiheitliche Partei wählte. Der war im Ort als Schläger und Wirtshausraufer bekannt und war verärgert über die Gewerkschaft, weil sie ihn wegen seiner Vorstrafen vom Dreher zum Hilfsarbeiter degradierte. Die gleichen Betriebsräte hatten Jahre zuvor circa vierzig Arbeiter an einen anderen Standort der VEW strafversetzt, weil sie einer anderen Gewerkschaftsfraktion angehörten als der sozialistischen, darunter befand sich auch sein Bruder. Bernd sagte zu diesem Vorfall, dass man jetzt endlich mit den „Owezaran“ Schluss gemacht hat. Die politische Opposition wurde so allmählich vernichtet. Sie sollte sich erst Jahre später, aus Mangel der sozialistischen Gewerkschaftsfraktion an der eigenen Fähigkeit sozialpolitisch zu arbeiten, wieder neu bilden. Bernd und seine Eltern starben in der Zeit der Umstrukturierung, als die VEW zerschlagen und der Rest davon privatisiert wurde. Sein Bruder musste, wie so viele andere diese Region – seine Heimat – verlassen um wieder Arbeit zu finden. Ein Sohn von Bernd arbeitet noch in der Nachfolgefirma der VEW, bei Böhler-Uddeholm Standort Hönigsberg. Von den ca. 2200 nach der Fusionierung 1975 bei der VEW-Standort Mürzzuschlag-Hönigsberg Beschäftigten blieben nach ihrer Zerschlagung und Privatisierung ca. 500 bei den Edelstahlwerken Böhler-Uddeholm Standort Mürzzuschlag-Hönigsberg übrig.

Das Unternehmen geht auf die Bleckmann Stahlwerke AG, später Phönix-Stahlwerke Joh. E. Bleckmann zurück, die 1862 von Johann H. A. Bleckmann gegründet worden waren, und die 1924 mit den Ternitzer Schoeller Stahlwerken zu den Schoeller Bleckmann Stahlwerken fusionierten. 1946 wurde sie verstaatlicht. 1975 wurden die Vereinigten Edelstahlwerke (VEW), eine Tochter der VOEST gegründet. In den1980er/90ern wurde die Privatisierung der österreichischen Stahlindustrie vollzogen (Austrian Industries AG, ÖIAG – Österreichische Industrieholding AG) und die ehemalige Stahlgruppe aufgespalten.
1991 wurde die Böhler Bleche GmbH gegründet, und mit dem Kauf der schwedischen Uddeholm-Gruppe durch die VOEST kamen die ehemaligen Bleckmann Stahlwerke zur Unternehmensgruppe Böhler-Uddeholm. 1997 wurde die Firma in eine GmbH. & Co KG umgewandelt (die heutige Böhler Bleche GmbH ist eine nichtoperative Beteiligungsgesellschaft)
2007 wurde die Firma mit ihrer Mutter Böhler-Uddeholm wieder in die voestalpine integriert.

Bildnachweis: Schoeller-Bleckmann Werk Mürzzuschlag 1962. Dokumentationsplattform schlot.at (http://www.schlot.at). Creative Commons-Lizenz: Namensnennung, keine kommerzielle Nutzung, keine Bearbeitung.

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