Zugegeben: Die Tempelanlage Tarxien auf Malta, das Hügelgrab Newgrange in Irland oder der Palast von Knossos auf Kreta – beeindruckend, interessant, „exotisch“ Und: da gibt’s was zu erzählen für die Daheimgebliebenen. Zugegeben: Alpenland klingt im Vergleich nicht so exzeptionell. Für manche haftet vielleicht dem Begriff auch noch etwas Traumatisches aus dem Geographie-Unterricht an: „So, jetzt machen wir wieder was Geologisches in den Alpen. Nennts mir einmal die Eiszeiten! Wollts ma vielleicht weißmachen, euch sagt Günz, Mindel, Riß und Würm* nichts mehr?“
Wer sich allerdings weder um „Exzeptionalität“ noch um lähmende Geographiestunden kümmert, kann (fast) vor der eigenen Haustüre eine Fülle an Kultstätten entdecken.
Eine kleine Wanderung durch den Wienerwald, durchs Mühlviertel, durchs Stubaital oder ins Berner Oberland, schon findet sich eine Quelle (eingefasst oder noch frei sprudelnd), ein Kapellchen, das zumeist über oder neben einer solchen Quelle errichtet wurde, eine Anhöhe mit seltsam anmutenden Bäumen oder ebenso seltsam anmutenden Steinformationen. Wer Augen und Ohren offen hält, findet nicht selten Informationen über die Bedeutung dieser Stellen: in Sagen und mythologischen Erzählungen.
Hilfreich für die Suche nach dem (kultur)historischen Kern dieser Überlieferungen ist Hans Haids „Mythen der Alpen. Von Saligen, Weißen Frauen und Heiligen Bergen“. Der Volkskundler, Schriftsteller und Bergbauer führt von Italien über Frankreich, die Schweiz, Deutschland, Österreich bis nach Slowenien und zeigt, dass die Namen von Bergen, Almmatten, Fluren und Gebirgszügen Rückschlüsse auf deren Bedeutung für die dort lebenden Menschen hatten und zum Teil noch immer haben. Im Berner Oberland heißen zwei Berge „Wildi Frau“ und „Wissi Frau“. Interessant ist auch der Name Mut, der sich in vielerlei abgewandelten Formen entdecken lässt. Der Begriff lässt sich sprachwissenschaftlich nicht eindeutig erklären, es wird vermutet, dass es sich um ein prä-indoeuropäischen Begriff handelt. „Er kommt auch in Kleinsasien vor als moutas, mota, motas und mutas: immer in der Bedeutung von abgerundetem Berg oder Hügel.“ (S. 48). Hans Haid hält weiter fest, dass es sich bei Stätten, die mit Mut bezeichnet werden, vor allem in der Schweiz und in Tirol, um alte Kult-Plätze handelt.
Vergleichbar mit Heide Göttner-Abendroths Arbeiten über die Bedeutung der Göttinnen in verschiedenen Kulturkreisen (u.a. „Frau Holle. Das Feenvolk der Dolomiten. Die grossen Göttinnenmythen Mitteleuropas und der Alpen neu erzählt von Heide Göttner-Abendroth“) enthält auch Hans Haids Buch viel Wissenswertes über matriarchal-kulturgeschichtliche Hintergründe von Mythen. Die saligen, weißen Frauen: Jungfrauen, Herrinnen über die Berge, Beschützerinnen der Tiere. Mit ihrem Wissen über die Natur helfen sie den Menschen bei ihrer Arbeit. Wer sich allerdings einer ihrer Bediungungen widersetzt, zum Beispiel eine Salige nach ihrem Namen fragt oder der Natur Gewalt antut, der wird bestraft.
Erfrischend „aufmümpfig“ sind Hans Haids „Elf Fragen zum Alpen-Mythos ‚Ötzi’“, die dieses Thema auch für jene interessant machen, die dem Hype um den Mann aus dem Eis bis jetzt erfolgreich aus dem Weg gegangen sind: Wissenschaftliche Erklärungen und reisserische Ötzi-Mord-Meldungen werden kritisch betrachtet. Hans Haid rollt einige Ungereimtheiten in der Forschung auf und fragt unter anderem: „Warum wird der kulturgeschichtliche Hintergrund des Ötzi von der offiziellen Wissenschaft so sträflich vernachlässigt?“
„Mythen der Alpen“ kann auf mehrerlei Arten gelesen werden: als Wanderkarte, geographisches Verzeichnis, als Sagenbuch, als volkskundliche oder als sprachkundliche Quelle. Empfehlenswert ist die Lektüre für Menschen, die sich schon etwas mit alpenländischen Sagen beschäftigt haben. Das Buch enthält eine Fülle an Informationen und Namen, die ein Vorwissen notwendig erscheinen läßt. Ein kleines, feines Glossar, ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis und interessante Internetadressen bieten jedoch eine gute Auswahl fürs eigene (Weiter-) Beschäftigen mit den Kultstätten vor der eigenen Haustüre.
Hans Haid – Mythen der Alpen. Von Saligen, Weißen Frauen und Heiligen Bergen. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar, 2006. 365 Seiten, € 29,90.
Petra Öllinger
*Die Eiszeiten
600 000 – 540 000 vor unserer Zeitrechung: 1. Eiszeit (Günz)
480 000 – 430 000 vor unserer Zeitrechung: 2. Eiszeit (Mindel)
240 000 – 180 000 vor unserer Zeitrechung: 3. Eiszeit (Riß)
120 000 – 10 000 vor unserer Zeitrechung: 4. Eiszeit (Würm)