Die türkische Lyrik ruht auf dem Fundament jahrhundertealter Traditionen und genießt zwischen „Bosporus und Ararat“ große Wertschätzung.
Anders als im deutschsprachigen Raum; hier müssen viele, nicht nur türkische LyrikerInnen, gegen ein bescheidenes Interesse an ihren Gedichten anschreiben.
Trotz dieser schwierigen Ausgangslage stoßen Übersetzungen aus dem Türkischen zunehmend auf Interesse. Nicht zuletzt aus der sogenannten Gastarbeiterliteratur entwickelte sich ein breites literarisches Schaffen türkisch-deutschsprachiger AutorInnen. Darunter befinden sich immer mehr Frauen wie Seher Çakir (1971), Siir Eroglu (1961) oder Gülbahar Kültür (1965). Das Gedicht „Fremde Flügel auf eigener Schulter“ von Zehra Çirak (1960) wurde in die vom Literaturwissenschafter Harald Hartung herausgegebene Anthologie „Jahrhundertgedächtnis – Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert“ aufgenommen.
Der Dichter Yunus Emre († um 1321) ist einer der ersten türkischen Volksdichter. Seine Dichtung ist geprägt durch islamische Mystik und die sozialen Konflikte seiner Zeit.
Kommt, lasst uns Bekanntschaft schließen.
Lasst die Dinge schlichter fließen.
Lasst uns in Liebe leben.
Niemand überlebt die Welt.
Im Laufe der Jahrhunderte ist die Volksdichtung immer wieder Sprachrohr gegen Unterdrückung und Willkür im Osmanischen Reich.
So wird der alevitische Dichter Pir Sultan Abdal (16. Jh.) für seine Gedichte, sie sind reich an Fantasie und sufistisch inspirierten Metaphern über Gott, die Natur und die Liebe zu den Menschen, hingerichtet.
Ich als Fluss, der sich im Meer verloren hat.
Ich als Rose, vor der Zeit erblüht und verwelkt.
Ich als kalte Asche – das Feuer ist lange erloschen.
Freund dein Leid entflammt in mir.
Aus dem Gedicht „Ötme bülbül ötme“
Rund vierhundert Jahre später, im Sommer 1993 versammeln sich Dichter, Schriftsteller und Musiker in Sivas, um im Rahmen eines alevitischen Kulturfestivals Pir Sultan Abdal zu gedenken. Das Hotel, in dem sich viele von ihnen aufhalten, wird angezündet. 35 der Autoren und Musiker überleben das Feuer nicht.
Bis ins 19. Jahrhundert gibt es einerseits wandernde Volksdichter und andererseits die „Diwan-Literatur“. Letztere ist mit dem osmanischen Hof verbunden und verwendet eine Sprachmischung aus Arabisch, Persisch und Türkisch. Auch ihre Vertreter, beispielsweise Seyhi, Fuzûli oder Nef’i, sind bis heute unvergessen.
An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert steht Tevfik Fikret (1867-1915). In seinen Gedichten verarbeitet er impressionistische Elemente. Er gilt als einer der Modernisierer der türkischen Lyrik.
Einer der ganz Großen unter den türkischen Dichtern des 20. Jahrhunderts ist Nazim Hikmet (1902-1963). Er schreibt über die Liebe genauso berührend wie über Verzweiflung, Not und Solidarität.
Leben wie ein Baum, einzeln und frei
doch brüderlich wie ein Wald,
das ist unsere Sehnsucht.
Aus dem Gedicht „Die Einladung“ (Davet)
17 Jahre verbringt Hikmet in türkischen Gefängnissen. Bis 1960 bleiben seine heimlich gelesenen Gedichte verboten. Er stirbt 1963 im Moskauer Exil.
Auch Ahmed Arif (1927-1991), ein kurdischstämmiger Dichter, ist aus politischen Gründen von 1950 bis 1952 im Gefängnis. Zeitlebens veröffentlicht Arif nur einen, jedoch viel gelesenen Band mit Gedichten: „Hasretinden Prangalar Eskittim“.
Der Schriftsteller, Lyriker und Philosoph Necip Fazil Kisakürek (1904-1983) lernt die türkischen Gefängnisse ebenfalls von innen kennen. Er wird wegen „starker Opposition zu Ismet Pasa und der Republikanischen Volkspartei“ einige Jahre eingesperrt.
Der türkische Romancier Yasar Kemal (1923)schreibt über die Schriftsteller seiner Generation:
„Es gibt praktisch keinen, der nicht durchs Gefängnis gegangen ist. Sabahattin Ali, der als erster Romane über die Bauern geschrieben hat, wurde ermordet. Hikmet war 17 Jahre im Gefängnis, Kemal Tahir 15 Jahre, Aziz Nesin 5 Jahre, Ahmed Arif, unser bedeutendster Lyriker der Gegenwart, 5 Jahre, Ruhi Su auch fünf Jahre. Auch Orhan Kemal saß lange Zeit im Gefängnis. Ich selbst war dreimal im Gefängnis. Das erste Mal mit 17 Jahren, dann wieder 1950, als ich gefoltert wurde. 1971 wurde ich wieder festgenommen, aber nach vielen internationalen Protesten wieder freigelassen. Es gibt keinen Zweifel – das Gefängnis ist die Schule der türkischen Gegenwartsliteratur.“
2008 wird er mit der höchsten türkischen Kultur-Auszeichnung, dem Kulturpreis des Präsidenten, ausgezeichnet. Bei der Entgegennahme des Preises nimmt er folgendermaßen Stellung:
„Dass mir dieser Preis zugesprochen wird, möchte ich als Zeichen dafür sehen, dass politische Standfestigkeit und der Kampf für Frieden und Menschenrechte nicht länger ein Grund zur Ausgrenzung sind und dass sich allmählich ein Weg zum Frieden in unserer Gesellschaft öffnet.“
Weiterführende Links:
Türkischdeutsche Literatur – Chronik einer Wanderung
Themenschwerpunkt: Türkische Literatur auf dem Weg nach Europa
Liste deutsch-türkischer SchriftstellerInnen
38 in Österreich lebende türkische Autorinnen und Autoren haben mit ihrer Lyrik zur Anthologie „heim.at. Anthologie türkischer Migration“, herausgegeben von Gerald Kurdoglu Nitsche beigetragen.
„Kultgedichte – Kült Siirleri“ (hgg. v. Erika Glassen und Turgay Fisekçi, Türkische Bibliothek, Bd. 14, Zürich, Unionsverlag 2008)
Der rote Faden der Türkischen Bibliothek: Zwanzig Bände versuchen einen Gesamteindruck von der modernen türkischen Literatur von 1900 bis zur Gegenwart zu vermitteln
Sehr interessanter Artikel! Man weiss wirklich zu wenig …