Spannender Stadt-Ort
„Besuch beim alten Knacker“ betitelte Roman David-Freihls im Juli 2008 seinen Beitrag im Rahmen von „FREISTADT – Die urbane Standard-Kolumne“. Vom alten Knacker ist nichts mehr übrig. Sein sich zurzeit im Zustand einer Riesenbaustelle befindliche Nachfolger wird Zentralbahnhof heißen. Oder Hauptbahnhof. Jedenfalls nicht mehr Süd- und Ostbahnhof.
Vom Wiener Stadtplan ist er verschwunden, „doch als Geist in der Stadt ist er für viele weiterhin präsent, wird sein früherer Standort im Gefüge der Stadt noch lange Zeit spürbar sein“, wie es im Vorwort zu „Wien Südbahnhof“ heißt; einem weiteren Büchlein (mit Lesebändchen!) der Reihe „Europa Erlesen“ aus dem Wieser Verlag. Der Herausgeber Thomas Kohlwein setzt dem letzten Vertreter der „Poetisierung der ‚hässlichen‘ Bahnhöfe“ 1 mit dieser Text-Zusammenstellung ein literarisches Denkmal.
Ein kurzer Ausflug in die Baugeschichte des Bahnhofes, einige Zeilen über dessen filmische Einsätze, Skizzen von Geschossplänen, dazwischen Zeichnungen und (historische) Aufnahmen. „Fotografischer“ Wermutstropfen: Teilweise finden sich keine Bildunterschriften, manche Abbildungen scheinen wie aus Versehen an ihre Stelle „gerutscht“ zu sein. Aber es lohnt, diese Anfangshürden zu überwinden, und dann heißt es: Einsteigen bitte! – Einsteigen in Textpassagen, in denen der „alte Knacker“ als spannender Stadt-Ort von Begegnungen, vom Ankommen und Wegfahren, von großen und kleinen persönlichen und geschichtlichen Dramen agiert.
So beweist Helmut Qualtinger in seinem „Fremdenverkehrsbrevier“, dass der Südbahnhof dafür sorgt, „daß jeder Eintreffende Wien im Zustand des Jahres 1945 kennenlernt“. George Eric Rowe Gedye zeichnet mit „Rette sich wer kann!“ ein bedrückendes Bild jener Bahnfahrt, auf die sich Menschen am 11. März 1938 begeben hatten, um den Nazischergen zu entkommen. Joseph Roth schreibt über die Abfahrt von Kindern, die von der sozialistischen Gemeinde Mailands zu einer Reise in „Die wunder-wunder-wunderschöne Stadt“ eingeladen worden sind. Von den Vorteilen eines aufgezeichneten Fernsehbeitrages statt einer Liveübertragung von Chruschtschows Ankunft am Ostbahnhof weiß Wolfgang Pensold zu berichten. Genauso turbulent gestaltet sich auch die Bestellung von Würsteln bei einem bahnhöfischen Würstelstand, die Gründe für die Verwurstelungen versucht Gert Jonke in „Südostbahnhof“ zu ergründen.
„Denn dieser Südbahnhof, auf dem man nicht mehr fror und sich fürchtete, das war natürlich nicht der wirkliche Südbahnhof …“ (Ingeborg Bachmann). Sentimentalität ob des abgerissenen Süd- und Ostbahnhofes ist nicht angebracht. Geschichten vom Ankommen und Wegfahren werden immer noch von Menschen getragen – auch im neuen Bahnhof.
1: Wolfgang Kos „Ort des Stillstands“ in „Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt“, herausgegeben von Wolfgang Kos & Günther Dinhobl. Czernin Verlag Wien, 2006. S. 421
Thomas Kohlwein (Hg.) – Europa Erlesen. Wien Südbahnhof. Wieser Verlag, Klagenfurt, 2010. 158 Seiten, Euro 12,95 (Ö).