Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf
Aha, jetzt haben die Außerirdischen ausgerechnet Mariahilf heimgesucht. Wenn ich Überschriften wie „Kornkreise am Gürtel“ oder „UFO über Wien“ sogar in der „Mäusepresse“ lese, dann weiß ich: Die Saure-Gurken-Zeit hat begonnen. Erwin und Theophilus nehmen diese Meldungen allerdings zum Anlass, um selbst Recherchen anzustellen. Eine Expedition zum Gürtel wollen sie machen! Ich befürchte, ich kann diesen Irrsinn nicht vereiteln und werde mitkommen müssen, um das Schlimmste zu verhindern.
Nachtrag – 23:45 Uhr: Wir überquerten in der Dämmerung den Gürtel. Theophilus‘ und mein Aufschrei, die Ampel stehe auf Rot, wurde von Erwin ignoriert. „Der Bub muss lernen, dass Ampeln für uns bedeutungslos sind“, erklärte er. Außerdem sollten wir damit aufhören, die Ampel als überwachende und strafende Autorität zu betrachten. „Egal, wie schnell wir laufen, wir schaffen es sowieso nie, in einem Zug bei Grün über die Straße zu kommen. Irgendwie ist immer Rot.“ Natürlich verwendete Erwin nicht exakt diese Worte, vielmehr sagte er: „Ist nix zu sehen, los, wurscht, bei welcher Farbe.“ Oft hatte ich unseresgleichen am Mariahilfer Gürtel über den Asphalt hechten sehen; über die Straße, vorbei an den Büschen, über den Radweg, vorbei am Obelisken, vorbei an einer weiteren Buschreihe, über die Geleise der 6-er und 18-er Straßenbahn, nur um einen weiteren – wohlgemerkt: sinnlosen – Versuch zu starten, in einem Rutsch bei Grün den Gürtel zu überqueren. Irgendwie ist immer Rot.
Wir huschten über die Straßenbahngeleise, überquerten den Radweg – Theophilus wäre dabei beinahe von einem Menschen am Tretroller überfahren worden, hätte ich ihn nicht rechtzeitig am Hosenbund zurückgerissen! – und machten uns ein eigenes Bild von der Lage. Kornkreise? Lächerlich. Erstens: Von Korn war da nichts zu sehen, höchstens ein paar Kornblumen, aber die hielten wacker ihre aufrechte Stellung. Zweitens: Die niedergewalzten Grashalme wiesen eine sehr unregelmäßige Zick-Zack-Form auf. Außerirdische? Wenn, dann waren die völlig unkoordiniert durch dieses Gebiet gewankt. Und hinterlassen Außerirdische zerdrückte Bierdosen? Mein Verdacht: Betrunkene Zweibeiner, der sehr heftige Regen gefolgt von einem starken Wind vor ein paar Tagen hatten die Halme plattgedrückt. Erwin wischte alle meine Einwände vom Tisch, indem er behauptete, auf Alerohomora hätte er dieses Phänomen ebenfalls beobachtet, weit und breit waren da keine Menschen gewesen, geregnet hatte es damals seit Wochen nicht mehr, und von Wind keine Spur. Mein Argument, vielleicht seien die Halme aufgrund der Trockenheit umgefallen, hebelte er mit der Behauptung aus: „Ich weiß, was ich gesehen habe.“ Quod erat demonstrandum. Soviel zu Erwins Beweisführung, für ihn war sie damit beendet. Plötzlich vernahmen wir ein Schnarchen; leise zwar, aus dem Rauschen des Verkehrs jedoch deutlich herauszuhören: Theophilus. Er war zwischen den Königskerzen- und Kardestängeln eingeschlafen. Wahrscheinlich waren ihm die Aufregung und die Enttäuschung darüber, dass es doch keine Außerirdischen waren, die die Wiese verunstaltet hatten, zu viel geworden. Wir rüttelten ihn an der Schulter, tätschelten ihm die Wangen, mit Müh und Not bekamen wir ihn fast wach. Mit Theophilus in unserer Mitte machten wir uns auf den Rückweg. Ein Jungmäuserich im Halbschlaf zwischen einer einäugigen Ratte und einer Maus im Gilet, die den Mariahilfer Gürtel bei Rot überqueren.
Was für ein Bild.
Da hätten die Außerirdischen gestaunt …
Nachtrag – 00:02 Uhr: Verkehrslichtsignalanlage – klingt viel besser als Ampel, finde ich.
Fortsetzung folgt am 14. September 2015.
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