RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS

Textdiskussion im Duftenden Doppelpunkt

Raphael Vogt, einer der Teilnehmer des von uns 2006/2007 ausgeschriebenen Literaturpreises „Der Duft des Doppelpunktes“ zum Thema Literatur der Arbeitswelt, legt mit „Die Tiefe des Beckens – Fragmente einer Novelle“ die „Bruchstücke“ einer umfangreicheren literarischen Arbeit vor. „Die Tiefe des Beckens“ wird vierzehntägig, in zehn Teilen, jeweils am Mittwoch hier im Blog erscheinen.

Raphael Vogt über seinen Text: „Wie tief ist ein Becken, … ab wann trägt das Eis? Und: Was bin ich bereit zu riskieren? – Ein Bademeister wirft Blicke in die Tiefe und weit über den Beckenrand … hinaus.“

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und verknüpfen diesen Wunsch mit der Bitte, Ihre Meinung zum Text entweder mittels der Kommentarfunktion hier im Blog zu posten oder dem Autor via Mail direkt zukommen zu lassen.

Raphael Vogts Biographie:
1976: in Freising geboren; erste Schritte in München
1993: Praktikum in einem Grafikbüro
1994: Symposion Weissenseifen mit Schwerpunkt Zeichnung und Malerei, Bildhauerei, sowie Literatur
1995: Steinmetzlehre; parallel dazu erste Ausstellungen freier Malerei
2000: Heilerziehungspflege im Behindertenbereich ( für die Butter auf das Brot )
2003: Soziales Filmprojekt mit der Regiestudentin Julia Aigner
2004: Kamerabühnenpraktikum beim ndF München; erster Drehbuchentwurf nach einer bislang unveröffentlichten Erzählung
2006: „über Wasser halten“ durch Hausmeisterei, Badeaufsicht und Kontemplation über „die Tiefe des Beckens“
2008: Weblog arts united – creative blog zu eigenen, multimedialen Kunstprojekten

1. TEIL: NOTIZBUCH IN GRÜN

Nun sitze ich also im Zug Richtung Ulm, dann Richtung Konstanz, falls es dabei bleiben sollte, denn so genau weiß ich das noch nicht. „Hauptsache weg“ dachte ich, drum sitze ich hier und der Zug rollt nun los, verlässt den Münchner Hauptbahnhof. Wohin weiß ich, nur wohin ich will, weiß ich noch nicht. Aber das ist ein mir durchaus vertrauter Zustand, wenn nicht gar meine Bilanz, die Bilanz verregneter Tage vergangener Jahre zumindest. Nicht dass ich verregnete Tage nicht lieben würde. Ich benutze das Bild hier eigentlich nur, weil man im Allgemeinen mit Regen die Farbe grau, das Grau des Himmels, assoziiert, falls es grau als Farbe überhaupt geben sollte, da etwas, das lediglich aus einem Gemisch der Nicht-Farben schwarz und weiß besteht, eigentlich die vollkommene Abstinenz von Farbe impliziert. Aber ich schreibe nun einmal gerne über Nichtvorhandenes und überhaupt, was ich gern wäre, denn ich bin nicht zuletzt auch ein Schriftsteller, wie ich nun beschlossen habe. Nicht mehr und nicht weniger wie ich eben auch schon einmal beschlossen habe, ein Maler, ein Bildhauer, Regisseur oder Musiker zu sein.

In Wahrheit bin ich ein Zugreisender, zumindest, ein Fahrgast der Deutschen Bundesbahn bzw. dessen, was sie uns davon noch übrig gelassen haben, jedenfalls, und der Besitzer eines vor kurzem für 35 Euro erworbenen Schönes-Wochenende-Tickets.

In Wahrheit bin ich ein Wartender. Ich warte auf irgendetwas. Ich warte darauf, dass irgend etwas passiert. Und ich frage mich, wie weit ich die Seile meines mühsam geordneten Lebens strapazieren darf …

… für einen guten literarischen Stoff?

Zurück in Konstanz und ziemlich müde. An der Uferpromenade sitzen zwei Mädchen barfuss auf einer Holzbank und trinken Bacardi; dieses Bacardi-Limo-Gemisch welches wie Kalkwasser aussieht und gefährlich gut schmeckt. Ich selbst lege mich auf eine andere und schlucke verwerfliche Gedanken.

Die Augen geschlossen, ich höre nur die sanften Wellen des großen Sees den Steinwall am Ufer hinauf klettern. Über mir der Himmel, offen und – würde ich jetzt sagen „voller Möglichkeiten“ wäre dies angesichts dessen was möglich wäre darüber zu schreiben zwar eigentlich zu platt formuliert, … aber dennoch denkbar und somit nun denn wiederum das einzig Mögliche.

Noch stecken die Enten ihre Köpfe ins müde Gefieder und auch die Möwen kreischen noch nicht in der Morgensonne. Auch wenn ich es vermutlich schnell in Erfahrung bringen könnte interessiert es mich nicht, wie spät es ist. Ich werde noch etwas liegen, auf dieser Bank und später, … anderswo, … irgendwo an der Uferpromenade … einen ersten Kaffee trinken.

Zimmer 15. Ich schalte den Fernseher ein. Olympia. Ein Schwimmer der USA, 23 Jahre alt, trainiert sechs Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Welch ein beneidenswerter Ehrgeiz! Aber zu meiner Erleichterung erfahre ich durch den Kommentator auch, dass der Supermann das Leben noch lernen müsse, zum Beispiel den Unterschied von Geschirrspülmittel und Flüssigseife. Durchaus ein Trost. Ich schalte den Fernseher aus, versuche noch ein wenig zu schlafen, was mir aber nicht gelingen will, da ich zu große Angst habe, das Frühstück zu verpassen. Es ist 7 Uhr 50, Frühstück gibt es bis zehn und es war eine kurze Nacht.

Ich schalte den Fernseher ein. Wieder Olympia. Diesmal: Synchronspringen. Ich versuche, die Bewertungen der Kampfrichter nachzuvollziehen. Vergeblich. Ich kann nicht den geringsten Unterschied zwischen den Leistungen der unterschiedlichen Mannschaften erkennen. Ich muss bei allen den Hut ziehen, die Luft anhalten und staunen. Wenn die Kamera nicht ihre Gesichter einfinge, würde ich wahrscheinlich nicht bemerken, dass es nicht immer dieselben Springer sind. Denn für mich sehen sie alle gleich aus. Gleich gut, mutig, stark und für meine Maßstäbe irgendwie übermenschlich. Sie machen zigfache Salti und Schrauben vom Zehnmeterbrett. Ich kriege schon weiche Knie, wenn ich den Dreimeterturm besteige und Kopfsprünge wage ich allenfalls vom Startblock. Aber wann schwimme ich schon! Ich bin heilfroh, dass ich noch nie jemanden retten musste!

Ich gehe etwa drei Meter an der kurzen Seite des Beckens entlang und im Anschluss wieder zurück. Dann etwa 15 seitlich, die lange Beckenseite entlang. Oft zähle ich die Schritte. Denn es kommt – glücklicherweise – nur sehr selten vor, dass etwas passiert. Hier ein Platschen, dort ein Geschrei. Alle fünf bis zehn Minuten werfe ich einen Blick hinüber, zur großen Bahnhofsuhr. Diese hängt unter dem Scheinwerfer am Flutlichtmasten, welcher sich automatisch in der Dämmerung einschaltet, um das Außenwarmbecken – meiner Meinung nach jedoch nicht besonders romantisch – ins rechte Licht zu setzen. Jeder kennt das. Je öfter man auf die Uhr guckt, desto langsamer vergeht die Zeit. So scheint es zumindest. Aber warum sollte etwas, das nur so scheint nicht letztlich doch Wirklichkeit sein?

4 Gedanken zu „RAPHAEL VOGT – DIE TIEFE DES BECKENS“

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