Vom Haymarket zum 1. Mai
Chicago, 4. Mai 1886. Ein Unbekannter wirft am Haymarket eine Bombe. 18 Menschen sterben, darunter sieben Polizisten.
Die „Schuldigen“ werden rasch ermittelt, sind doch einige der Organisatoren der Demonstration Anarchisten: Acht Männer werden vor Gericht gestellt. Die Anklage behauptet, der Attentäter hätte auf der Grundlage ihrer Ideen gehandelt. Vier von ihnen, Albert Parsons, August Spies, George Engel und Adolph Fischer werden gehängt. Einer, Louis Lingg begeht in seiner Zelle Selbstmord. Ein weiterer, Oscar Neebe wird zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Todesurteile gegen Michael Schwab und Samuel Fielden werden in lebenslange Haft umgewandelt.
Die Urteile führen rund um den Globus zu Protesten. Diese werden unter anderem von George Bernard Shaw und William Morris unterstützt. 1893 kommen die drei Überlebenden durch einen Gnadenerlass des Gouverneurs von Illinois frei.
Unter anderem gehen dem Geschehen am 4. Mai 1886 folgende zwei Ereignisse voraus:
Ein Aufruf der Federation of Organized Trades and Labor Unions zum landesweiten Generalstreik am 1. Mai. Der Tag ist ein sogenannter „Moving Day“. Ein traditioneller Stichtag, um den Arbeitsplatz zu wechseln bzw. für die Änderung von Arbeitsverträgen. Der Acht-Stunden-Tag soll in die neuen Verträge aufgenommen werden. Dafür treten rund 400.000 Beschäftigte aus 11.000 Betrieben der USA in den Streik. Letztlich kann die Streikbewegung ihr Ziel nur für 20.000 ArbeiterInnen durchsetzen.
Am 3. Mai werden in Chicago zwei Demonstranten von der Polizei getötet. Bei den am Tag darauf stattfindenden Protesten kommt es zu dem Bombenanschlag – er geht in die Geschichte als „Haymarket Affair“ ein.
Die Zweite Internationale und der 1. Mai
Paris, 14. Juli 1889: Der Gründungskongress der „Zweiten Internationale“ findet am 100. Jahrestag der Französischen Revolution statt. An dem von Friedrich Engels angeregten Kongress nehmen etwa 400 Delegierte aus 20 Staaten teil.
Zum Gedenken an die Opfer der Haymarket Affair ruft der Kongress den 1. Mai 1890 zum „Kampftag der Arbeiterbewegung“ aus. Seine zentrale Forderung ist die Verkürzung der Arbeitszeit auf acht Stunden.
1891 beschließt der Kongress der „Zweiten Internationale“ in Brüssel, den 1. Mai in Zukunft jedes Jahr zu feiern und als Tribüne für die Durchsetzung der Forderungen der ArbeiterInnenbewegung zu nutzen.
Die Nordamerikanische Gewerkschaftsbewegung will sich auch terminlich von den Ereignissen am Haymarket distanzieren und veranstaltet ab 1894 jeweils am ersten Montag im September den „Labor Day“.
Der 1. Mai in Wien
Wien, 1. Mai 1890. Die „Neue Freie Presse“ zittert gemeinsam mit Wiens Bourgeoisie: „Die Soldaten stehen in Bereitschaft, die Tore der Häuser werden geschlossen, in den Wohnungen wird Proviant vorbereitet wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind verödet. Frauen und Kinder wagen sich nicht mehr auf die Gasse …“
Die „ProletInnen“ gehen auf die Straße. Am Vormittag gibt es in Wien zirka sechzig Versammlungen. Gefordert wird der Acht-Stunden-Arbeitstag. Am Nachmittag ziehen zirka 100.000 ArbeiterInnen in den Prater. Es ist die bisher größte Kundgebung in Wien. Kaiserhof, Adel und Großbürgertum lassen ihre traditionelle „Praterausfahrt“ am 1. Mai ausfallen.
Nur die Demonstration in London übertrifft mit 300.000 TeilnehmerInnen den Maiaufmarsch im Prater. Friedrich Engels schreibt rückblickend:
„Feind und Freund sind einig darüber, daß auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien, den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten begangen und die österreichische, voran die Wiener Arbeiterschaft sich damit eine ganz andere Stellung in der Bewegung erobert hat.“ Der 4. Mai in London, Marx/Engels-Werke, Bd. 22, Arbeiterzeitung vom 23. Mai 1890.
Gefordert wird bei den ersten Maikundgebungen neben dem Acht-Stunden-Arbeitstag vor allem die Einführung des allgemeinen Wahlrechts sowie Pensions- und Invaliditäts-, Witwen- und Waisenversorgung.
In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg steht die Forderung für den Erhalt des Friedens und für internationale Solidarität im Mittelpunkt der Demonstrationen. Der Weltkrieg und die nun betont nationale Haltung großer Teile der ArbeiterInnenbewegung in den ersten Kriegsjahren unterbricht die Tradition der Maifeiern.
1919: In der Ersten Republik wird der 1. Mai zum Staatsfeiertag erklärt.
1933: Die Regierung Dollfuß verbietet den 1. Mai in seiner bisherigen Form.
1934: Der Austrofaschismus macht den 1. Mai zum „Tag der Verfassung“.
1938: In der Zeit von 1938 bis 1945 wird der 1. Mai zum „Tag der deutschen Arbeit“.
1945: Im Westen Österreichs wird noch gekämpft – in den Bezirken Wiens finden bereits Maifeiern statt.
1946: Erstmals nach vierzehnjähriger Unterbrechung zieht der Maiaufmarsch wieder über den Wiener Ring.
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs war man bemüht, die Lehren aus Faschismus und Krieg zu ziehen. So wurden in der Erklärung der Menschenrechte 1948 neben politischen auch soziale Rechte festgeschrieben.
Im Artikel 22 heißt es: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“
Und im Artikel 23: „Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. (…) Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.“
Um Frieden, Menschenrechte und Völkerfreundschaft zu verwirklichen, ist es heute mehr denn je notwendig, die Macht der Großkonzerne zu beschränken. Deren Gier nach billigen Arbeitskräften, neuen Rohstoffen und Absatzmärkten klare Grenzen zu setzen.
Lohndumping, Arbeitslosigkeit und die Präkarisierung und Endsolidarisierung immer größerer Teile der Bevölkerung führen uns auch 2012 die Bedeutung des 1. Mai vor Augen: gemeinsam für eine gerechte und solidarische Welt!
Georg Schober
Literatur zum 1. Mai
Arbeiterkammer Wien: Literaturliste zum 1. Mai
Bibliothek der Friedrich Ebert Stiftung: Literaturliste zum 1. Mai
Bibliothek der Friedrich Ebert Stiftung: Online Quellen zum 1. Mai