Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet26. August

Heute in der Früh war die Wohnungstüre blockiert. Ein riesiges Auge füllte den Türrahmen und starrte ins Vorzimmer. Die Äderchen im Augapfel sahen aus wie dicke rote Schnüre. Nachdem sich Theophilus vom ersten Schock erholt hatte, konnte ich ihn nur mit Mühe davon abhalten, dem Auge eins aufs Auge zu geben.
Ich kenne dieses Auge. Es war mittlerweile mehrmals zu Besuch bei mir. Nun, Besuch ist übertrieben. Das Auge hatte hin und wieder einen kurzen Blick in meine gute Stube geworfen. Das Auge gehört der Frau mit dem zersausten Haar. Beinahe täglich schiebt sie einen Kinderwagen, vollgepackt mit ebenso zersausten Teddybären und anderen Seltsamkeiten, vorbei an meiner Haustüre.
„Und das Auge schaut hin und wieder bei dir herein?“, fragte Theophilus, sein zweifelnder Unterton war nicht zu überhören.
Ich versicherte ihm, das Auge, also die Frau sei völlig harmlos. Zugegeben, ich selbst war bei unserer ersten Begegnung – ich erinnere mich sehr gut daran – zu Tode erschrocken. In der Zwischenzeit hat sich allerdings so etwas wie gute Nachbarschaft zwischen uns ergeben. Sie brüllt nie wie am Spieß, wirft nicht mit Dingen nach mir oder sucht das Weite, wenn sie mich sieht.
Theophilus drehte sich um und wollte nochmals in die Pupille schauen, da war das Auge bereits verschwunden.

Porträt von Theophiuls MakadamiaBericht und Ergänzung von Theophilus: Worin Herr Leopold zum ersten Mal der Frau mit den zersausten Haaren begegnet, er gegen sein Prinzip handelt und über eine seltsame Erscheinung in der Wohnungstüre erschrickt.

Ah ja, die Frau mit den zersausten Haaren. Nachdem ich mich von meinem ersten Schrecken – nicht alle Tage trifft man auf ein Auge im Türrahmen – erholt hatte, erzählte mir Onkel Leopold über seine erste Begegnung mit der Frau. Das Erlebnis erschien mir außerordentlich kurios, ich bat Onkel Leopold, seinen Bericht aufzeichnen zu dürfen 1.

Das Gespräch mit Onkel Leopold, transkribiert und übersetzt aus dem Mausischen.

Onkel Leopold: Ich war auf dem Weg vom Malvenhain nach Hause, wollte die Fügergasse überqueren, da saß sie auf der Gehsteigkante neben einer schwarzen Mülltonne. Anscheinend hatte sie deren gesamten Inhalt fein säuberlich neben sich aufgereiht: einen blau gepunkteten Badezimmerteppich, ein Puppenbett, zwei Kochtöpfe, einen Suppenlöffel, fünf Styroportassen und einen Brotkasten aus Holz. Was die Menschen alles wegwerfen! Jeden Gegenstand nahm sie in die Hand, betrachtete ihn von allen Seiten. Was sie brauchen konnte, stopfte sie in den Kinderwagen, der andere Kram wanderte zurück in die Tonne. Sie saß mit gebeugten Rücken zum Eingang meiner Wohnung. Über ihrem Kopf leuchtete das mit roter Farbe auf die Wand gepinselte Wort „ankerbande“.
Wie konnte ich an ihr vorbei, ohne von ihr gesehen zu werden, ohne Gefahr zu laufen, gejagt und vielleicht sogar gefangen zu werden? Ich weiß nicht, wie lange ich sie beobachtete. Da! Plötzlich schaute sie in meine Richtung. Ich erschrak. Was, wenn sie mich auch in ihren Kinderwagen stopfte? Oder, noch schlimmer, in die Mülltonne? So einen Blick habe ich bei Menschen noch nie gesehen, wenn sie meiner ansichtig wurden.
Theophilus: Und du hattest überhaupt keine Angst?
Onkel Leopold: Na, und wie! Schon wollte ich die Flucht ergreifen. Aber bei der Frau: Keine Spur von Furcht oder Ekel, vielmehr lag etwas Fiebriges in ihren Augen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann widmete sich die Zersauste wieder dem Müll.
Ich nahm allen Mut zusammen, straffte Ohren und Schnurrhaare, richtete meinen Schwanz pfeilgerade nach hinten und rannte los. Ohne auf den Verkehr zu achten – ich hätte tot sein können, plattgewalzt von einem Auto –, raste ich über die Fügergasse zum Hostel und versteckte mich hinter einem der blaugestrichenen Pflanzentröge, die links und rechts vor dem Eingang stehen.
Theophilus: Die Frau hat dich gar nicht bemerkt?
Onkel Leopold (lacht): Eine gute Frage, Bub. Ich weiß es nicht. Zwar war ich nun aus dem Blickfeld der Frau verschwunden, doch da vernahm ich aufgeregtes Gegacker und Gekichere. Keine Sekunde zu früh konnte ich mich in den Spalt zwischen Trog und Hausmauer quetschen. Menschen traten aus dem Gebäude und blieben vor dem Eingang stehen. Und dann …“
(Eine kurze Pause, ein tiefer Atemzug ist zu hören.) Oh nein, denke ich, hoffentlich hat mich niemand gehört. Ein großer Zeh mit schwarzen Härchen war vor dem Spalt stehengeblieben. Ich wich ein Stück zurück. Würde ich auf der anderen Seite hinausschlüpfen und fliehen können? Doch auch dieser Fluchtweg war blockiert, durch eine weiße Schuhspitze. In meiner Panik fühlte ich den Blumentrog immer näher kommen, sah mich von ihm gegen die Hauswand gepresst und zerquetscht werden. Und dann tat ich, was ich in meinem ganzen Leben noch nie getan hatte.
(Es folgt eine längere Pause. Im Hintergrund ist das Ticken einer Uhr zu hören.) Ich biss zu!
Theophilus (hörbar entsetzt): Du hast zugebissen? Du hast in den Schuh gebissen?
Onkel Leopold: Ach was, in den Schuh! Da hätte ich mir doch alle Zähne ausgebissen. In den Zeh! Glaub mir, es gibt kaum etwas Ekelhafteres als ein Zeh mit schwarzen Härchen drauf.
Theophilus: Und wie schmeckt so ein Zeh?
Onkel Leopold: Schlimmer als alles zusammen, was Erwin je an Essbarem, besser gesagt, nicht mehr Essbarem herangeschleppt hat. G r a u e n h a f t! SCHEUSSLICH! Aber das Opfer hatte sich gelohnt. Sofort brach ein lautstarker Tumult aus. Turnschuhe trampelten umher, Flip-Flops klatschten auf den Asphalt, Sandalen hüpften auf und ab. Es gab ein „Iiiih!“ und ein „Qu‘est que c’est?“ und ein „Merde!“ Noch bevor jemand auf die Idee kam, hinter dem Blumentrog nachzusehen, raste ich zwischen den Füßen hindurch zu meiner Wohnung. Da hatte mich bereits ein Mann entdeckt, brüllte „La, regardez, une marte 2 !“, und eilte mir nach, gefolgt von zwei weiteren Männern. Was für ein Spektakel!
Noch immer saß die zersauste Frau am Gehsteigrand. Was jetzt passierte … (man hört Herrn Leopold tief durchatmen, es folgt eine längere Pause), … sie wandte sich um zu mir, ich spürte, wir das Herz in meine Hose rutschte. Ich war verloren! Links die Touristen, rechts die Zersauste. Die griff sich eine Pfanne, die neben ihr lag, hob sie hoch und ließ sie mit einem ohrenbetäubenden Scheppern auf den Gehsteig fallen. Wie versteinert blieben die drei Männer stehen. Das war meine Chance. In Windeseile huschte ich zum Eingang. Mit vor Aufregung zitternden Pfoten gelang es mir, die Tür aufzusperren. Ich war in Sicherheit. Jedoch! Himmel nochmal, was für ein Unglück. Ich wollte die Türe schließen, da war plötzlich dieses Auge! In der schwarzen Pupille konnte ich meine zitternden Schnurrbarthaare ganz deutlich erkennen, mir selbst wurde auch fast schwarz vor Augen. Schon vermeinte ich eine Hand zu spüren, die mich packte, um mich aus der Wohnung zu zerren und mir den Hals umzudrehen. Theophilus, ich sage dir, ich war einer Ohnmacht nahe. Das ist dein Ende, Leopold, dachte ich.
Aber es kam keine Hand und nichts und niemand versuchte, mir den Garaus zu machen. Bloß ein kurzes heiseres Krächzen, oder war es ein Lachen?, und weg war das Auge. Ich wagte nicht nachzuschauen, wohin es verschwunden war, hörte nur sich entfernendes Stimmengemurmel und französische Satzfetzen.


1: Mit einem Transponder 625X, den Theophilus, wie sollte es anders ein, in seiner Umhängetasche verstaut hatte.
2: Bedauerlicherweise kommt es immer wieder vor, dass Mäuse mit Mardern verwechselt werden. Bei einer Ratte wäre es eventuell noch nachvollziehbar; jedoch bei Mäusen?

Fortsetzung folgt am Dienstag, 15. März 2016.

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