Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf
Bericht und Ergänzung von Erwin: Worin seine Erfahrungen als Schiffsratte von hervorragendem Nutzen sind, jedoch das Tee-Exportvolumen Indiens im Jahr 1865 sogar für ihn eine Nummer zu groß ist.
Foliant nennt man das. Aha. In meinen Augen war das ein riesiges Trumm von einem Büchl. Der Leo und ich stehen also vor diesem Regal. Ich, wie immer, wenn wir zu den Findners stiefeln, ausgerüstet mit meinem Enterhaken und meinem Fernrohr. Einige Minuten schaut der Leo so durchs Rohr – ich frag mich, was es da zu sehen gibt, rührt sich ja nix –, er schaut und schaut und dann zeigt er auf das rote Ungetüm, das schräg an einem grünen lehnt, und bittet mich, dass ich den Haken hinaufwerfe, um die Lage dort oben höchstpersönlich „zu sondieren“. Naservas, denk ich, das wird keine leichte Sache. Obwohl, ich bin ja früher auf der „Mausolos“ die Takelage hoch wie nix, auch wenn mir der Atlantiksturm um und in die Ohren gepfiffen hat.
Aber für den Leo mach ich eh fast alles. Das Büchl steht recht weit oben, da reicht das Seil mit dem Enterhaken nicht aus. Ich muss zuerst ein Stückerl raufklettern, komm mir dabei vor wie diese Kraxler, die wie die Spinnen am Flacksturm im Esterházypark picken. Fast rutsch ich von einem Gedichtbuch ab. Kann mich aber grad noch am Umschlag von der „Wiener Küche“ festhalten. Reiß dabei den Teller mit der Beilage ein, also, das Bild mit dem Teller mit der Beilage, ich glaub, das war ein Semmelschmarrn. Oder war’s ein Rotkraut? Ich krall mich am Buchdeckel fest, da beginnt das Kochbuch, das gefährlich weit über das Regalbrettl hinausschaut, auf und ab zu schaukeln. Ich seh mich bereits mitsamt der „Wiener Küche“ abstürzen. „Erwin“, sag ich mir, „wenn diese Geschichte gut ausgeht, dann isst ab morgen weniger.“
Ich schau nach unten. Naservas!, der Leo hat tellergroße Augen und dreht nervös an seinen Schnurrbarthaaren. Ich schaff‘s, mich an der „Wiener Küche“ hochzuziehen 1. Mit einem Satz spring ich auf einen dicken Wälzer, der aufgeschlagen daneben liegt, und land in einem Schwarz-Weiß-Foto. Auf dem sind riesige Räder zu sehen. Ich brauch eine Weile, bis ich die krakeligen Buchstaben unter dem Foto entziffert hab: „Maschinenhalle der Unterstation Kaunitzgasse“ steht da, und dass die um 1907 zum Beispiel das Raimundtheater mit Strom versorgt hat. Das wär was für den Leo überleg ich und blätter weiter. Da find ich das Bild von einem Gebäude. Enorm! Und ich les: „Eingang in das Polizeigefangenenhaus (alte Theobaldgasse, heute Fillgradergasse)“. Das ist interessant, denk ich, das liegt ja fast bei mir ums Eck. Ob da der Rote Wickerl – so haben‘s meinen Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Opa genannt – auch eingekastelt war? Ich glaub‘s eher nicht. Der hat angeblich jeden Schlupfwinkel in der gesamten Laimgrube 2 gekannt, um sich zu verstecken. Da hat er eh guten Grund dazu gehabt, weil er war damals dabei bei der Gründung von diesem Wanderrattenbildungsverein. Das hat den feinen Ratzherrenbinkeln überhaupt nicht gepasst. Häuslratzen und Bildung! Den Roten Wickerl haben‘s sogar steckbrieflich gesucht. Der Opa hat den Wisch in seiner Kramurikiste aufgehoben.
Abbildung 3: Der Steckbrief von Viktor Pratz, dem Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Opa vom Einäugigen Erwin, der das Dokument in der Kramurikiste seines Opas aufbewahrt.
Und während ich so studier, wachelt der Leo unten umher und deutet auf eine Stelle über mir, eben auf dieses Foliending. Das aufgeschlagene Büchl, auf dem ich grad steh, hat nicht nur interessante Bilder, sondern dient auch bestens als Plattform. Ich stell mich auf das Bild vom Gefängnishaus, schnapp mir den Enterhaken, fass das Ziel ins Auge, lass den Haken ein paar Mal über meinem Kopf kreisen, und – zack!, schon hängt der Haken am Buchrücken vom Folanten fest. Ich nehm das Seilende in die Pfoten und kletter vorsichtig hoch. Ich seh die goldigen Buchstaben immer näher kommen und merk, dass der Folant langsam vornüberkippt. Einmal mehr denk ich: Erwin, ab morgen nimmst ab. Und hoff, dass ich es noch rechtzeitig schaff. Vergeblich. Das Buch kippt aus dem Regal. Ich seh nur noch das Muster vom Fliesenboden auf mich zukommen. Blaue Quadrate, gelbe Kreise. Mich überholt eine Karte vom Kap der Guten Hoffnung, und während ich mich noch frag, ob ich die vielleicht versehentlich wo rausgerissen hab, land ich in einem blauen Fliesenquadrat. Das Letzte, was ich seh, bevor es um mich kurz schwarz wird, ist das Tee-Exportvolumen Indiens im Jahr 1865, das mich unter sich begräbt. Irgendwie gelingt’s mir, mich aus dem Folanten hervorzuwurschteln. Mir ist ganz blümerant. Ich seh zwei Leos herbeieilen, fuchteln und in Stereo fragen, ob mir was passiert ist. Der Doppel-Leo stolpert über ein gelbes Heftl, das ist wahrscheinlich gemeinsam mit dem roten Pracker runtergefallen.
Als der doppelte Leo näher kommt, ist es nur noch ein Leo. Zum Glück. Trotzdem will er mich zu seinem Arzt – dem Doktor van Keehs – schicken, weil der würde auch Ratten behandeln. „Nein, danke“, brumm ich, „mein Kopf ist noch dran, das ist die Hauptsach.“ Der Leo will mich heimbegleiten. Ich wink ab. Das fehlt mir noch, der Leo bei mir zu Hause. Das würd ihm nicht sehr gefallen.
Draußen vor dem Geschäft verabschieden wir uns. Ich spür den besorgten Blick vom Leo, bis ich hinter dem Elektrokastl, auf dem jemand ein gelbes Manderl gepinselt hat, verschwunden bin. Ich muss kurz verschnaufen. Zugegeben, meine Knie sind ein bisserl weich, aber ich schaff den Weg heim.
Bei Findners war ich seitdem nicht mehr drinnen, da war’s ja auf der „Mausolos“ sicherer.
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1 Erwin ersuchte um folgende Ergänzung: „Jetzt bin ich mir sicher, es war ein Rotkraut.“
2 In den Memoiren des ehemaligen Ratten-Gefängnisdirektors Joseph Köttelgeier („Meine Memoiren als Ratten-Gefängnisdirektor“, erschienen im Rotzfrech-Verlag; das Buch ist vergriffen und nur mehr antiquarisch erhältlich) findet sich ein Hinweis auf einen Viktor Pratz. Dieser war zu einer Haftstrafe von 25 Tagen verurteilt worden, weil er sich trotz Verbotes im Rattenbildungsverein politisch engagiert hat. Nach zwei Tagen gelang ihm die Flucht, er tauchte unter, die Justiz konnte seiner nicht mehr habhaft werden. Erwins Behauptung, dass es sich bei Viktor Pratz um seinen Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Opa handelt, ist nicht ganz von der Pfote, ähem, von der Hand zu weisen.
Fortsetzung folgt am 28. April 2015.
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