Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf – Teil 2
Das Glück ist ein Mauserl. Vorwort von Theophilus Makadamia
„Wenn der Einäugige Erwin zu dir sagt: ‚Lass dich überraschen!‘, dann suche das Weite.“
Wie gut erinnere ich mich an diese mahnenden Worte meines Onkels Leopold.
Wie oft hatte ich sie ignoriert.
Zum Glück.
Ich hätte vieles versäumt in diesem unvergesslichen Sommer.
Ich gebe zu, der Gedanke, einen Teil meiner Ferien mit einem alten Mäuserich in einer großen Stadt zu verbringen, behagte mir zuerst überhaupt nicht. Bibliothekar, der ist bestimmt verstaubt und vertrocknet, war das Erste, woran ich dachte, als meine Eltern mir vorschlugen, „einmal Großstadtaroma zu schnuppern“ (O-Ton meines Vaters damals, der nach wie vor etwas zu Theatralik neigt). Ich wollte mich mit meinen Freunden Schmelzi, Cliffi und Bourbon1 treffen; in Pfützen, Feuchtbiotopen und Wasserschaffeln abtauchen; auf Gartenstühle klettern und aus luftiger Höhe ins Gras hüpfen; Komposthaufen erklimmen, um von Verbotenem zu schmausen; Mutproben bestehen; mich meinem Hobby, der Botanik widmen. All das wollte ich, und nicht bei einem Onkel vergammeln. Vor meinem geistigen Auge tauchte das Bild eines verschrumpelten Mäuserichs auf, der in einer muffigen Wohnung voll mit dunkelgebeizten Wandschränken und Zeitungen aus dem vorigen Jahrhundert haust. Aber im Vorschlag meiner Eltern lockte ein Wort: Großstadt. Und ich konnte nicht widerstehen …
Zum Glück.
Ich hätte vieles versäumt in diesem unvergesslichen Sommer.
Ich hätte Frau Elsbeth nicht kennengelernt. Niemals zuvor hatte ich eine solch mutige Mäusedame erlebt. Sie fürchtete sich vor nichts und niemandem. Und – sie mochte pubertierende Mäuseriche. Ja, sie mochte sie wirklich. Nicht in der Art, wie es erwachsene Nager sonst tun: den Kopf tätscheln oder betulich auf die Schulter klopfen. Und man weiß genau: Die nehmen einen nicht ernst. Frau Elsbeth interessierte sich für mich und alles, was mich bewegte. Von ihr hörte ich nie „Werde erst mal groß“ oder „Das verstehst du nicht“.
Ich hätte Erwin nicht kennengelernt. Erwin, mit der rauen Schale und dem weichen Kern. Ein Klischee, ich weiß. Allerdings war er tatsächlich so. Tauben hielt er für arme Teufel, denen er von seinem Proviant abgab. Es brach ihm das Herz, wenn er die Langusten und Hummer in den Behältern am Naschmarkt ihrer Zukunft im Kochtopf entgegenkrebsen sah – und er nichts dagegen unternehmen konnte.
Und ich hätte Onkel Leopold nicht kennengelernt. Und seine Bücher. Und seinen Humor. Und seine Geduld. Und seine Fähigkeit, mich zum Selberdenken anzuregen. Und seine Weigerung, Dinge von der Straße zu essen.
Eines Tages, es waren bereits viele Monate seit meinem Aufenthalt bei Onkel Leopold vergangen und ich hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört, erhielt ich ein Paket mit der Post. Dann reiste ich nach Mariahilf.
Wer konnte ahnen, dass ich gemeinsam mit einem Menschen in Onkel Leopolds Abenteuer und meinen Sommeraufenthalt in Mariahilf eintauchen würde …
Die nächste Folge erscheint am Dienstag, den 24. Februar 2015
Teil 1 – Vorstellrunde aller Mäuse.
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1 Ausgesprochen wie das französische Adelsgeschlecht, oder die Vanille, was übrigens auch den seltsamen Spitznamen des Mäuserichs erklärt: seine große Begeisterung für Bourbon-Vanillezucker. Über die Herkunft der anderen beiden Spitznamen berichtet Theophilus Folgendes: „Cliffi war und ist ein begnadeter Geröllhaufenkletterer und balanciert stets mit großer Souveränität auf den Begrenzungsmauern zwischen zwei Gärten. Schmelzi verdankt, so wie Bourbon, den Namen seiner kulinarischen Vorliebe: Schmelzkäse. Angeblich können die zwei bis heute nicht davon lassen. Schmelzi vom Käse, Bourbon von der Vanille.“