Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet6. August
Waren heute im Käseparadies. Dabei wollten wir in die Technische Universität. Aber auf dem Weg dahin schlug Theophilus einen Abstecher zum Naschmarkt vor. Er hätte so viel über ein Käseparadies gelesen, das sich auf diesem Gelände befinden solle, und das müsse doch das Paradies für Mäuse sein.1 Auf meine Frage, in welchem Käseblatt er denn darauf gestoßen sei, antwortete er: „Onkel Leopold, ich bin erstaunt über deinen Kalauer.“ Touché. Und: Chapeau für dieses Parieren. Ich verkniff mir den Nachsatz, dass die Bezeichnung Hühnerparadies auch nicht das meint, was der Name vorgibt … Nun, zuerst war ich äußerst skeptisch, was dieses Käse-Mäuse-Paradies betraf. Als wir dann davor standen, ich muss zugeben: Ich kam aus dem Staunen nicht heraus!
Was gab es da alles in der Auslage zu sehen: Große, ach was große, riesige! Käselaibe türmten sich übereinander. Echter! Emmentaler – nicht eine fahlgelbe Gummischeibe aus dem Supermarkt – mit Löchern so groß, dass ich sogar meinen Kopf durchstecken könnte; kein Wunder, dass die Menschen so etwas Großlochkäse 2 nennen. Wie sich das schon anhört. Aber hier: ein echter Emmentaler, mit unregelmäßig geformten Löchern, wie es sich gehört. Brie à la Truffe, Brie au lait cru, alle in elegante Holzschachteln verpackt. Wenn bereits die Auslage so verlockend gestaltet war, wie mochte es erst drinnen aussehen? Jedoch: Wie sollten wir hineinkommen, als Mäuse, noch dazu außerhalb der Öffnungszeiten? Davon abgesehen, dass man uns innerhalb der Öffnungszeiten sehr rasch entdeckt, dingfest gemacht und anschließend eliminiert hätte. Vor meinem geistigen Auge las ich die Schlagzeile: „Skandal! Maus steckt in Emmentalerloch fest!“ Wir konnten doch nicht einfach wie gemeine Einbrecher … Während ich mich noch mit diesen Überlegungen beschäftigte, beschäftigte Theophilus sich bereits praktisch mit der Suche nach einem potentiellen Eingang. An der hölzernen Vorderfront vom Käseparadies, direkt unter einer der Auslagescheiben entdeckten wir ein kleines Gitter über einer quadratischen Öffnung. Die rechte untere Kante des Gitters war ein Stückchen weit aufgebogen.
„Vielleicht gelingt es uns, das Gitter noch ein bisschen weiter zu verbiegen, dann könnten wir durchschlüpfen“, schlug Theophilus vor. „Onkel Leopold, stell du dich darunter.“
Ich verstand zuerst nicht, was er wollte. „Willst du etwa …?“
Er nickte: „Genau. Wir machen eine Räuber-Mäuse-Leiter.“ Und schob mich unter die betreffende Stelle. Dann sprang er auf meine Schulter. Ächzend und stöhnend tat er sein Bestes, ruckelte und zerrte am Gitter, rutschte einmal mit der linken Hinterpfote ab, riss mich dabei an meinem linken Ohr, trat ein andermal mit der rechten Hinterpfote in mein rechtes Auge, kitzelte mich mit seinem Schwanz an meiner Nase. Theophilus‘ Gewicht begann schwer auf mir zu lasten. Er hampelte und turnte auf meinen Schultern herum. Schließlich hüpfte er wieder herunter. Schüttelte den Kopf. „Leider, das Ding ist zu stabil.“
Wir setzten unsere Suche fort, inspizierten die andere Seite des Käseparadieses und: da! Zwei Zentimeter über dem Boden führte eine kleine Öffnung in eine Art Entlüftungsgang. Theophilus wollte hineinkriechen, ich aber konnte ihn noch rechtzeitig zurückhalten. „Wir können doch nicht einfach … außerhalb der Öffnungszeiten … stehlen! Außerdem ist es viel zu riskant. Der Gang wird vielleicht immer enger und man bleibt darin stecken. Oder am Ende des Ganges befindet sich eine Mausefalle –und ich meine damit nicht eine Lebendfalle!“, warnte ich Theophilus. „Oder der Alarm geht los, sobald man nur eine Pfote in den Gang setzt und sofort rattern Gitter herunter und man ist gefangen und …“
„Wir versuchen es damit.“ Theophilus hatte, während ich meine Befürchtungen aufzählte, ein Ding mit den Worten „Pedunculus 3 , könnte hilfreich sein“ angeschleppt, schüttelte ein paar vertrockneten Beeren ab, die noch daran hingen, rammte es in den Gang, zog ihn raus, schob es abermals ganz tief hinein, zog es wieder heraus.
„Kein Steckenbleiben, keine Falle, kein Alarm. Wir versuchen es.“ Sprach’s und kletterte hinein.
„Komm sofort wieder raus!“, zischte ich ihn den Gang. Theophilus war in der Zwischenzeit zu weit drinnen. Was blieb mir anderes übrig, als ihm zu folgen. Auf dem Bauch rutschte ich ihm hinterher. Auf dem Bauch ins Paradies für Mäuse.
Ja, es war ein Paradies für Mäuse! Überwältigend. Dieser Duft! Dieses Aroma! Hartkäse, Halbhartkäse, Weichkäse und Frischkäse. Sennkäse und Räucherkäse. Graukäse und Bierkäse. Sbrinz, Gouda, Pecorino, Brie, Roquefort, Tilsitter, Edamer, Gorgonzola, Appenzeller. Zwölf Monate gereift, achtzehn Monate gereift, vierundzwanzig Monate gereift. Mir war ganz schwummerig.
Kaum hatte ich mich von diesem Anblick, diesem olfaktorischen Eindruck erholt, sah ich Theophilus oben in der Kühlvitrine zwischen einer Stange Raclette und einem halben Laib Parmesan verschwinden. Wie war er da hinaufgekommen? Und vor allem in diesem Tempo?
„Theophilus! Theophilus!“ Er hörte mich nicht. Ich musste zu ihm hinauf. Neben der Vitrine waren mehrere Käselaibe stufenartig übereinandergestapelt, auf ihnen konnte ich nach oben klettern. Am letzten Käse angekommen, hatte ich den Eindruck, auf einer Plattform zu stehen.
Die Aussicht war ü b e r w ä l t i g e n d. Unter mir breitete sich ein circa zehn Zentimeter breiter Spalt aus, der mich beziehungsweise meine Käseplattform von der Kühlvitrine trennte. Wenn ich Theophilus einholen will, dann muss ich da hinüber. Meine Knie zitterten. Das vorhin noch herrliche Käsearoma benebelte meine Sinne. Alles drehte sich: die Vitrine, der Stangenraclette, Theophilus. Ich rief seinen Namen ein weiteres Mal. Er hörte mich nicht. Ich musste hinüber.

Ich nahm einen leichten Anlauf und sprang.

„Wow“, hörte ich Theophilus anerkennend sagen. „Warum hast du mich nicht gerufen, dann hättest nicht springen müssen.“
Ich ließ mich erschöpft neben die Kassa fallen. Theophilus stand mit dem Rücken zu mir. Was machte er da? Stopfte er sich etwa die Hosentaschen voll? Ich war empört. Das konnte nicht mehr als Mundraub durchgehen. Ich schämte mich. Diebstahl!
„Theophilus! Stehlen!“
Er drehte sich um, die Backen voll wie ein Hamster.
„Aber du“, er schluckte hinunter, „ich meine, ich, also, wir haben doch Geld.“
Er steckte seine linke Pfote in seine Umhängetasche und zog eine 1-Cent-Münze daraus hervor. Der Enzian auf der Rückseite der Münze war mit grüngesprenkeltem Käse verklebt.
„Wenn wir zusammenlegen, reicht es sogar für ein zusätzliches Stückchen Appenzeller. Mit drei, vier Cent müssten wir auskommen.“
„Junge, siehst du nicht, was da auf den Preisschildern steht?“ Ich deutete auf den Brie. „2,99. Euro. Für zehn Deka.“
„Aber ich habe doch niemals zehn Deka hier eingesteckt. Wie viel sind überhaupt zehn Deka?“
„Hundert Gramm“, erklärte ich.
„Das sind niemals hundert Gramm.“ Er klopfte auf seine Umhängetasche und schüttelte den Kopf. „Niemals.“ Dann fischte er ein kleines gelbes, sehr intensiv riechendes, schon etwas ramponiertes Kügelchen aus der Tasche und hielt es mir vor die Nase. „Probier den hier.“ Ich lehnte dankend ab.
„Wir wollen es für heute gut sein lassen“, sagte ich zu ihm, nahm drei 1-Cent-Münzen aus meinem Geldbeutel und legte sie neben die Kassa.

Wie kamen wir wieder zurück? Nochmals springen? Mir schauderte. Theophilus schien meine Befürchtungen bemerkt zu haben. „Dort drüben“, er zeigte auf einen Holztisch, der direkt an der Vitrine stand, „ist es ganz leicht, man braucht nur an den Tischbeinen hinunterrutschen.“
Wir rutschten.
Wir zwängten uns durch den Entlüftungsgang und gelangten schließlich wieder zu unserem Ausgangspunkt.
Als Theophilus darum bat, noch einen „klitzekleinen Abstecher, bitte, bitte“ in das Gebäude mit den Palatschinken zu machen, setzte ich meine ganze Autorität ein.

Erfolgreich!

1: Das mit den Mäusen und dem Käse ist auch so ein Käse. Normalerweise stehen Getreide, Nüsse, Früchte auf dem Speisezettel. Woher nun Theophilus‘ Begeisterung für Käse kommt? Er weiß es nicht. Somit bleibt die Mäuse-Käse-Frage bis auf Weiteres unbeantwortet. Schade.
2: Unter anderem zu finden in diversen Supermarkt-Postwurfsendungen.
3: Pedunculus, Stielgerüst der Weintraube (Rispe), auch Rappen oder Kamm genannt.

Fortsetzung folgt am 13. Oktober 2015.
Alle bisherigen Abenteuer finden Sie hier.

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