Kommunikation ersetzt Gespräch

Ein Essay von Anke Singer, dass sich mit dem Thema Amoklauf auseinandersetzt.

Junge Seelen zerschellen an Klagemauern, schießen sich
verzweifelt aus quälender Bedeutungslosigkeit – ein paar
Tage lang – leben sie nach in Schlagzeilen öffentlichen
Bewusstseins. Täter ist Opfer und Opfer waren Täter.
Innen schreit Schmerz, die Trauer knüpft eine zarte
Verbindung in Betroffenheit. Kerzenlicht in sonst leeren
Kirchen – aber dann? Unter der Decke, nachts im Traum
fragt Gewissen nach Sinn. Wie konnte das geschehen?
Wieder einsam, jeder für sich allein – der Alltag begräbt
junges Leben, unerfüllt – gescheitert an zu vielen Realitäten.

Die Zivilisation wirft schwarze Schatten, Wirklichkeit
versinkt sprachlos in Banalität. Zarte Kindheit
träumt vom Besonderen, erhofft und wünscht sich pralles,
buntes Leben. Jugendlicher Überschwang schluckt
alltäglich grauen Einheitsbrei gewürzt mit gelangweilter
Achtlosigkeit. Kein Koch erklärt, welche Zutat förderlich,
welche giftig ist, gerührt ergibt es fade Erträglichkeit.

Werbewirksam liefern Medien bunte Bilder von einer Welt
die so nicht ist, von perfekten Design-Menschen, die
niemand kennt. Am Bildschirm anspruchslos aufbewahrt,
Scheinrealität drückt leere Phrasen in junge Seele, die
kritiklos schluckt was sich ihr bietet. Ein Streben und
Hasten nach Wohlstandseitelkeiten und käuflicher
Sicherheit verdrängt Zeit für offene Kinderfragen. Nach
Wert und Sinn sucht junger Idealismus in der Welt der
Großen. Der Wunsch nach Beliebtheit biedert sich der
Jugend an, statt Konfrontation und Nähe im Gespräch zu
wagen. Sicherer Stand für neues Menschenbild ist noch
nicht gefunden.

Freigekauftes Gewissen, der Junge hatdoch alles.
Zeit flieht vor der Suche nach Verständnis, als
würde ihr von ruhiger Zuwendung etwas angetan. Sprache
verroht, wird unverständlich, verkommt zur Fratze auf
Handydisplays, sperrt sich wütend gegen erwachsene
Unfähigkeit, will einfach nur anders sein, weiß nicht wie.
Jugend unter sich fordert Uniform der Gruppe, Verstoß wird
mit Ausgrenzung bestraft. Abweichung von angesagtem
Status wird verletzendem Spott und bösartiger Abwertung
ausgesetzt. Das schwarze Schaf hat weder Herde noch
Mut zum Anderssein. Lebensgefühl zieht sich in virtuelle
Welten zurück, entlädt sich unverstanden, unbeachtet in
einsamen Gefechten gegen leblose Bildschirm-Rambos,
virtuelles Blut spritzt ohne Schmerz. Im Chatroom treffen
sich junge Einsamkeiten, tauschen hinter Masken
erdachter Namen leere Floskeln aus, basteln sich ein
ideales Ich. Im realen Leben zieht sich der Wunsch nach
echter Begegnung gekrängt zurück, zermürbt an rüden
Worten, die immer wieder an Selbstwert und
Empfindsamkeiten sticheln. Freundschaft verkommt zu
nützlich austauschbarer Kumpanei. Gefühle sind
angreifbar, werden vorsichtshalber tiefgefroren, alles
was erfreut versteckt sich hinter coolen Phrasen.

Der einzig wahre Freund – immer nah, immer da. Er reagiert
berechenbar auf Tastendruck, füllt täglich viele leere
Stunden, wird zur Bühne dramatischer Selbstinszenierung.
Einmal Hauptdarsteller sein im eigenen Stück, dann großer
Abgang mit Paukenschlag. Gefühle und Gedanken
verkleben zu einem explosiven Gemisch, der untertänige
Komplize liefert auf Knopfdruck Waffen, Sprengstoff und
Handbuch auf Bestellung frei Haus. Dem Welt weiten Netz
vertraut sich ausweglose Verzweiflung und Hass erfüllte
Allmachtsfantasie an. „Ihr alle seid Schuld“ – schreit es aus
der Homepage Hilfe suchend. Jeder hat Zugriff, keiner hat
es gewusst. Der Spielplan ist perfekt, das Outfit passt, oft
ist am PC der Ablauf simuliert, prägt sich ein ins trotzig
ausgebrannte Hirn, verödet das Herz bis Taubheit herrscht,
blanker Hass bleibt, der Bodensatz von Überforderung.
Blinde Wut über eigenes Versagen, wird wie eine
Zielscheibe anklagend an Mitschüler und Lehrer geklebt.

Echtes Blut spritz an die Wände, hingerichtet nach
Selbstjustiz, auch das war der kaltblütige Plan. Einmal in
seinem Leben ein echter Held sein – dann ertrinkt im
Fluss alltäglicher Information für jeden Treffer eine Zukunft –
schnell vergessene Sensation.
Zurück bleibt kurze Bestürtzung, Spekulation um Menschen,
verschanzte Gefühle hinter privaten Türen, keine
Schlagzeilen berichten davon.

Eine fassungslose Mutter, vielleicht auch der Vater,
sollte er an Lebensgemeinschaft noch beteiligt sein.
Die Zweitfamilie – vielleicht – absorbierte Zeit
und Interesse an unbequemer Halbwüchsigkeit.
Solange sie unauffällig funktionieren,zudem aufsässige
Ablehnung demonstrieren – was soll Mann dann schon tun?
Lebensgefährte der Mutter und Vaterersatz – vielleicht –
wird austauschbar, weggebissen von jugendlicher
Eifersucht und dem Wunsch nach Bedeutung in ihrem
Leben. Überforderungen treiben in die Enge, Berufsalltag
als Frau und Pflichten einer Mutter, alles gleichermaßen
erfolgreich abverlangt von einer Vorstellung von
Emanzipation, die im Alltag noch nicht angekommen ist.

Entsetzen gepaart mit Abscheu über die Tat ihres Sohnes,
ist er zum Monster mutiert, in der Einsamkeit des Zimmers
nebenan? Scham und Vorwurf über eigenes Versagen –
Rabenmutter schreit es laut in ihr. Wortlose Blicke voll
Mitleid und hämischer Anklage von Nachbarn an der
Wursttheke, den Kollegen, keine schützende Anonymität –
„sie wird wohl nicht unschuldig sein“ hört sie denken. Ist
Alltag hier noch möglich oder muss sie fliehen vor
endloser Rechtfertigung und sprachloser Schuldzuweisung? Sie
wollte immer nur das Beste. Er hat doch alles gehabt. – Das
Beste? – Zeit für Nähe und Gespräch wurde verschlungen
von der Organisation alltäglicher Existenz und eigener
Bedürfnisse. Doch wie oft hatte sie um Verständnis
gerungen, ist immer wieder abgeprallt an harten
Wortspitzen. Überhebliche Arroganz und ständige verbale
Abwehrgefechte wurden zur Gewohnheit – sie bekam
keinen Zutritt in seine innere Welt, er hatte keine
Vorstellung von ihren Belastungen und Sorgen.

Irgendwann herrscht Resignation, steht wortlos das Essen
auf dem Tisch, liegt stumm das Taschengeld mit Erhöhung
zum Geburtstag daneben. Das ist normal in diesem Alter,
wächst sich aus, hatte sie gehofft, wird sie beruhigt. Es
wuchs ihr über den Kopf, das Kind wurde jeden Tag ein
Stück mehr zum zornig unbekannten jungen Mann im
Zimmer neben an – während jeder gleichgültig sein starres
Schweigen schweigt. Zurück bleibt Verzweiflung und
einsame Leere, sie kann nichts mehr ungeschehen
machen. Bei den Hinterbliebenen findet sich kein tröstlicher
Beistand, sie ist Mutter des Täters, auch an ihr haftet
unschuldiges Blut. Wie damit leben?

Die Zivilisation ist angetreten durch Technik und
Wissenschaft materielle und soziale Bedingungen zu
verbessern. Das Leben an sich soll in seiner Existenz
gesichert und geschützt verlaufen, Gesundheit gefördert,
das Dasein lebenswert gestalten werden. Lebenszeit
befreit von banaler Routine kann Raum für Wesentliches
schaffen. Hervorgebracht hat sie ein globales
Ungleichgewicht. Wo die Menschen andernorts gänzlich
unzivilisiert verhungern, ersticken manche an ihrem
materiellen Überfluss, werden von Zivilisationskrankheiten
dahingerafft, erfrieren an sozialer Kälte. Im
Informationszeitalter erleichtert technischer Fortschritt
die Verbreitung von Wissen, hat jeder Zugriff auf alle Medien.
Kommunikation jedoch, die der Technik bedarf, überbrückt
zwar räumliche Entfernung, schafft aber Distanz in der
Nähe, dort wo sie Gespräch verhindert. Eine Flut von
Negativsensationen wird aus allen Medien über Seele
ergossen. Sie würgt an Überforderung, verdaut die
Unverständlichkeit des Leids nicht, wo doch technisch
alles machbar scheint. Kommunikation, flach, kurz, allgemein –
ersetzt kein direktes Gespräch zwischen Menschen über
persönlich Erlebtes und daraus entstandene Gefühle. Es
erzeugt Nähe, das Gefühl wahrgenommen zu werden, von
eigener Lebendigkeit.

Hat die Zivilisation auf ihrem Weg in eine schöne
neue Welt die Seelen der Menschen – auch schon
der Jungen – in DSL-Geschwindigkeit überholt? Ein
Fortschreiten technischer Möglichkeiten ist zunächst
neutral. Wirkung kommt durch die Nutzung des Menschen
ins Leben. Hat der forschende Geist die Novellierung der –
zugegeben – inzwischen angestaubten Werte von Ethik und
Moral in der Eile vergessen? Die Entwicklung der Fragen
um Menschenwürde, die Suche nach Lebenssinn und
neuen Ausdrucksformen für Achtung und Wertschätzung
voreinander – endet sie bei Kant und Knigge? Technischer
Fortschritt erleichtert – doch ersetzt er nicht durch Haben
und Schein das Sein. Junge Menschen fühlen sich wertlos,
diesem rasanten Leben nicht mehr gewachsen, haltlos
taumeln sie in einer Welt ohne Glauben an eine höhere,
ordnende Kraft. Das Leben wird nicht mehr als Inhalt
erfahren, die Sinne sind reizüberflutet, abgestumpft, eine
kleine Freude braucht großen Effekt. Der Wert eines
Menschen wird am Status gemessen, an Besitz, Leistung
und äußerer Erscheinung. Der Sinnverlust reißt so tiefe
Wunden, dass sie nicht mehr leben wollen und können, ja
gar anklagend und strafend andere mit sich reißen. Vor der
Tat finden sie Nähe im Gedanken an gemeinsamen Tod
und Verzweiflung Hinterbliebener – einmal ein virtuelles
Gefühl von Zuwendung und Bedeutung, die sie lebend
nicht ausreichend bekamen?

Sie postum als pathologischen Fall dem Psychiater zu
überantworten und sich selbstgerecht auf den Massen ausruhen,
die nicht auffallen? Das wird dem Täter und den Opfern
nicht gerecht, verhindert nichts. Kein Einzelfall inzwischen.
Es gibt dafür einen eigenen Begriff, die zivilisierte Welt
hat sich darauf geeinigt – Amoklauf.

Die Wissenschaft hat festgestellt – er ist männlich und
meist jung, schläft unter der Decke der Zivilisation.

2 Gedanken zu „Kommunikation ersetzt Gespräch“

  1. Endlich mal ein Text, der sich diesem heiklen Thema ungeniert stellt und dabei noch gehörig in die Tiefe geht. Ich wünsche ihm, dass er ein Anlass zur Diskussion werden kann. Als einer von vielen nötigen (und längst überfälligen) Anstössen, mitunter dann sogar auf diese oder eine ähnliche Art weitere Kreise zieht, um nicht zuletzt endlich auch falsche Scham und Verständnisblockaden von Politik und Gesellschaft aufzulösen.

  2. Mir ist es kalt über den Rücken gelaufen. Der Text ist auf den Punkt gebracht, so wie ich es auch empfinde. Diese Sinnentleerung ist nicht nur auf die Jugend begrenzt. Wir Älteren haben ebenso damit zu kämpfen. Nur werden wir nicht mehr zu Amokläufern.

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