Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet22. August

Erwin ist tot. Vor drei Tagen fanden wir ihn am späten Abend am Kurt-Pint-Platz, neben dem Hydranten (ydran)1. Ein bisschen Blut (lut) war aus der Nase geflossen, sonst gab es keine äußerlichen Anzeichen seines Ablebens. Es schien, als schliefe er. Ich wusste sofort, was los war. Erwin hätte nie auf der Straße geschlafen. Die Gefahr, mit einer Kehrschaufel in einen Mistkübel bugsiert oder gleich an Ort Stelle von einem Menschen erschlagen zu werden, wäre viel zu groß gewesen.
Elsbeth fühlte Erwins Puls.
„Sollen wir nicht die Rettung holen, oder einen Arzt?“, fragte Theophilus.
Ha, Arzt, Rettung – für eine Ratte! Was weiß der Junge denn schon.
„Ist er wirklich tot?“, fragte Theophilus.
Elsbeth nickte.
War er von der Blumenbeetmauer gestürzt? Niemals. Erwin war ein ausgezeichneter Kletterer. Er hätte sogar im volltrunkenen (votrunk) Zustand die Mauern der Gumpendorfer (Gumpf) Kirche hochklettern können. Obwohl, ich habe Erwin nie Alkohol trinken sehen. Das fällt mir erst jetzt auf. Ich hatte gedacht, Erwin gut zu kennen. Was für ein Irrtum! Wie wenig ich im Grunde über ihn weiß! Warum kam mir nie die Idee, ihn nach seinen Wünschen (ünschn), Träumen, seiner Herkunft zu fragen. Wenn er von seinen Abenteuern als Schiffsratte erzählte, dann hatte seine Stimme, wenn man ganz genau zuhörte, selten nach Meer und Freibeuterei, sondern nach Desinfektionsmittel und Angst geklungen. Warum? Warum habe ich ihn nicht gefragt?
Ich weiß nicht einmal, wo er lebte. Irgendwann hatte er erwähnte, im Sommer in einem schmalen Grasstreifen neben einer Hausmauer in der Magdalenenstraße zu wohnen. „Da wo wir alle herkommen: aus dem Ratzenstadl!2 Passt doch! Da hat auch der Rattenfänger vom Magdalenengrund 3 nichts geholfen“, hatte er gelacht. Und bitter geklungen.
Und im Winter (inter)? Ich hatte diese Frage ebenfalls verabsäumt. Warum?
Ich bin nicht nur ein alter Narr, der sich von seinem Neffen immer zu allerlei Unfug überreden lässt; ich bin noch dazu ein alter Egoist. Darum!

Auch wenn Erwin sein Leben gelebt hatte, so allein und verlassen aus der Welt zu gehen, war sicher kein Spaziergang gewesen. Wie lange lag er bereits da? Ich wunderte mich, dass eine tote Ratte, noch dazu so gut sichtbar, nicht mit einem Fußtritt beiseitegeschafft, oder bereits entsorgt worden war. Entsorgt! Das Wort explodierte in meinem Kopf. Die Menschen entsorgen gerne: Papier, Glas, Metall, Restmüll. Die Vorstellung, Erwin fände seine letzte Ruhestätte in einer Mülltonne – unerträglich!! Tierkörperverwertung (Tiköpvertung) nennen die Menschen das. Ich fühlte mich verloren, verlassen, verzweifelt, der Schmerz biss in meinen Bauch. Was waren wir denn? Nager. Ungeziefer. Eine Landplage, die es galt auszumerzen.
Theophilus, Elsbeth und ich schauten einander an. Hatten wir denselben Gedanken und getrauten uns nicht, ihn auszusprechen?
„Gift. Er wurde vergiftet!“, brüllte ich. Ein mir sonst völlig unbekannter Zorn hatte mich ergriffen, ich schimpfte und tobte, trommelte mit den Pfoten gegen den Hydranten, trat sogar dagegen. „Hatte ich ihm nicht immer gepredigt, nichts von der Straße zu essen? Hatte ich ihn nicht immer und immer wieder davor gewarnt? Hatte ich das nicht getan?“
Elsbeth und Theophilus standen da wie vom Donner gerührt.
So plötzlich, wie dieser Anfall mich heimgesucht hatte, war er wieder verflogen. Ruhig und gefasst sagte ich: „Wir müssen Erwin wegbringen. Morgen findet hier wieder der Wochenmarkt statt, ihr wisst ja, mit dem Käsestand (ösestnd).“
Jetzt, wo ich das Erlebte aufschreibe, zerreißt es mir das Herz aufs Neue bei dem Gedanken, dass kein vorwitziger Erwin mehr Brimsen (imsn) und andere Köstlichkeiten (Köstktn), vor den Augen des Käsemannes (äsemans)!, zu stehlen versuchen würde. Nie mehr!
Doch das Leben geht weiter. Und der Käsemann wird weiterhin seinen Brimsen anbieten. Und der Wind wird durch die Matrosengasse wehen. Und die Malven werden ihre violetten Blüten zum Leuchten bringen. Jedoch ohne Erwin hat die Welt viel von ihrem Glanz verloren.

Ich will jetzt nicht in Erinnerungen schwelgen, weil es mir dabei mein Herz zerdrückt.


1: Im Originaldokument ist an einigen Stellen des folgenden Absatzes die Tinte zerlaufen. Um das Geschehen rund um den Tod von Erwin hier verständlich wiederzugeben, wurden die vermutlich durch Tränenflüssigkeit beinahe unleserlich gewordenen Stellen mit Hilfe von Frau Professor Scheiblett ergänzt worden. Diese sind im Text unterstrichen, in Klammer befinden sich die ursprünglichen Wortreste in die Menschensprache übersetzt. Die Mausischen Originalzeichen sehen Sie hier:
Die Mausischen Originalzeichen
2: Genau genommen: im ehemaligen Ratzenstadl. Übrigens, der frühere Namen „Im Saugraben an der Wien“ klang auch nicht sehr schmeichelhaft …
3: Der hieß angeblich Hans Mäuseloch – wie treffend – und befreite Korneuburg mithilfe einer Flöte von einer „Rattenplage“. Jede Ähnlichkeit mit dem Rattenfänger von Hameln ist vorhanden und beabsichtigt. Und nebenbei bemerkt: Es wäre interessant zu wissen, welche Melodei der Rattenfänger da flötete, sodass kluge Tiere wie Ratten diesem Typen auf den Leim gingen. Falls jemand der geneigten Leserinnen und Lesern eine Idee dazu hat …

Fortsetzung folgt am Dienstag, 2. Februar 2016.

Alle bisherigen Abenteuer finden Sie hier.

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