Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf.

Herr Leopold Portraet14. August

Pünktlich, wie sie im Frühling eingetroffen sind, haben sie Mariahilf wieder verlassen, die Schwalben. Vorbei das luftige Fangenspielen. Der Herbst beginnt. Das Licht nimmt bereits einen goldgelben Glanz an. Die Schatten werden schärfer. Nun gehört der Stadthimmel wieder den Tauben, Krähen, Rotschwänzchen, Spatzen, Drosseln, Amseln und Falken alleine. Oft fragte ich mich in den letzten Wochen, ob ich die Ankunft der Schwalben im nächsten Frühling noch erleben werde.

Wie kurz ist so ein Mäusedasein …

16. August

In der Früh klebten noch immer Mayonnaise-Reste in meinem Fell, hinter Theophilus‘ rechtem Ohr prangte der Schnipsel eines Essiggürkleins. Außerdem ist seine Zunge noch ziemlich geschwollen. Ich schimpfte mich wieder einmal einen alten Narren, der den Flausen eines jungen Mäuserichs nicht Einhalt geboten hatte. Kulturelle Abende sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Und: Kanapees können Kopfschmerzen bereiten. Und: Zeigt sich eine Maus den Menschen, bleibt diese Begegnung nicht ohne Folgen – zumeist für die Mäuse. Und Halten Menschen Essbares in den Händen, dann darf sich ihnen eine Maus nie, NIEMALS!, zeigen. Und: Sind Menschen elegant gekleidet, heißt das nicht, dass sie sich beim Anblick einer Maus auch elegant und stilvoll benehmen.
Auslöser dieses Desasters war Theophilus‘ botanische Neugierde. Er wollte am Abend noch ein paar Grünanlagen inspizieren. Ich schlug vor, uns Richtung Gürtel zu halten.
Wir starteten unseren Rundgang an der Ecke Millergasse-Mittelgasse und pirschten uns durch dichtes Gebüsch. Wir stolperten über Semmelstücke, zerknülltes oder in Auflösung befindliches Zeitungspapier, über Zigarettenstummel – botanisch Interessantes war nichts dabei. Wir marschierten die Matrosengasse weiter, aber außer ein paar Grasbüscheln sowie Brennnesselblättern, die zwischen den Pflastersteinen hervorsprießen und einem Fleckchen Moos neben einem Autoreifen, gab es nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Erst als wir in die Ägidigasse abbogen, bot sich an einer Hauswand Sehenswertes: Grashalme mit etwas Buschigem oben drauf. „Alopecurus pratensis 1. Na immerhin“, stellte Theophilus fest. Das war ihm Motivation genug, die Suche fortzusetzen. Alsdann: ab durchs Beet neben dem Altglascontainer Ägidigasse-Spalowskygasse. Über unseren Köpfen im Geäst veranstalteten zig Spatzen ein riesen Trara. Aufgeregt hüpften sie im Geäst des Zierstrauches hin und her. Unten in den Niederungen stolperten wir über Reis und Brotbrösel, zerknülltes oder in Auflösung befindliches Zeitungspapier, Zigarettenstummel, Glasscherben – botanisch Interessantes war nichts dabei. Lediglich neben dem Pfosten an der Gehsteigkante schaute ein Löwenzahnblatt hervor. Trotzdem: Für Theophilus war das Gebiet spannend und ergiebig genug und wir setzten unseren Weg fort. Der führte uns an einer schier endlosen Mauer aus Buchenhecken entlang.
Da! Plötzlich! Viele schwarze und dunkelviolette Beeren, die uns wie Augen aus den Hecken anstarrten. Ich war dermaßen erschrocken, dass ich wie angewurzelt stehenblieb. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Schließlich obsiegte die Neugierde, ich fasste Mut und griff nach einer Beere, da schrie Theophilus, der wenige Groß-Pfot vor mir gegangen war, voll Entsetzen: „Nicht!“
Blitzartig zog ich meine Pfote zurück.
Er hastete zu mir zurück, blieb schwer atmend vor mir stehen: „Nicht … den … Solanum dulcamara 2, der … ist … giftig. Wenn du das schluckst, … dann aber … Hallo!3
Einen weiteren botanischen Versuch starteten wir in der Anlage vor dem Gebäude, aus dem immer viele fröhliche, manchmal auch weniger fröhliche Menschenkinderstimmen zu hören sind. An manchen Sonntagen betreten Erwachsene, meist gemessenen Schrittes, das Haus, um nach wenigen Minuten wieder herauszukommen. Wir marschierten durch trockenes Gebiet. Und obwohl wir unsere Pfoten vorsichtig auf die Erde setzten, wirbelten wir doch eine Menge Staub auf, der heftiges Gehuste auslöste. Die einzige Abwechslung war ein buntes Plastikmännchen mit einem Säbel in der Hand. Es bot inmitten dieser Einöde einen sehr traurigen und verlassenen Anblick. Beinahe so traurig und verlassen wie die kugelförmigen Bäume, unter denen verdorrte Blätter raschelten.
Ehrlich gestanden, ich zweifelte immer mehr an der Sinnhaftigkeit unserer Expedition und fragte Theophilus, ob er noch weitersuchen wolle. Der spähte in diesem Moment um die Mauer aus roten Ziegelsteinen und nickte heftig. Was sollte es Großartiges zu entdecken geben? Zwischen den Pflastersteinen wuchernder Breitwegerich und Löwenzahn? Die kannte ich auch. Und Gänseblümchen, die ihre Köpfe durch den Asphalt zwängten, waren mir ebenfalls bekannt. Theophilus jedoch ließ nicht locker und so trippelten wir die Mauer entlang zum Gebüsch unterhalb der Garderobenfenster des Raimundtheaters. Der Weg dorthin war gesäumt von kleinen, verhutzelten Kastanien. Frühreif hatten sich einige bereits vom Baum gestürzt. Eine besonders vorwitzige drohte Theophilus auf den Kopf zu fallen, und nur mittels eines beherzten Sprunges zur Seite entkam er dieser Kastanienattacke. Dabei wäre er beinahe in einen Gackhaufen gefallen. Nach diesem, zum Glück nur olfaktorisch unangenehmen Erlebnis, hoffte ich inständig auf einen baldigen botanischen Höhepunkt “ – und tatsächlich fand sich dieses Mal ein winziger Pflanzenschatz. „Stella media, Lactuca serriola, Senecio vulgaris!“, rief Theophilus begeistert und schrieb in sein Notizheft: Vogelmiere, Stachellattich, Greiskraut. Und während er notierte, vernahmen wir Stimmen. Die dazugehörigen Menschen mussten ganz in der Nähe sein. Aus dem Stimmengewirr tauchten immer wieder ein Lachen, hin und wieder ein Husten auf. Dazwischen hörten wir „Plopp“ und „Klirr“.


Fortsetzung folgt am 24. November 2015


1: Wiesen-Fuchsschwanz
2: Bittersüßer Nachtschatten
3: Deliriumsartige Zustände sind da noch das kleinere Übel …

Alle bisherigen Abenteuer finden Sie hier.

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