Vernünftige Visionen
Vielleicht sind Alpenrepubliken für Außenstehende ja grundsätzlich nicht so einfach zu verstehen. Der Sammelband „Wohin treibt die Schweiz?“ kann da zumindest eine Starthilfe leisten.
Er ist zusammengestellt aus Vorträgen, gehalten im Schauspiel Basel. Julie Paucker, junge Dramaturgin am Schauspielhaus, und Peer Teuwsen, Journalist, haben den Band herausgegeben und versprechen „gewagte Prognosen“, Provokationen und Visionen. Diesem Anspruch wird der Band leider nicht gerecht.
Wie der Beitrag von Jakob Tanner sind viele der Texte: historisch informativ, hier vor allem die kurzen Bemerkungen zum Aufstieg des Rechtspopulisten Blochers, aber außer einigen knappen Bemerkungen im Schlussabschnitt: zur Zukunft kein Wort.
Micheline Calmy-Rey, Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), beendet ihre Ausführungen mit der wenig originellen Formel, man habe zwar die Möglichkeit der Entscheidung, aber letztlich keine andere Wahl als der EU beizutreten. Kann man das wirklich eine Vision nennen?
Auch der renommierte Kinderarzt Remo Largo verweist vor allem auf Defizite des Ist-Zustands; zur Zukunft gibt er nur wenige, belanglose Stichworte.
Jürg Acklin gibt im sprachlich anregendsten Text des Bandes immerhin ein lebendiges Bild einer Kindheit und Jugend in den 50er und 60er Jahren. Aber auch er beschäftigt sich hauptsächlich mit der Vergangenheit – nicht mit der Zukunft. Acklin erklärt immerhin den Rücktritt der „alten Säcke“, aber seine Vision für die jungen Säcke fasst er in den wahrhaft provokativen und aufrüttelnden Worten zusammen: man solle lernen, „Unsicherheiten auszuhalten“!
Besteht das Problem also gerade darin, dass die Schweiz zu sehr mit ihrer Vergangenheit, mit der Wahrung des Erreichten beschäftigt ist?
Der Architekt Jacques Herzog kennzeichnet in seinem Vortrag genau dieses: Das „Schweizer Muster ist besonders erfolgreich im defensiven Bereich, beim Abwehren von Neuerungen. Aber es schwächelt, sobald es darum geht, eine Idee, eine Vision zu entwickeln, oder eben: sich ein Bild zu machen, wer wir sind und in Zukunft sein wollen“.
Der ehemalige Zürcher Regierungsrat Markus Notter kommt nicht weiter als Bedauern über den Verlust an Sachlichkeit in öffentlichen Debatten zu äußern, der Soziologe Ueli Mäder fordert eine Aufhebung der Ungleichheit der Einkommen, ohne eine Idee, wie das bedingungslose Grundeinkommen auch nur zu erwähnen, und der Strafrechtler Martin Killias plädiert für eine Entkrampfung in den Debatten um Migrationskriminalität – was immer daran visionär sein soll …
David Gugerli, ETH-Professor für Technikgeschichte, wirbt für „bescheidene, aber effiziente Entwurfstechniken“ – vernünftige Visionen also, die in ihrer bescheidenen Art sicher jede Provokation vermeiden.
Roger de Wecks temperamentvolle Aufforderung, alle Optionen des Verhaltens zur EU gedanklich durchzuspielen, lässt immerhin vermuten, dass der Abend, an dem die Rede gehalten wurde, nicht allzu langweilig verlaufen ist, aber zum zweiten Mal nach Calmy-Rey den EU-Beitritt als Vision zu verkaufen –ist das zukunftsweisend?
Alle Redner/innen sind Teil der intellektuellen, links-liberalen, sozialdemokratischen Elite der Schweiz, keine/r ist unter vierzig, um seine/ihre Zukunft muss keine/r von ihnen bangen. Vielleicht sind ihre Visiönchen deshalb so vernünftig. Aber gerade deshalb gibt der Band auch einen erhellenden Einblick in die grundkonservative Mentalität einer Alpenrepublik.
Hans Paul
Julie Paucker, Peer Teuwsen (HgIn.) – Wohin treibt die Schweiz? Zehn Ideen für eine bessere Zukunft. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2011. 160 Seiten, € 15,40 (Ö)