Heimat oder Geschlecht – wodurch werden wir (eher) definiert?
Das Jugendbuch „Amra und Amir“ wagt sich sehr einfühlsam an teils im dritten Jahrtausend immer noch tabuisierte Themen heran – Flucht und Abschiebung, Sexualität von Jugendlichen und geschlechtliche Stereotype sowie psychische Erkrankungen von Eltern. Die Geschichte einer jungen Deutschen, die ohne soziale Kontakte, Sprachkenntnisse oder finanzielle Mittel plötzlich in das alte Heimatland ihrer Eltern abgeschoben wird, steht stellvertretend für zahllose ähnliche Schicksale, die Autorin Monika Braig darin aufarbeitet.
Als Amra eines Tages einen Brief der Behörden öffnet, der ihre Abschiebung in den Kosovo feststellt, bricht für das burschikose Mädchen eine Welt zusammen. Mühsam war es für sie, ohne Vater für eine psychisch schwer kranke Mama da zu sein und gleichzeitig eine gute Schulausbildung zu absolvieren. Sich für Schwächere einsetzen und wenn nötig sich dafür prügeln wird ihr als „schlecht integrierte“ Frau später zum Verhängnis werden.
Amra will auf keinen Fall weg, sie kennt den Kosovo – die alte Heimat der Eltern, die während des Jugoslawien-Krieges geflohen sind – gar nicht, sie kann auch die Sprache nicht. Und was wird aus ihrer kranken Mutter? Lange glauben Amra und ihre zahlreichen Freundinnen und Freunde an einen Irrtum – Amra, eine faule, unredliche Ausländerin? Lächerlich! Doch kein „Kriegsrat“ der FreundInnen kann Amra beschützen, sie wird eines abends abgeholt und in ein Flugzeug verfrachtet. In Priština zieht sie zunächst zu Verwandten ihrer Eltern, die gar nicht glücklich darüber sind. Frauen leben hier völlig anders; vor allem Haushalt und Kinder sind der Mittelpunkt ihres Lebens. Amra kann nicht nach Deutschland zurück, ihr altes Leben scheint für immer verloren, ein neues kann sie hier als Frau alleine nicht führen. Also fasst sie einen Entschluss: Aus Amra wird Amir.
Abgesehen vom Handy der besten Freundin Nina ist er (Amir) völlig mittellos und muss sich umschauen, wie er zu Essen und einer Bleibe kommt. Auf einem Mistplatz beobachtet er Kinder beim Müllsortieren und überwindet sich, es ihnen gleich zu tun, um die Schrottplatzfunde zu Geld machen zu können. Dort erkennt der Besitzer Amirs Geschick für Autotechnik und stellt ihn zeitweise ein. Nach dem Winter scheint sich Amirs Situation zu verbessern – Nina und ein gemeinsamer Freund tauchen auf und schmieden gemeinsam mit ihm einen Plan, ihn wieder nach Deutschland zurückzuholen. Ob das gut geht?
Das Ansinnen Monika Braigs zahlreiche dieser schweren Schicksale darzustellen ist löblich. Auch die Themenauswahl ist zeitgemäß und spannend. Allerdings hat die Autorin zu viele Themen auf einmal eingeflochten, von denen, außer jenes der Abschiebung aus Deutschland, allerdings keines gründlich betrachtet wird. Das macht sich besonders bei Schlüsselstellen des Buches bemerkbar (zum Beispiel als Amra beschließt, als Mann zu leben!). Darin wird viel zu wenig genau darauf eingegangen, was in der Person alles vor sich geht. Außerdem wird viel Wert auf unterschiedliche Blickwinkel gelegt (Mutter, Freundin Nina, andere Personen um Amra/Amir), die der Geschichte massiv an Fahrt nehmen.
Empfohlen wird das Buch ab 13 Jahren, die Sprache ist an diese Altersgruppe angepasst. Bleibt zu hoffen, dass sich das junge Zielpublikum für das Leben von 18-Jährigen interessiert. Brisant sind die Themen und die Frage nach der eigenen Identität allemal – egal, wie jung oder alt man ist.
Natascha Miljković
Maria Brai: Amra und Amir. Abschiebung in eine unbekannte Heimat
Verlag 3.0. Zsolt Majsai, Bedburg, 2015. 188 Seiten, € 11,80
© Coverbild: Verlag 3.0. Zol Majsai