Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf Porträt von Theophiuls Makadamia
Bericht und Ergänzung von Theophilus zu Herrn Leopolds Eintrag vom letzten Mal: Worin er gemeinsam mit Herrn Leopold und Frau Elsbeth Erwin findet und vieles ein bisschen anders verläuft als gedacht.

Erwins rechtes Auge starrte uns an. Der Blick schien gebrochen, die Pupille milchig trüb. Frau Elsbeth schloss sanft das Auge.
Zum ersten und zum letzten Mal wagte Onkel Leopold, die Klappe, die Erwins linkes Auge bedeckte, zur Seite zu schieben. Was würde uns erwarten? Ein Glasauge? Ein schwarzes Loch? Was wir sahen, war ein rosiges Augenlid, das sich wie eine Plane über die leere Augenhöhle spannte. Um die Augenhöhle herum verlief eine weißliche Narbe und ließ Erwin aussehen, als trüge er ein Monokel. Wer oder was konnte eine solche fast kreisrunde Wunde verursachen?
„Der Esel, der Fuchs, die den Ratten-Biber attackieren“, murmelte Onkel Leopold. Mit einem seltsam leeren Blick zu mir gewandt fügte er hinzu: „Weißt du, das riesige schwarzweiße Wandbild, vor dem Erwin immer solche Angst hatte …“ Er hielt inne, schüttelte den Kopf: „Spekulationen, Hypothesen.“

„Wo wollen wir ihn begraben?“ Frau Elsbeths Frage riss uns aus der Erstarrung. Jetzt war keine Zeit für Trauer, jetzt musste gehandelt werden. Die Situation verlangte nach Pragmatik und straffer Organisation. „Am besten, wir tragen ihn fürs Erste dort hinüber“, schlug sie vor und zeigte auf die dichten Büsche neben der Kirchenmauer, wo zwei Fahrräder vor sich hin rosteten, „dann ist er aus dem Blickfeld der Menschen und wir können in Ruhe nachdenken.“
Erwin ist zu seinen Lebzeiten ein schwerer Brummer gewesen, jetzt, wo er tot war, erschien uns sein Körper noch gewichtiger. Wir hoben ihn zu dritt hoch. Frau Elsbeth und Onkel Leopold griffen jeweils eine Vorderpfote, ich nahm Erwins Hinterpfoten. Vorsichtig trugen wir ihn vom Hydranten weg über die Pflastersteine in Richtung Kirchenmauer. Mir wurden die Arme schwer, auch Onkel Leopold schienen die Kräfte zu verlassen. Beinahe wäre uns Erwin aus den Pfoten gerutscht. Mit knapper Not gelang es uns, ihn vorsichtig auf den Boden zu legen.
„Ich brauche eine Verschnaufpause“, japste Onkel Leopold. Seine Nasenspitze war dunkelrot, seine Schnurrbarthaare zitterten vor Anstrengung.
Wir durften uns hier nicht zu lange aufhalten, jeden Moment konnten wir entdeckt werden.

Die Kirchenuhr schlug halb elf.
Wir hatten uns soweit erholt, dass wir Erwin wieder hochnehmen und ihn tief hinein ins Dickicht tragen konnten. Dort legten wir ihn auf die dunkelgrünen Blätter des über den Boden kriechenden Efeus.

Die Kirchturmuhr schlug elf.
„Ich muss was holen“, sagte ich und weg war ich. Ich kam zurück, beide Arme voll mit Blättern, die von den Lindenbäumen gefallen waren. Ich war erstaunt darüber, dass bereits jetzt im Sommer die Bäume ihr Laub verloren. Auch die Linden sind wohl erschöpft und traurig, dachte ich.
Wir breiteten die Blätter über Erwins toten Körper, dann setzten wir uns neben ihn.
„Und jetzt?“, fragte Frau Elsbeth. „Wir können Erwin hier nicht liegenlassen.“
„Ihn hier zu bestatten, ist ebenfalls zu riskant“, gab Onkel Leopold zu bedenken; und er hatte recht. Er wusste, dass sich hier in der Nacht Räuber herumtrieben. Innerhalb kurzer Zeit hätten sie Erwins Witterung aufgenommen, ihn ausgebuddelt und … Ich verfolgte den Gedanken lieber nicht weiter.
„Und in einem der Blumenbeete?“ Ich deutete in Richtung Kirchenvorplatz.
Frau Elsbeth schüttelte den Kopf. „So tief können wir Erwin gar nicht eingraben, dass nicht spätestens im Herbst die Gartenmenschen ihn beim Jäten und Umgraben wieder ausgraben würden.“
„Außerdem hätte er sicher keine Freude mit diesen Schildern zwischen den Blumen. Sie machte ihn rasend, die Aufschrift ‚Wer Tauben füttert, füttert Ratten!‘“, seufzte Onkel Leopold.
Ich musste ihm zustimmen. Ich würde auch keine Gedenktafel haben wollen, auf der der Zusatz vermerkt ist „Sind dir 36.- wurscht?“.

Die Kirchturmuhr schlug halb zwölf.
Kaum war der zweite Schlag verklungen, fragte Frau Elsbeth: „Leopold, du weißt doch, dass ich aus einem sehr alten Geschlecht von Mühlmäusen stamme?“
Onkel Leopold sah sie verdutzt an. „Ja?“
„Und dass meine Vorfahren ihren Stammsitz in der Mollardmühle hatten.“
Jetzt warf Onkel Leopold mir einen verdutzten Blick zu.
Frau Elsbeth ließ sich nicht beirren. „Ein kleiner Teil davon soll noch erhalten sein. Manche behaupten, es sei das Tor des ehemaligen Gumpendorfer Schlosses. Egal1. Mein Großvater erzählte mir, dass diese Reste vom ursprünglichen Platz in der Wallgasse in die Gumpendorferstraße gebracht wurden. Angeblich sind sie dort heute noch zu finden. In einem Garten. Nahe der Gumpendorfer Kirche. Was ich sagen will: Vielleicht ist das ein geeigneter Ort, um Erwin zu bestatten?“
Onkel Erwin nickte. Er war nicht mehr verdutzt, er schien völlig abwesend.
Frau Elsbeth wandte sich mir zu. „Ich mache mich sogleich auf die Suche und inspiziere die Stelle.“
Jetzt war ich der Verdutzte „Haben Sie denn keine Angst, alleine mitten in der Nacht? Kann das nicht bis …?“
Frau Elsbeth war jedoch bereits verschwunden.
„Natürlich hat sie keine Angst“, seufzte Onkel Leopold, der aus seiner Erstarrung erwacht war, „in ihren Adern fließt das Blut ihrer Vorfahren.“
„Dieser Mollardmühlmäuse?“
Er nickte.

Und dann erzählte er mir ein bisschen über Frau Elsbeths Vorfahren. Dass sie mutige Mäuse gewesen seien, die sich wacker schlugen im Kampf gegen die Katzen, die in der Mühle lebten, um den Mäusen den Garaus zu machen. Sogar mit dem Müllermeister selbst hätte sich einer aus dem Geschlecht der Mollardmühlmäuse angelegt; einige hatten vor dessen Augen Getreidekörner gestibitzt.
„Als Rache für diese Dreistigkeit ließ der Meister in der ganzen Mühle Fallen aufstellen, schließlich ist er aber selbst in eine getreten. So erzählen es jedenfalls die Chroniken … 2
Für einen längeren Moment war es still.
„Onkel Leopold?“, flüsterte ich. Als Antwort kam ein leises Schnarchen.

Die Kirchturmuhr schlug dreiviertel zwölf.
Ich hielt nun alleine Totenwache bei Erwin.

Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht.
Bei mir zu Hause hätte ich mich im Freien gefürchtet. Die Dunkelheit ist auf dem Land: dunkel. Teilweise sieht man die eigene Pfote vor den Augen nicht. Und sie ist niemals vollkommen still. Ständig ist ein Rascheln, Kratzen, Scharren, Wispern zu hören. Aber hier. Sogar durch das Blattwerk der Sträucher bahnen sich die Lichtstrahlen der Laternen ihren Weg. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, oder ich hörte Menschen auf der Straße sprechen oder bei einem offenen Fenster eine Frau kurz auflachen.

„Erwin ist weg!“ Jemand rüttelte mich am Arm. Nur schwer gelang es mir, meine Augen zu öffnen. Ich blickte in zwei verschwommene Gesichter. Nach und nach erkannte ich Onkel Leopold und Frau Elsbeth.
„Als ich zurückkam, habt ihr beide geschlafen“, sagte sie mit einem leicht vorwurfsvollen Ton . „Ich habe den Überrest des Tores gefunden. Es ist gleich schräg vis-à-vis in einem Hof. Aber nun“, sie zeigte auf den Platz, auf dem Erwin zuvor gelegen hatte und auf dem ein paar zerdrückte Linden- und Efeublätter an ihn erinnerten, „ist das vorerst nicht mehr wichtig.“

1: Egal? Mitnichten! Schloss, Mühle? Was stimmt denn nun? In einer alten Chronik heißt es, dass Ende des 17. Jahrhunderts die alte „Feste“ auf der Stadtseite einen größeren Zubau erhielt, „worin ein Mühlwerk untergebracht wurde; das ist eben der heute noch stehende Trakt“. Kaiser Leopold! I. habe 1679 dem damaligen Besitzer, einen gewissen Graf Franz Maximilian Mollard, zu seinem Gute Gumpendorf ein Privilegium „zur Erbauung und Zurichtung eines Silberhammers, einer Stampf- und Großmühle“ erteilt.

2: In einem Dokument aus dem Jahr 1682 heißt es: „So zogeten ein Grupp von Mausen gegen den habgierig Müller und besiegeten ihn und seine Muhlkatz, derer waren sechs und hernach waren zwo geflohet. Und der Müller waret bekehrt und gab den Mausen ihren Anteil von Getreidekorn. Alsnach die tapfer Grupp von Mausen wurde erhebet in den hohen Stand und nennte sich von da ‚Die von Mollardmühl‘“.


Fortsetzung folgt am Dienstag, 16. Februar 2016.

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