ÜBER DIE PERSPEKTIVEN DER BARRIEREFREIHEIT IM NETZ
Die Gedanken sind frei …
„Ich bin jung, dynamisch und gebildet. Behindert, krank oder alt – was hat das mit mir zu tun? Seien wir doch ehrlich, ‚Barrierefreiheit’ ist Schnee von gestern; Web 2.0., das liegt im Trend. Nicht, das ich was gegen die paar Krüp…, äh, Behinderte hätte – sind eh lieb und ich überweis ihnen auch immer was zu Weihnachten, aber …“
Ob diese oder ähnliche Gedanken noch durch manchen Köpfe geistern?
„Accessibility Blog Parade”
Am 12. November 2007 ging die vom „Main_Blog“ und „Nur ein Blog“ von Robert Lender unter dem Titel „Über Barrieren im Netz“ ausgeschriebene „Accessibility Blog Parade“ nach 33 Tagen zu Ende. Die Absicht der Parade war, durch die Unterstützung möglichst vieler BloggerInnen, vorhandene Barrieren anzusprechen und zum Nachdenken anzuregen.
Die Früchte einer lebendigen und interessanten Diskussion wurden in der „Blogparade Roll“ des Main-blog (Main_Blog) zusammengefaßt und stehen dort gut strukturiert auf Abruf bereit.
Das Literaturblog „Duftender Doppelpunkt – Infos aus Literatur und Wissenschaft“ hatte, neben vielen anderen Blogs, ebenfalls zum Mitmachen aufgerufen. Damit sich die Lücke zwischen Theorie und Praxis im „Duftenden Doppelpunkt“ schließt, finden Sie hier nachträglich einige Gedanken zum Thema Barrierefreiheit.
Meine Beziehung zur „Barrierefreiheit“
Als Petra Öllinger und ich uns 2004 entschlossen, eine (private) Site ins Netz zu stellen, war es von Anfang an unser Ziel, dieses Angebot für alle Menschen zugänglich zu machen. Unsere Erfahrungen bei der Umsetzung des Projekts waren, vorsichtig ausgedrückt, stark „durchwachsen“. Auf der Suche nach kompetenten PartnerInnen aus dem Bereich des Webdesigns erlebten wir einerseits fachliche Inkompetenz und Geldgier, ExpertInnenüberheblichkeit und peinliche Rechthaberei, andererseits aber auch großes Fachwissen und absolut altruistisches Handeln. Es war ein verschlungener und schwieriger Pfad, auf dem wir uns entlangtasteten. Schlußendlich führte er uns zu einem, wie ich meine, recht ansehnlichen Ergebnis: Petra Öllingers virtuelle Wohnung.
Über Barrieren in den Köpfen
Bevor sich reale Hindernisse auftürmen, haben unzureichende oder falsche Informationen, Egoismus, Gleichgültigkeit und dergleichen mehr ihre blockierende Kraft ausgebildet. Nachstehend vier Muster, die der Entfaltung der Barrierefreiheit entgegenstehen.
UnternehmerInnen / AktionärInnen
Mich interessiert, wieviel am Ultimo in der Kasse klingelt. Im Web 2.0 kann ich mit dem gleichen Einsatz an Kapital eine wesentlich größere Zahl an NeukundInnen akquirieren als ich es jemals mit dem „ausgelutschten Minderheitenthema Barrierefreiheit“ zu Wege bringe.
KundInnen
Ich will alles und das sofort – ich muß meinen Beitrag leisten, damit es der Wirtschaft gut geht. Wer nicht Schritt halten kann, der/die soll doch sehen, wo er/sie bleibt – ich muß es ja auch.
WebdesignerIn – Typ 1
Der/die WebdesignerIn hat immer Recht. Durch ihn spricht „DIE BARRIERREFREIHEIT“, sein/ihr Wort ist Gesetz und wenn es nicht verstanden wird, dann sind die KundInnen zu blöd dazu und sollen sehen wo sie bleiben …
WebdesignerIn – Typ 2
Der Webdesign-Schnellkurs war sauteuer, also muß er gut gewesen sein. In der Zwischenzeit hab ich schon die ersten Kunden an der Angel. Die sind ja sowas von ahnungslos, denen kann man alles einreden. Ganz am Rande war auch in dem sonst richtig geilen Kurs etwas über die Erstellung barrierefreier Sites die Rede. Komplizierte Sache und schwer an den Mann zu bringen – nichts für mich.
Vater Staat und Mutter Justitia
Die für Österreich im Zusammenhang mit einem „stolpersteinfreien Internet“ relevanten Gesetze sind neben dem Bundesverfassungsgesetz, dem Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz, dem Urheberrechtsgesetz und dem Zustellgesetz vor allem das E-Governmentgesetz und das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz.
In letzterem ist auch der Anspruch auf barrierefreien Zugang zu Inhalten auf Sites von Unternehmen geregelt. Alle AnbieterInnen, die unter das Konsumentenschutzgesetz fallen, müssen seit Anfang 2006 ihre Webauftritte barrierefrei gestalten.
Das E-Governmentgesetz ist seit März 2004 in Kraft. Bis 1. 1. 2008 müssen die Vorgaben bezüglich barrierefreiem Internet erfüllt sein.
Betroffen sind:
- Behörden (Bund, Länder, Gemeinden),
- ZustellerInnen,
- Verwaltung des Bundes.
E-Government meint die Gesamtheit aller elektronischen Angebote der öffentlichen Verwaltung für BürgerInnen.
Der im BGStG (Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz) definierte rechtliche Anspruch auf barrierefreien Informationszugang im Internet gilt ohne Übergangsfrist seit 1. 1. 2006.
Betroffen sind:
- Verwaltung des Bundes, einschließlich dessen Tätigkeit als Träger von Privatrechten,
- Unternehmen, die Güter und Dienstleistungen verkaufen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen,
- FörderungsnehmerInnen von Bundesförderungen.
Auf der Site Putzhuber.net finden Sie eine Zusammenfassung der für einen barrierefreien Zugang ins Internet relevanten österreichischen Gesetze.
Das Informationsdefizit
Es gibt also die gesetzlichen Grundlagen und es gibt eine Reihe von kompetenten Organisationen und AnsprechpartnerInnen, deren Informationen erreichen allerdings kaum eine breite Öffentlichkeit. Wen wundert’s, wenn man folgendes liest:
BIZEPS Info – ORF-ON: Schlichtungsverfahren wegen fehlender Barrierefreiheit. Aus dem Interview mit Lukas Huber.
„Dabei stellte es sich heraus, dass der ORF über vieles nicht informiert ist beziehungsweise sich damit kaum auseinandergesetzt hat, zum Beispiel die internationalen Richtlinien der Barrierefreiheit (WAI).
Ich will erreichen, dass die ORF-ON Redaktion die seit 1999 geltenden Richtlinien für barrierefreies Webdesign umsetzt. … “
Sollten nicht die Medien, allen voran der ORF, die öffentlich rechtliche Rundfunkanstalt, versehen mit einem gesetzlichen Bildungsauftrag, in der Frage der Barrierefreiheit eine Vorreiterrolle spielen?
Laut Mediaresearch greifen 1,5 Millionen österreichische InternetnutzerInnen ab 14 Jahren pro Monat auf die Angebote von ORF.at zu. Das ORF.at-Netzwerk erzielt damit eine Reichweite von 45,4 % (Basis sind 3,34 Millionen Unique User auf den von der ÖWA Plus gemessenen Medien).
So sehr das jetzt laufende Schlichtungsverfahren zu begrüßen ist, stellt sich mir die Frage, warum neun Jahre ins Land ziehen mußten, bis sich jemand fand, der bereit war, dem ORF ein wenig „auf die Zehen zu steigen“.
Die Zukunft
Damit die nächste Generation von EntscheidungsträgerInnen – und nicht nur diese – ihre Aufgaben besser und vor allem rascher umsetzen kann, sind heute schon Kindergarten und Schule gefordert. Spielen die Lebenszusammenhänge von behinderten Menschen in der alltäglichen Lern- und Erfahrungswelt von Kindergarten und Schule, über einzelne Projekte hinaus, eine Rolle? Hat das Thema Barrierefreiheit Eingang in den EDV-Unterricht gefunden? Gibt es ausreichend geschulte Lehrkräfte?
Der barrierefreie Zugang zu den elektronischen Angeboten der öffentlichen Verwaltung und von Unternehmen ist in Österreich grundsätzlich gesetzlich geregelt. Die unzähligen privaten Sites und deren barrierefreie Gestaltung spielen in der bisherigen Diskussion interessanterweise kaum eine Rolle.
Die Eigenverantwortung
Wir sind alle dazu aufgefordert, die Stolpersteine im Netz zu eliminieren. Jede/r im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Nur so wird die Basis der Barrierefreiheit eine ausreichende Breite gewinnen, um sich umfassend zu etablieren. Eigenverantwortung sollte allerdings nicht mit der zunehmend stärker um sich greifenden Unart verwechselt werden, gesellschaftliche Probleme zu individualisieren und dann die einzelnen Betroffenen im „Regen stehen zu lassen“.
Qualität und deren Leistbarkeit
Ein sauberes qualitätsvolles Webdesign als Grundlage einer barrierefreien Site hat selbstverständlich seinen Preis. Geld allerdings, über das man erst einmal verfügen muß. Eine Gruppe, die sich die Arbeit eines Webdesigners, einer Webdesignerin meist nicht leisten kann, sind die BetreiberInnen von privaten Sites. Viele von ihnen, technisch uninformiert, greifen auf die Dienste fragwürdiger Tools oder des „Karli-Onkels“ zurück. Beide produzieren meist nicht viel mehr als eine große Portion Code-Salat, die Lichtjahre von einer barrierefreien Umsetzung entfernt ist.
Jedem Menschen seine barrierefreie Site
Die Beseitigung der Stolpersteine im Netz ist letztlich für alle Menschen von Bedeutung. Wir werden es uns auf Dauer nicht leisten können, Menschen aus ökonomischen Gründen von der Produktion barrierefreier Sites auszuschließen. Es wird mehr dazu gehören als umfassend zu informieren und gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen.
Wenn von staatlicher Seite Hunderte Millionen Euro in den Internetbereich investiert werden, sollte es doch möglich sein, um einen Bruchteil dieser Kosten den privaten WebsitebetreiberInnen ein einfach zu bedienendes Tool und einer kurzen klaren Online-Einführung gebührenfrei zur Verfügung zu stellen.
Zum Beispiel in Form eines Content Management System (CMS), so einfach und klar konzipiert, daß man damit ohne technische Vorkenntnisse, ohne sich durch viele Seiten einer komplexen Anleitung arbeiten zu müssen, innerhalb einiger Stunden eine kleine Site erstellen kann.
Auf der Suche nach dem „Ei des Columbus“, dem barrierefreien CMS, sollte die Zusammenarbeit und Vernetzung mit Fachleuten, die schon Content Management Systeme entwickelt haben, die dem Ziel der Barrierefreiheit nahekommen, selbstverständlich sein.
Der Abschluß
Den Abschluß der eingangs erwähnten „Accessibility Blog Parade“ bildet ein „Bunter Abend“ mit inhaltlichen und geselligen Anteilen. Es wird eine Reihe von Präsentationen geben, die einige der Beiträge zur Accessibility Blog Parade live veranschaulichen. Insofern ist die Veranstaltung nicht als Endpunkt, sondern als Ausgangspunkt zur weiteren Diskussion und Vernetzung gedacht. Und als Standpunkt dafür, daß Barrierefreiheit kein Schnee von gestern ist und ein paar Weihnachtsspenden dafür sicher nicht ausreichen …
Zeit und Ort: Donnerstag, den 29. November 2007, im Auditorium des Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien (MUMOK). So wird es eine Reihe von Präsentationen geben, die einige der Beiträge zur Accessibility Blog Parade live veranschaulichen und zur weiteren Diskussion und Vernetzung anregen sollen.
Georg Schober
Weiterführende Links
Österreich
Digitales Österreich – Tag der Barrierefreiheit im Internet (für UnternehmerInnen) am Montag, 26. November 2007, 10 bis 16 Uhr.
Eva Papst im Gespräch mit Georg Schober – Barrierefreiheit für normale Behinderte und behinderte Normale – Teil 3.
accessible media – Zugang für alle.
WAI Austria – Zugang für alle.
MAIN_web – Plattform für integrative und barrierefreie Medien- und Kulturarbeit.
Deutschland
Jan Eric Hellbusch im Gespräch mit Georg Schober – Barrierefreiheit für „normale Behinderte und behinderte Normale”
Barrierefreies Webdesign. – ein behindertengerechtes Web gestalten.
Jan Eric Hellbusch, Barrierefreies Webdesign. KnowWare Verlag, 71 Seiten, 4. Auflage 2006, 4.40 Euro.
Einfach für Alle – Aktion Mensch Initiative für ein barrierefreies Netz.
Schweiz
Petra Ritter im Gespräch mit Georg Schober. Barrierefreiheit für normale Behinderte und behinderte Normale – Teil 2.
Zugang für alle – Schweizerische Stiftung zur behindertengerechten Technologienutzung.
Design for All – DESIGN FOR ALL will die Realisierung von allgemein zugänglichen Lösungen fördern.
Lieber Herr Huber!
Danke für die zusätzlichen Informationen via Kommentar. Wir wünschen Ihnen im neuen Jahr einen baldigen und erfolgreichen Abschluß der Gespräche mit dem ORF.
Das Interview mit Lukas Huber zum Thema Schlichtungsverfahren finden Sie auf der Site BIZEPS-INFO unter dem Titel „ORF-ON: Schlichtungsverfahren wegen fehlender Barrierefreiheit“ zum nachlesen.
Sie stellen sich die Frage, „warum neun Jahre ins Land ziehen mußten, bis…“
Eine gute Frage, eigentlich haben gehörlose Menschen schon viele Jahre früher immer wieder auf die Zehen des ORF getreten. So hat der ÖGLB durchgesetzt, dass ab 2004 der ORF die tägliche Sendung in Österreichischer Gebärdensprache ausstrahlt.
Zu Ihrer Frage kann ich Gründe mitteilen: erstens das Inkrafttreten des BBGStG ab Jänner 2006, zweitens benötigte ich Zeit um mir ein Bild über den Ablauf eines Schlichtungsverfahrens im Bundessozialamt zu machen. Vor 2006 war die Kontaktanbahnung mit den Verantwortlichen im ORF im Vergleich zum Schlichtungsverfahren eher mühsam und die Reaktionen eher unzuverlässlich.