Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf

Porträt von Theophiuls MakadamiaBericht und Ergänzung von Theophilus: Worin Herr Leopold feststellt, dass vier Pfoten besser sind als zwei, und Obstkisten sich als tückisch erweisen.

Im Geschäft lief alles bestens. Neben der Kassa hatte ich, wie Onkel Leopold nicht vergaß mir einzubläuen – er wartete unten und zischelte ständig zu mir herauf „Vorsicht!“ und „Vergiss nicht zu zahlen!“ – dieses Mal vier 1-Cent-Münzen gelegt. Bereits nach wenigen Minuten landete ich elegant mit meiner mit Käsehäppchen vollgestopften Umhängetasche wieder sicher auf dem Boden.
Schon hatten wir uns durch den Gang gequetscht, schon standen wir wieder draußen am Naschmarkt. Trotzdem hatte ich ein seltsames Gefühl. Schnell weg von hier, dachte ich. Ich packte Onkel Leopold am Gilet und zog ihn hinter mir her.
„Warum laufen wir eigentlich auf den Hinterbeinen? Wären wir nicht schneller, wenn wir alle unsere vier Beine nutzten?“, fragte ich ihn. Onkel Leopold machte ein verdutztes Gesicht, so als hätte er mich nicht verstanden. Ich wiederholte meine Frage noch einmal. Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wie lange ich nicht mehr auf allen meinen Vieren unterwegs gewesen bin. Es sieht ja nicht sehr elegant aus.“ Ich erwiderte, dass wir uns im Moment keine Eleganz leisten können, und so schnell als möglich von hier verschwinden sollten. Anscheinend hatte er mir gar nicht zugehört, denn er sagte: „Huschen. Ein würdeloser Anblick, kein Wunder, dass die Menschen erschrecken, wenn sie uns umherhuschen1 sehen.“
Wir huschten, oder liefen, oder zischten, egal, wir bewegten uns jedenfalls stadtauswärts. Als wir um die Ecke des Käseparadieses bogen, vermeinte ich einen seltsamen Geruch aus der Kapelle schräg gegenüber wahrzunehmen. Ich blieb stehen.
„Wo bleibst du denn?“, zischte Onkel Leopold.
Als ich mich nicht rührte – ich fühlte mich wie hypnotisiert – kehrte er zu mir zurück. Links und rechts neben dem Absperrgitter lagen Holzkisten kreuz und quer verstreut. Ihnen entströmte ein verlockender Duft nach Kirschen, Erdbeeren und Zwetschken. Warum nur war ich so verfressen! Warum konnte ich meinen Appetit nicht einmal bremsen! Ich machte ja bereits Erwin Konkurrenz.
Da schoss es mir durch den Kopf: eine Falle! Zu spät! Eine heisere Stimme befahl: „Pfoten hoch!“ Nach einer kurzen Schrecksekunde flüsterte Onkel Leopold mir mit zitternder Stimme zu: „Mirabella. Es gibt sie also wirklich. Die Anführerin der Küchenschabenbande 2.“ Ich wusste nicht, wovon er sprach, ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie und drei Bandenmitglieder zielten mit Zahnstochern! auf uns. Kann man so etwas ernst nehmen?, fragte ich mich. Als jedoch einer der Banditen seinen Zahnstocher nach mir warf, der nur knapp an mir vorbeisauste und drei meiner Schnurrbarthaare streifte, wusste ich: Ja, die muss man ernst nehmen.
„Her mit dem Geld!“, fauchte Mirabella.
Ich war, obwohl mir die Knie schlotterten, baff: Wozu brauchen Küchenschaben Geld? Und noch während ich nach möglichen Antworten suchte, hörte ich meine Fragen, die wie eine Gewehrsalve auf das Gegenüber einprasselten: „Was fangen Küchenschaben mit Geld an? Möchten Sie nicht lieber ein Stück Käse? Oder hier“, ich kramte mit meiner linken Pfote in meiner Tasche, während ich die rechte hochhielt, und holte ein paar braune Brösel daraus hervor. „eine Kostprobe? Meggies Hunde-Diätfutter. Schon mal versucht? Erstaunlicherweise sehr sättigend, obwohl nur Diätfutter. Wie sieht es denn aus mit Ihrer Ernährung? Achten Sie auf die ausreichende Zufuhr essenzieller Fettsäuren? Und auf die ausreichende Zufuhr hochwertiger Kalorien? Bei Ihrer Tätigkeit sehr wichtig. Nehme ich an. Oder nicht? Warten Sie, ich habe hier“, und wühlte mit der rechten Pfote in der anderen Hosentasche, „eine Broschüre zum Thema ‚So bleibe ich geistig und körperlich fit‘. Oh, nein, leider, doch nicht. Aber wenn Sie möchten, dann könnte ich Ihnen eine zukommen lassen. Möchten Sie, dass ich Ihnen eine schicke? Kostenlos und unverbindlich.“
„Bub, du redest dich um deinen Verstand und uns um unser Leben“, zischte Onkel Leopold.
Es folgten viele Sekunden bedrohlicher Stille. Der Autoverkehr auf der linken und rechten Wienzeile: verstummt. Die Nachtschwärmer in den Naschmarktlokalen: verstummt. Sogar die beiden Betrunkenen torkelten zwischen den Marktständen umher – ohne einen Mucks. Obstkisten und Öl-Blechkanister, Orangenschalen und Pizzakartons, alles, so schien es mir, duckte sich unter dieser bedrohlichen Situation. Die zwei Küchenschaben, die hinter Mirabella standen, warfen einander überraschte Blicke zu. Dann machte die etwas korpulentere der beiden einen Schritt nach vor. Noch einen Schritt. Noch einen. Und – zeigte auf wie in der Schule! „Ja, also, ich hätte Interesse.“ Jene Küchenschabe, die zuvor mit ihrem Zahnstocher auf mich gezielt hatte, wedelte mit drei ihrer acht Beine, räusperte sich: „Für mich bitte auch.“
Den Ausdruck in Mirabellas Augen werde ich nie vergessen. Sie glühten rot, gelb, blau vor Zorn und Wut. Die Bandenführerin wandte sich den beiden Interessenten zu – das war Mirabellas entscheidender Fehler. Jetzt oder nie. Diesen Moment ihrer Unachtsamkeit galt es zu nutzen.
„Los!“, rief ich.

Bei der U-Bahnstation Kettenbrückengasse mussten wir kurz pausieren. Wir bekamen fast keine Luft mehr. Mein Herz klopfte noch schneller als es sowieso schon schlägt. Onkel Leopold klagte über Seitenstechen. Wurden wir verfolgt? Weit und breit waren keine Küchenschaben zu sehen. Ich war sicher, Mirabella sprühte Funken und war kurz vor dem Explodieren: keine Beute und zwei Mitglieder, die sich von Fitness-Versprechungen haben einwickeln lassen.
Vor uns lag jetzt eine riesige asphaltierte Fläche. Onkel Leopold hatte mir davon erzählt. Die Menschen belegen sie jeden Samstag mit altem Zeugs und betreiben Handel damit. Flohmarkt nennen sie das. Der Platz ist von allen Seiten gut einsehbar, es gibt keine Versteckmöglichkeit. Es galt also, so schnell als möglich, diese gefährliche Stelle zu passieren. Als ich mich kurz umdrehte, um zu schauen, ob wir Mirabellas Bande abgehängt hatten, stolperte Onkel Leopold über einen Zwirnknopf. Eine Falle! 3 Zum Glück fing ich ihn auf und bewahrte ihn so gerade noch vor einem Sturz; der wäre in seinem Alter fatal gewesen. Mit letzter Kraft schlugen wir uns zur Wurstinsel4 durch, verschnauften dort einen kurzen Moment, ehe wir die Magdalenenstraße erreichten.
Für den restlichen Nachhauseweg brauchten wir noch sehr, sehr lange.

9. August
Als ich heute Erwin von unserem nächtlichen Abenteuer erzählte, brach der in schallendes Gelächter aus und meinte: „Ja, sicher. Ihr und erfolgreich gegen die Mirabella-Bande kämpfen!“ Allerdings erzählte mir Theophilus später, Erwin habe ihn nach der ominösen Broschüre gefragt.


1: Hier sei huschen noch ergänzt durch: trippeln, springen, hüpfen.
2: Von den Medien als „die Daltons vom Naschmarkt“ bezeichnet, treibt die Küchenschaben-Bande seit vielen Jahren ihr Unwesen zwischen „Nordsee“ und Marktamt. Ihre Anführerin, Mirabella von Straten, entstammt einem uralten Adelsgeschlecht, das sich im Laufe der Jahre mehr und mehr dem Räuberhandwerk widmete. Überfälle auf Tauben, kleine Hunde und Mäuse sowie Diebstähle von Salzgurken, Wurstscheiben oder Cremeschnitten (im Ganzen, inklusive Zuckerguss!) werden der Bande zur Last gelegt. Trotz Hinweise aus der zwei- und vierbeinigen Bevölkerung konnten Mirabella und ihren Gesellen bis heute nicht gefasst werden.
3: Wahrscheinlicher ist, dass es sich beim Zwirnknopf um ein Überbleibsel vom Flohmarkt handelt.
4: Eine Einrichtung, in der das namensgebende Produkt – Wurst, nicht die Insel – käuflich erworben werden kann.

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