Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf – Teil 3

Petra Oellinger PortraetVon der Sinnhaftigkeit, Fremdsprachen zu beherrschen oder Eine Begegnung der anderen Art. Vorwort von Petra Öllinger

Als Theophilus Kontakt mit mir aufnahm, spätabends im Frühling, wäre ich beinahe auf ihn getreten. Also nicht auf Theophilus, sondern auf etwas, das auf den ersten Blick aussah wie eine Streichholzschachtel und in meiner Hauseinfahrt lag. Ich hob die Schachtel auf und legte sie in meine Handfläche. Und jetzt, beim zweiten Blick, entpuppte sie sich als Koffer; ach was, Koffer, Köfferchen! Ein altmodisches noch dazu. Gefertigt aus dunklem Leder, mit einem Metallschloss, zusätzlich zusammengehalten von zwei Riemen. Am Griff war mit einem Bindfaden ein Blatt Papier befestigt. Trotz ihrer Winzigkeit erkannte ich die Schriftzeichen darauf sofort: Mausisch. Ich nahm meine Brille ab, hielt den Zettel ganz dicht vor meine Augen, sodass ich mit der Nase am Papier klebte, und entzifferte den Text.

„Liebe Petra Öllinger! Bitte erschrecken Sie nicht. Ich bin eine Maus. Mein Name ist Theophilus Makadamia. Mein Onkel Leopold gab mir den Ratschlag, mich an Sie zu wenden. Den Grund dafür und die Antwort auf Ihre mögliche Frage ‚Warum ausgerechnet ich?‘ finden Sie im Brief meines Onkels sowie in seinen Aufzeichnungen. Beides liegt in diesem Koffer. Ich bin sicher, Sie können mir helfen. Ich werde morgen um 21 Uhr hier bei der Altpapiertonne warten und freue mich auf Ihre – hoffentlich positive – Antwort.“

Wer konnte ahnen, dass ich mich gemeinsam mit einem Mäuserich auf die Spuren seines Onkels in Mariahilf begeben würde …

Zunächst jedoch die Vorgeschichte.

Ein Königreich für eine Lupe

Ich ging nach oben in meine Wohnung, wo ich von meinem Hund Zwetschke mit großem Argwohn begutachtet wurde, und setzte mich an meinen Schreibtisch. Wie könnte ich diesen Miniaturkoffer öffnen, ohne ihn kaputtzumachen? Ich durchstöberte alle Schreibtischschubladen und entdeckte in einer ganz hinten eine Dose. Zwischen grünen und gelben Zuckerln, die großteils miteinander verklebt waren, fand ich schließlich die Lösung: eine Pinzette. Vorsichtig öffnete ich damit das Schloss. Und was lag in dem Köfferchen? Ein weißer dicker Briefumschlag und ein in gelbes Leinen gebundenes Buch. Womit sollte ich anfangen? Umschlag? Buch? Ich entschied mich für den Umschlag. Fasste ihn mit der Pinzette, drehte ihn hin und her. War das eine Adresse auf der Vorderseite? Und dieser bunte Fleck rechts oben? Eine Briefmarke? Es war bereits sehr schwierig gewesen, die Nachricht der Maus zu entziffern, aber jetzt ging gar nichts mehr ohne Vergrößerungsglas. Auf der Rückseite war kein Absender vermerkt. Die obere Kante des Umschlags war sauber aufgeschlitzt, wahrscheinlich von, wie hieß die Maus nochmal? – ich schaute auf den Zettel –: Theophilus. Ich entnahm dem Kuvert ein dicht beschriebenes Blatt Papier sowie zwei unadressierte und unbeschriebene Ansichtskarten mit Motiven vom Meer. Woher hatte er die Karten? Hatte er sie von einer Reise mitgebracht? Lebte Herr Leopold an diesem Ort?

Ansichtskarte 1 mit Landschaft
Abbildung 1: Erste Ansichtskarte, Originalgröße 0,5 x 0,84 Zentimeter, die sich im Kuvert von Herrn Leopold befand.

Ansichtskarte 2 vom Meer
Abbildung 2: Zweite Ansichtskarte, Originalgröße 0,84 x 0,5 Zentimeter, befand sich ebenfalls im Kuvert von Herrn Leopold.

Die Zeichen auf dem Papier waren winzig – nicht wirklich eine Überraschung bei einem von einer Maus verfassten Text –, jedoch gestochen scharf und mit einer einfachen Lupe wohl ausgezeichnet zu lesen. Ich durchsuchte den Schreibtisch nochmals, stieß dabei unter anderem auf lange verloren geglaubte Rechnungszettel, verbogene Büroklammern und einen Radiergummi, der die Gestalt eines Kaffeehäferls hatte, aber eine Lupe fand ich nicht.

Mittlerweile war es bereits nach Mitternacht, nun hatte mich jedoch endgültig die Neugierde gepackt. Ich wollte unbedingt wissen, was in dem Brief stand und ich wollte unbedingt einen geeigneten Sehbehelf finden. Ich versuchte es mit dem Boden eines gläsernen Aschenbechers, den ich über die Seiten gleiten ließ – half nichts. Ich probierte es mit der alten Lesebrille meiner Großtante Sylvia, die sie vor drei Jahren bei einem ihrer raren Besuche bei mir vergessen hatte („Liebes, ich bin demnächst in deiner Nähe und hole sie.“) – half nichts. Ich kniff das linke Auge zu und hielt ein Blättchen vor mein rechtes. Ich kniff das rechte Auge zu und hielt ein Blättchen vor mein linkes – half nichts. Ich brauchte eine kleine Pause, öffnete das Fenster und blickte auf die Gasse. Das Haus auf Nummer 9 dämmerte seinem Abbruch entgegen – wusste es, was ihm bevorstand? Im zweiten Stock sah ich die beiden vertrockneten Orchideen auf dem Fensterbrett stehen. Letzten Sommer begann ihr Verdursten. Ich konnte sie nicht retten, denn der Hauseingang war mit einer dicken Kette versperrt, die Fenster im Erdgeschoß mit Brettern zugenagelt. Die Nachbarin gegenüber von Nummer 7 schaute wie jeden Tag um diese Zeit fern. Zwei Stockwerke über ihr stand ein Mann auf seiner Terrasse und rauchte. Beim Wirt am Eck drang das heisere Lachen eines letzten Gastes aus dem offenen Fenster, dann stand der Tschecherant leicht schwankend vor dem Wirtshaus, richtete sich mit einem Ruck gerade auf, stakste an der großen Platane vorbei, blieb stehen, machte kehrt und marschierte die Mittelgasse entlang. Bevor ihn die Nacht verschluckte, hörte ich ihn noch lallen „Mei Naserl is so rot, weil i so blau bin“.

Ich schloss das Fenster. Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf mein rotes Federpennal. Und dann entdeckte ich darin endlich etwas Geeignetes, um diesen Brief zu entziffern: eine Mini-Lupe. Sie war einmal einem Buch mit dem Titel „Pflanzenschädlinge entdecken und erfolgreich bekämpfen“ beigelegt. Hin und wieder hatte ich damit tatsächlich seltsames Getier auf einigen meiner Pflanzen entdeckt, aber erfolgreich bekämpft habe ich es nie; die meisten Blatt- und Schildläuse sowie Spinnmilben hatten von selbst das Weite gesucht.

Herrn Leopolds Wunsch

Ich war mittlerweile sehr müde, einen Versuch wollte ich in dieser Nacht noch wagen. So zückte ich meine Pflanzenschädlingsentdeckungslupe und begann zu lesen. Es war ein Brief von Theophilus‘ Onkel – auf Mausisch.

„Lieber Theophilus!

Bitte entschuldige, dass ich so lange nichts von mir hören habe lassen. Die letzten Wochen waren voll von neuen Eindrücken und ich brauchte eine Weile, um mich hier einzuleben.

Du findest in der Schachtel die Tagebuchnotizen über meine letzte Zeit in meiner alten Heimat Mariahilf. Vielleicht ist es der sentimentale Wunsch eines nicht mehr ganz jungen Mäuserichs, oder auch nur ein klein wenig Eitelkeit, ein winziger, aber unvergessener Teil der Geschichte einer großen Stadt zu werden. Ganz sicher aber sollen meine Memoiren dazu beitragen, in der Menschenwelt eine Lanze für uns Nager zu brechen. Dieser, mein langgehegter Wunsch soll mit Deiner Hilfe in Erfüllung gehen: die Veröffentlichung meiner Erlebnisse und Erinnerungen.

Ich kann sie vor mir sehen, Deine vor Schreck und Überraschung geweiteten Knopfaugen. Aber sei unbesorgt, Du sollst meiner Bitte nicht alleine nachkommen. Ich weiß nämlich jemanden, der Dir dabei helfen kann.

Du erinnerst Dich sicher an unsere Beobachtung damals am Platz mit der großen Platane, als wir aus den Brennnesseln in dem kleinen Garten kletterten. Auf dem Gehsteig lag ein verletzter Vogel. Rasch näherten sich Schritte. Vor uns stand plötzlich ein Paar Menschenschuhe und wir konnten nicht weglaufen vor lauter Schreck. Weißt Du noch, wie dieser Mensch sich hinhockte und uns beide ansah. Noch nie hatte ich erlebt, dass bei unserem Anblick ein menschliches Wesen nicht erschrocken, angeekelt oder verärgert reagiert hätte. Aber nun, erinnerst Du Dich?, passierte etwas ganz Seltsames. Dieser Mensch blieb ganz ruhig und sagte auf Mausisch!!, ich weiß die Worte noch so genau, als hätte ich sie erst gestern gehört: „Na, ihr zwei, ist das ein verletzter Freund von euch? Ich will sehen, ob ich ihn hinbekomme.“ Ein Mensch, der unsere Sprache spricht! Wir waren beide so perplex, dass wir zu antworten vergaßen. Dann nahm der Mensch den Vogel behutsam in die eine Hand und die andere legte er wie ein schützendes Dach über ihn. Er stand auf, und weg war er.

Bedauerlicherweise konnte ich nie herausfinden, ob der Vogel wieder gesund geworden ist. Später, Du warst bereits wieder abgereist, sah ich diesen Menschen, es war eine sie, abermals. Dieses Mal kam er, also sie, mit einem Hund an meinem Malvenhain vorbei. Ich nutzte die Gelegenheit und folgte den beiden die Straße hinunter (Du weißt, jene, in der Du Deine Spritztour inmitten der Plüschbären unternommen hast), immer zwischen Autos und Gehsteigkante. Dann sah ich die zwei den Platz mit der großen Platane überqueren und in der Gasse – da, wo der kleine Ruhe- und Therapiepark versteckt liegt, der mit dem Haselnussstrauch darin, von dem Du bei einer waghalsigen Klettertour beinahe abgestürzt wärst, und wo Erwin, wie konnte es auch anders sein, von den Eibensamen gekostet hat, wie erinnere ich mich noch an sein Bauchweh, oh, ich merke, ich schweife ab –, also wie die beiden in der Gasse durch ein großes grünes Tor in einem Haus verschwinden. Es ist mir gelungen, den Namen der Mausisch-Kennerin zu eruieren. Sie heißt: Petra Öllinger. Bringe den Koffer mit diesem Brief sowie meine Aufzeichnungen zu ihr und bitte sie um ihre Hilfe.

Ich bin sicher, ihr werdet eine wundervolle Geschichte daraus machen.

Ich sende Dir herzliche Grüße vom Meer,
Dein Onkel Leopold.“

Noch während ich den Brief las, tauchten Erinnerungen an diese Begegnung auf. Nein, es war mir damals nicht gelungen, den Vogel, eine Wacholderdrossel, gesund zu pflegen. Er war noch in derselben Nacht verstorben. Vermutlich war er wo dagegen geprallt und hatte sich dabei innere Verletzungen zugezogen. Ich hatte bereits die Jahre zuvor große Scharen dieser Vögel dabei beobachtet, wie sie sich auf die Beeren des Wilden Weines stürzten, der bei mir im Hinterhof die Hauswand umrankt. Einige von ihnen sind nach dem Genuss der bereits vergorenen Früchte mehr oder weniger orientierungslos herumgeflattert. Am nächsten Morgen begrub ich die Drossel unter dem von Herrn Leopold in seinem Brief erwähnten Haselnussstrauch.

Und Herr Leopold und Theophilus? Die beiden Mäuse hatten damals tatsächlich den Eindruck völliger Perplexität erweckt. Theophilus‘ leicht verbogene Schnurrbarthaare standen steil nach oben und Herrn Leopolds linkes Ohr zuckte nervös. Ich hatte zu dieser Zeit bereits das Abschlusssemester für Mausisch an der Volkshochschule Wien-West in der Damböckgasse absolviert. Ein willkommener Anlass, meine Mausisch-Kenntnisse endlich in einem Gespräch mit Mäusen zu testen! Ein seltener und kostbarer Moment; die kleinen Nager flüchten ja sonst, sobald sie einen Menschen sehen. Aber diese beiden standen da wie vom Donner gerührt. Dank Herrn Leopolds Brief kannte ich nun den Grund dafür: Ich hatte sie in ihrer Sprache angeredet! – Und ich hatte befürchtet, bei der Grammatik geschlampt oder ein Wort falsch ausgesprochen zu haben.

Es war bereits lange nach Mitternacht. Meine Augen brannten. Würde ich es noch schaffen, einige Seiten im Tagebuch von Herrn Leopold zu lesen?

Die Entscheidung bei der Altpapiertonne

In derselben Nacht arbeitete ich mich durch das gesamte Tagebuch. Um halb sieben in der Früh war ich fertig damit. Meine Entscheidung stand fest.

An dem vereinbarten Abend wartete ich gemeinsam mit Zwetschke – sie war einfach durch den Türspalt geschlüpft, die Stiegen hinunter gezischt und ließ sich jetzt nicht wieder hinaufscheuchen – kurz vor 21 Uhr bei der Altpapiertonne in der Hauseinfahrt. Theophilus traf auf die Minute pünktlich ein. Zwetschke näherte sich ihm mit einem lauten Wuff. Doch der kleine Mäuserich machte überhaupt keine Anstalten zu fliehen. Dafür winselte Zwetschke laut auf und lief zurück in die Wohnung. Theophilus stand immer noch da. Erstaunlich. Ein solch wackeres Tierchen hatte ich selten erlebt. Ich beugte mich zu ihm hinunter. Ja, ich erkannte ihn wieder: an seinen verbogenen Schnurrbarthaaren. Von wegen alle Mäuse sehen gleich aus! Und war das tatsächlich eine Pommes-frites-Gabel, die er nun in seine Umhängetasche – war das hellbrauner Cordstoff? – steckte? Schlagartig wurde mir klar, warum Zwetschke vorhin so einen Zirkus veranstaltet hatte. Er hatte sie damit offensichtlich in die Nase gepikst. Ich reichte Theophilus meinen rechten Zeigefinger und er legte seine Pfote darauf. Die Sache war abgemacht. Wir werden uns gemeinsam an die Veröffentlichung des Tagebuches seines Onkels, Herrn Leopold, machen.

Beim Abschied winkte er fröhlich, schlüpfte durch den schmalen Spalt unter dem großen Haustor durch und verschwand in der Mariahilfer Nacht.

Fortsetzung folgt am 10. März 2015.

Bisher erschienen:
Teil 1 – Vorstellrunde aller Mäuse
Teil 2 – Vorwort von Theophilus Makadamia

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