Vier MigrantInnenschicksale

Verschollen?

Die Lebensgeschichte von Maria Leitner steht für das Leben vieler Schriftstellerinnen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Sie wird 1889 in einer deutschsprachigen Familie in Ungarn geboren. Ab 1913 arbeitet sie als Journalistin in Budapest. Nach dem 1. Weltkrieg bzw. dem Ende der Ungarischen Räterepublik emigriert sie über Wien nach Berlin.

Ab 1925 durchquert sie drei Jahre lang den amerikanischen Kontinent. Bei ihrer literarischen Arbeit verlässt sie sich nicht auf den Blick von außen. Sie sammelt vielmehr in den unterschiedlichsten beruflichen Tätigkeiten, beispielsweise als Dienstmädchen und Zigarettendreherin, ihre Erfahrungen vor Ort.

Maria Leitner, Reportagen aus Amerika. Eine Frauenreise durch die Welt der Arbeit in den 1920er Jahren. Promedia Verlag, Wien. 256 Seiten. 24.- Euro.

Auf der „Schwarzen Liste“ der NationalsozialistInnen befindlich, muss sie 1933 untertauchen und kommt als Emigrantin über Prag nach Paris. Erst ab 1936 erhält sie wieder Aufträge, unter anderem bereist sie inkognito Deutschland und berichtet, wie sich das Land zum Krieg rüstet.

1940, nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Paris, wird sie von den französischen Behörden im Lager Camp de Gurs interniert. Ihr gelingt die Flucht nach Marseille, wo sie in extrem ärmlichen Verhältnissen im Untergrund lebt. Ihre Versuche, ein Visum für die Vereinigten Staaten zu erlangen, scheitern. Im Frühjahr 1942 wird sie ein letztes Mal, verzweifelt und krank, im Büro des American Rescue Committee in Marseille gesehen. Danach verliert sich ihre Spur.

Erst 2009/2010 kann Julia Killet im Rahmen ihrer Dissertation das Ende der „verschollenen“ Schriftstellerin klären. Sie stößt auf behördliche Dokumente, die ihren Tod infolge völliger Erschöpfung für den 14. März 1942 attestieren.

Vom Verfemten zum Vorzeigeobjekt

Ernst Glaeser (1902 – 1963) wählt einen anderen Weg. Anfang der 30er Jahre ist er ein international bekannter Autor. Der Roman „Jahrgang 1902“ mit seiner pazifistischen Tendenz trägt dazu bei, dass er sich gemeinsam mit Heinrich Mann und Erich Kästner im zweiten Feuerspruch wiederfindet. In ihm wird er der Dekadenz und des moralischen Verfalls geziehen und seine Bücher landen im Feuer.

Glaeser geht 1933, über eine Zwischenstation in Prag, ins Schweizer Exil. Vorerst schreibt er noch in Zürich den Roman „Der letzte Zivilist“, in dem er sich differenziert mit der schrittweisen Okkupation der „Köpfe“ durch die NS-Ideologie in Deutschland auseinandersetzt. 1939 lässt er sich ins faschistische Deutschland repatriieren.

Dort wird der früher verfemte Autor zu einem Vorzeigeobjekt der NationalsozialistInnen. Er darf, meist schreibt er unter dem Pseudonym Ernst Töpfer, wieder veröffentlichen – im 2. Weltkrieg arbeitet er journalistisch für die Wehrmacht.

Endstation Martinique

Kurt Kersten (1891 – 1962) und Robert Breuer = Lucien Friedlaender (1878 – 1943), zwei deutsche Journalisten und Publizisten, haben vorerst Glück. Sie gelangen wenige Stunden vor der offiziellen Kapitulation Frankreichs am 22. Juni 1940 im Hafen von Biarritz auf ein Schiff und erreichen gemeinsam mit einigen Hundert Flüchtlingen die marokkanische Hafenstadt Casablanca. Dort warten und hoffen sie auf ein Visum für die USA. Thomas Mann, zu diesem Zeitpunkt schon in den USA im Exil, verbürgt sich für die beiden. Allein, die Zeit vergeht, die Vichy-Regierung festigt ihre Regime in Nordafrika, und das erlösende Telegramm, das das US-Konsulat zum Ausstellen der Visa berechtigt, trifft nicht ein. Als es Kersten und Breuer endlich gelingt, sich einzuschiffen, verschlägt es sie nach Martinique. Von dort hoffen sie, weiter in die USA zu gelangen. Für Robert Breuer bedeutet Martinique das Ende seines Weges. Er stirbt in der Nacht zum 30. April 1943 völlig entkräftet an den Folgen der Malaria. Über seine letzten Stunden berichtet Kurt Kersten rückblickend:

„Da sah ich voller Schrecken einen alten ausgezehrten Mann mit fahlem, eingefallenem Gesicht, die abgemagerten Arme lagen wie dürre Stöcke auf der Decke des Feldbettes. Aus den einst leuchtend hellblauen Augen war jeder Glanz verschwunden, die aus dem bleichen, schon wächsernen Antlitz herausspringende Nase schien allein noch zu leben. […] Der Arzt sagte: ‚Wir haben keine Medikamente und auch nicht einmal die richtige Ernährung für unsern Freund, die Krankheit ist auch schon so weit fortgeschritten, daß man gar nicht mehr viel für ihn tun kann.‘ – ‚Welche Krankheit?‘ – Ein mitleidiger Blick traf mich, als sähe man mir nicht selber die Folgen des Hungers an: ‚Welche Krankheit?! Hunger!‘“

Aus: Frankfurter Hefte: Heft 3, März 1953, zitiert nach Wikipedia.

Kurt Kersten harrt in ständiger Gefahr, nach Frankreich zurückgeschickt und der Gestapo ausgeliefert zu werden, auf Martinique aus. Erst 1946 erreicht er völlig unterernährt die USA und sieht seine Frau seit 1940 das erste Mal wieder.

Den Schneeball zertreten

Wenn wir uns heute jener Menschen erinnern, deren Schaffen 1933 in Flammen aufging, die ins Exil gezwungen wurden und von denen viele die Befreiung vom Faschismus nicht mehr erlebten, erschließt sich uns nicht nur wunderbare und vielschichtige Literatur. Wir tragen damit auch dazu bei, dass die Erinnerung an die Namen und das Werk nahezu einer ganzen AutorInnengeneration für die Zukunft bewahrt wird.

Der Blick in die Geschichte bietet uns die Chance, aus der Vergangenheit, Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen.

„Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“

Aus: Erich Kästner „Über das Verbrennen von Büchern“, Ansprache auf der Hamburger PEN-Tagung am 10. Mai 1958.

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