Leo Perutz: Der Meister des phantastischen Realismus

Von Alexander Peer

Doppelt feierte und gedachte man des Prager Autors 2007: 125. Geburtstag und 50. Todestag bieten den Anlass dazu. Als ‚Quartalschreiber‘, über welchen der ‚Dämon des Schaffens‘ komme, der ihm ‚die Meisterwerke gleichsam diktierte‘, wurde Leo Perutz vom Weggefährten im palästinensischen Exil, Schalom Ben-Chorin, bezeichnet.

Dämonisch sind viele Perutz-Texte selbst zu nennen. Der verständliche, aber wenig ergiebige Drang, Romane in knappe Formeln einzupassen, unter welchen sie in der Textwelt bestehen können, hat auch den Perutz-Romanen zu Attributen verholfen, die einem differenzierten Verstehen im Weg stehen können und womöglich falsche Erwartungen aufkommen lassen. Liest man gründlicher, lösen sich die Etiketten freilich rasch. Die Literaturrezeption hat das Perutz-Werk grob in sechs „historische Romane“ und in sechs Gegenwartsromane eingeteilt, worunter auch die Gemeinschaftsarbeiten mit dem Dramatiker Paul Frank fallen. Wahlweise sind in einigen Arbeiten Elemente des Detektiv- und Krimigenres zu finden sowie Züge des Phantastischen. Fazit: Perutz kombiniert populäre literarische Genres und besetzt diese neu.

Phantastisch sind Perutz’ Roman-Konstruktionen allemal, das heißt bizarr, verworren und doch am Ende geradezu überklar, fast schon zu präzise ausgearbeitet. Die phantastische Literatur wie sie etwa Tzvetan Todorov charakterisiert hat, weist indes nur wenige Berührungspunkte mit Perutz’ Phantastik auf. Perutz hat dem „unzuverlässigen Erzähler“ geradezu ein Denkmal gesetzt. Das ist schon ein wesentlicher Unterschied zur phantastischen Literatur, bei welcher wir in aller Regel auf einen sehr verlässlichen Erzähler treffen, denn genau diesen benötigen wir, um die Unglaublichkeiten, die von ihm aufgetischt werden und die sich einer naturwissenschaftlichen Erklärbarkeit entziehen, annehmen zu können. Perutz hat auch – sieht man vielleicht vom „Mangobaumwunder“ ab – nie einen Text geschrieben, in dem physikalische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt sind. Im Gegenteil, der Versicherungsmathematiker Perutz war penibel daran interessiert, kausale Folgerichtigkeiten zu schaffen. Im „Meister des Jüngsten Tages“ und in „St. Petri Schnee“, aber auch etwa in Kurzgeschichten wie „Nur ein Druck auf den Knopf“ entwickelt er einander widersprechende Erzählperspektiven. Dietrich Neuhaus hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Indizienroman“ geprägt. Es ist so, als ob Leserin und Leser in den Trenchcoat von Peter Columbo schlüpften und den ambivalenten Hinweisen nachgehen müssten, um schließlich ihre eigene Textinterpretation leisten zu müssen: Ein jeder möge den Fall für sich lösen.

Der Verweis auf die Paraderolle von Peter Falk ist mehrfach berechtigt. Auch dramaturgisch arbeitet Perutz in sieben Romanen ähnlich wie wir es von der bekannten Detektivserie kennen. Ein fiktiver Herausgeber oder der Protagonist der Geschichte selbst liefern im ersten Kapitel das Resultat des Romans. Wüsste man in herkömmlichen Romanen von Anfang an um die Identität des Mörders Bescheid, würde man sie achtlos beiseite legen. Da die Resultate der Perutz-Romane staunenswert sind, stellt sich automatisch die Frage: Wie macht er das bloß?
Wie kann der tote „Marques de Bolibar“ die von Deutschen besetzte Stadt befreien? Wie ist es dem „Schwedischen Reiter“ möglich, fern der Heimat auf dem Schlachtfeld zu sterben und gleichzeitig nächtens seine Tochter zu besuchen? Und wie, in Teufels Namen, schafft es der Barbiergeselle „Turlupin“, die französische Revolution anno 1642 um etwas weniger als 150 Jahre zu vertagen? Lesen Sie!

Die Krise des Helden als Glück des Autors

Das Spektrum der Perutz-Romane beinhaltet Identitätskrisen und -befragungen. Leo Perutz beweist damit, dass er ein Autor am Ende der Moderne ist. Peter Lauener etwa geht in seiner Arbeit „Die Krise des Helden“ den Störungen der Protagonisten im Perutz-Werk nach. Auch bei Perutz ist, um mit Ernst Mach zu sprechen, das „Ich nicht zu retten“, vielmehr liefert er anschauliche, in packende Narration gefasste Antworten auf verschiedenste Aspekte des schwerfälligen Begriffs „Identität“. Gerade die historischen Romane, denen gegenüber man gerechter wäre, bezeichnete man sie als „anti-historische“, liefern unisono den Anstoß dafür, dass eine Geschichtsschreibung im Sinne einer Historiographie fragwürdig und somit Utopie bleibt.
Im Zusammenhang mit dem „Turlupin“-Roman hat der Wiener Germanist Wendelin Schmidt-Dengler anlässlich des 2. Leo Perutz-Symposiums in Prag und in Wien im Jahr 2000 folgenden saloppen, aber nicht minder tiefgehenden Befund formuliert: „Je präziser die Quellenangabe, umso größer die Lizenz zum Schwindel.“

Leo Perutz erfindet Ereignisse, die mit großen Ereignissen korrespondieren, etwa die Eroberung der Neuen Welt durch Cortes in „Die dritte Kugel“, die vereitelte Revolution im Frankreich Richelieus in „Turlupin“ oder die verhängnisvolle Liebe Rudolphs II. mit der Jüdin Esther in „Nachts unter der steinernen Brücke“. Eine detailbesessene Recherche steht am Anfang. Diese spielt Perutz einige Bausteine der Geschichte in die Hände, die er dann mit neuen Elementen verziert, um schließlich ein eigenes, hübsch zu durchwanderndes „Haus der Geschichte“ zu erstellen.

Verständlich, dass Leo Perutz wenig Sympathien beispielsweise bei der 68-er Generation fand, deren aufklärerischer Ansatz dem romantischen Gestus des passionierten Tarockspielers, chronischen Kaffeehausgastes und manischen „Gschichtl“-Erzählers Leo Perutz kontrastiv gegenüberstand. Dass man ihn schon zu Lebzeiten vergessen hatte, kommentierte Perutz mehrfach mit Galgenhumor. So schrieb er beispielsweise 1941 aus dem Exil an Alma Mahler-Werfel: „Ich schreibe meine Bücher mit der gleichen Plage und dem gleichen Vergnügen wie vorher, vermutlich für meinen Schreibtisch, der sich als mein verständnisvollster Verleger erwiesen hat.“

Was für eine bittere Pille für einen der meistgelesenen Autoren der 20er Jahre! Mit „Wohin rollst du, Äpfelchen“ soll er im März 1928 der ‚Berliner Ilustrirten Zeitung‘ angeblich bis zu 30.000 neue Abonnenten gebracht haben. Wie Werke von Carl Zuckmayer, Arthur Schnitzler oder Gerhart Hauptmann erschien auch der Äpfelchen-Roman über den stupiden Rachefeldzug des Georg Vittorin als Fortsetzungs-Geschichte. Just im Augenblick des größten Erfolges stirbt seine erste Frau Ida einen Tag nach der Geburt des Sohnes Felix am 13. März 1928. Fast ein Jahrzehnt war Leo Perutz mit ihr verheiratet. Zudem werden ihm ab Anfang der 30-er Jahre chronische Geldprobleme zu schaffen machen. Trotz teils ausgezeichneter Honorare vor allem für Filmbearbeitungen gelingt es Leo Perutz immer wieder blank dazustehen. Seine ausgedehnten Reisen in den Orient, nach Nordafrika und durch Europa sowie sein exorbitanter Lebensstil verzehren sein Vermögen rasch.

Am 16. Mai 1935 heiratet Perutz Grete Humburger, die bis zu seinem Tod an seiner Seite bleibt. Die Flucht mit der Familie aus dem nazifizierten Österreich gelang Perutz spät, die Heimkehr war weder gewollt noch zielführend. Österreich war nach dem Zweiten Weltkrieg für viele Autoren der späten 40er und der 50er Jahre ein literarisches Brachland. Den letzten Roman, „Der Leonardo des Judas“, hat er am 5. Juli 1957 abgeschlossen. Die Publikation erlebte er nicht mehr. Er starb am 25. August 1957 in Bad Ischl, wo er auch begraben ist. Der Mancino im „Leonardo“-Roman ist eine Reverenz an den französischen Dichter Francois Villon, dessen Vers „Ich kenne alles. Alles außer mich“ wohl die bestimmendste Selbsterkenntnis der letzten Jahre in Perutz’ Leben beinhaltet.
Mit Arbeiten vor allem nicht-deutschsprachiger Germanisten hat sich Perutz ab Ende der 70er Jahre wieder in der Wissenschaft bemerkbar gemacht. In den letzten fünfzehn Jahre ist geradezu eine Flut an Diplomarbeiten und Dissertationen über uns geschwappt, welche die Mysterien der Perutz-Konstruktionen unter die Lupe nehmen.

Die günstig zu erwerbenden Lizenzen für die Texte haben zu etlichen Taschenbuchausgaben geführt und die Verfilmungen von „Der Meister des Jüngsten Tages“ (1990) und „St. Petri Schnee“ (1991) sorgten auch dafür, dass das „Äpfelchen“ wieder in unsere Hände gerollt ist. Es stärkt auch heute noch unser Immunsystem gegenüber einer allzu plausiblen Weltsicht.

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Edition Art & Science, Wien 2007, 193 Seiten.
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