Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf
Dieses Mal ausnahmsweise an einem Donnerstag!
Erwin ist nicht nur tot, er ist auch verschwunden. Wir entdeckten Pfotenabdrücke, die aus dem Dickicht herausführten. Dann verloren sich die Spuren. Hatte ihn jemand weggetragen? Aber wer? Und vor allem: warum?1
Bericht und Ergänzung von Erwin: Worin ein Himbeerkracherl Aufschluss über seine vermeintliche Vergiftung gibt, eine Käseplatte seinen Orientierungssinn durcheinanderbringt und seine Erinnerungen einige Lücken aufweisen.
Ist es der 24. oder der 25 August? Ich hab’s nicht so mit dem genauen Datum, ich jedenfalls klopf beim Leo an. Der macht auf und wird weiß, wie das Innere von einem Kaisersemmerl. Und dann kippt er einfach um. Der Kleine eilt herbei, wird auch weiß, fällt aber nicht um. Zu zweit hieven wir den Leo auf sein Kanapee2 .
„Du lebst?“, fragt der Kleine. Ich bin ein bisserl besorgt um ihn, vielleicht tut ihm das Stadtleben nicht gut. Und überhaupt, was ist da los?, denke ich noch, da wacht der Leo aus seiner Ohnmacht auf und fragt mich: „Du lebst?“
„Burschen“, sage ich, „wollt‘s ihr mich pflanzen?“
„Aber, da war doch Blut an deinem Mund“, meldet sich der Kleine.
Ich glaub, ich spinn. Was palavern die da?
Die beiden schauen mich an, als wär ich von den Toten auferstanden.
Dann erzählen sie mir, was in der besagten Nacht vorgefallen ist.
Mir fällt die Kinnlade runter. Naservas, denk ich, da hat sich mein Appetit aber diesmal ausgezahlt.
Dann bericht ich, was tatsächlich passiert ist und währenddessen fällt den beiden die Kinnlade runter: Ein alter Spezi von mir, den kenne ich noch von der Zeit der Seefahrerei, hat zu einem, na, wie hat er das genannt, zu einem Bankett, geladen. Bankett! Ha, der ist ja jetzt ein ganz Foiner geworden. Ferdl darf ich auch nicht mehr zu ihm sagen. „Erwin“, flötet er, „bitte nenne mich bei meinem Taufnamen: Ferdinand Heinrich.“ Also, der Ferdinand Heinrich hat mich zu diesem Bankett eingeladen. Und ich hab’s an diesem Abend wohl ein bisserl übertrieben mit dem Bauchvollschlagen3. Da gekostet, dort probiert, die Käseplatte geplündert. Himmel, war mir schlecht. Ich glaub, so vollgefre…, angestopft, also vollgegessen, war ich mein Lebtag noch nicht. Wahrscheinlich hat’s mir deswegen den Orientierungssinn durcheinandergehaut, wie wär ich sonst auf dem Platz neben den Hydranten gelandet. Erinnerungen? Futschikato, nix. Erst als ich mitten in der Nacht aufwach und merk, dass ich in einem Gebüsch lieg und neben mir zwei Burschen schnarchen – hätt ich ahnen können, dass ihr zwei mitten in der Nacht im Freien herumkugelts? –, also während die schnarchen, denk ich zuerst: Die Käseplatte hat’s aber ganz schön in sich gehabt. Dann denk ich: Erwin, jetzt schaust, dass du heimkommst. Es ist ein etwas längerer Heimweg geworden, weil, wie gesagt, die üppige Käseplatte und der Orientierungssinn. Zuerst bieg ich nach rechts und hatsch und hatsch. Plötzlich zwickt‘s mich in der Nase, meine Schnurrbarthaare vibrieren. Ich riech was Feucht-Schlammiges: der Wienfluss. Ich bin völlig verkehrt gelaufen!
Rechts von mir steht dieses gelbe Gebäude, in dem Rattenköder und Mäusefallen verkauft werden. Jeder vernünftige Nager macht einen großen, einen sehr großen Bogen!, darum. Links liegt diese kleine Grünanlage. Weißt eh Leo,, dieser Treffpunkt für Tauben4 . Die sind zwar ein bisserl grauslich, aber harmlos. In der Dunkelheit allerdings treibt sich zwielichtiges Nagegetier herum. Erwin, du bist auf der „Mausolos“ mit üblen Typen fertiggeworden, da schaffst du die hier in Nullkommanix, red ich mir gut zu und verschaff mir einen Überblick. Es gibt zwei Wege5 , um nach Hause zu kommen. Entweder runter zum Fluss und dann stromabwärts bis kurz vor das U-Bahn-Haus, auf die Gefahr hin, von Fledermäusen, Kanalratten angepöbelt und von Brücken geworfenen Dingen6 getroffen zu werden. Oder die Straße entlang, um von Autoabgasen eingenebelt zu werden.
Ich wähl die Autos.
„Ende. An mehr erinnere ich mich nicht.“
Der Leo und der Kleine haben noch immer eine heruntergeklappte Kinnlade.
„Aber, das Blut …“, stammelt der Kleine.
„Das Blut war kein Blut, sondern ein Himbeerkracherl!“, schließ ich meinen Bericht.
Der Leo klappt seine Kinnlade als Erster wieder zu, fragt: „Tee? Kaffee?“
Und alles ist wieder in Ordnung.
—
1: Die folgenden zwei Seiten wurden aus dem Tagebuch herausgerissen. Von wem und weshalb? Dieses Rätsel wird wohl ungelöst bleiben müssen. Vermutlich enthielten sie Herrn Leopolds Aufzeichnungen über den weiteren Verlauf der Ereignisse rund um Erwins Verschwinden.
2: Die geneigten Leserinnen und Leser mögen Erwins bemerkenswerte Wortwahl an dieser Stelle beachten.
3: Interessant wäre gewesen, was genau Erwin mit „bisserl übertrieben mit dem Bauchvollschlagen“ meinte. Er hielt sich jedoch, trotz mehrmaligen Nachfragens, diesbezüglich bedeckt.
4: Speziell jener Tauben, die nicht mehr viel vom Leben erwarten, ermattet und lustlos Körner und anderes Zeug aufpicken, sich kaum noch vom Aufstampfen eines Menschenfußes oder vom aufgeregten Bellen eines Vierbeiners beeindrucken lassen.
5: Es gib einen dritten Weg: die Mollardgasse. Erwin kannte mit Sicherheit auch diese Möglichkeit. Dass er sie nicht in Erwägung gezogen hatte, schreibt er der Käseplatte zu. Nun ja …
6: Dazu zählen unter anderem: Flaschen mit alkoholischem Inhalt, Fahrräder, Einkaufswagen, Herren-und-Damen-Unterbekleidung, Schuhe.
Fortsetzung folgt am Dienstag, 1. März 2016.
Alle bisherigen Abenteuer finden Sie hier.